Читать книгу Flügelschatten - Carolin Herrmann - Страница 11
5
ОглавлениеLaute Geräusche lassen mich aus dem Schlaf schrecken. Sofort bin ich hellwach und lausche angestrengt. Ein Rascheln, Zweige, die unter schweren Stiefeln krachend zerbrechen. Ich springe auf und zücke eines meiner geschärften Messer. Hastig klettere ich höher in den Baum, dorthin, wo die Äste dünner und fragiler sind, denn ich will so weit wie möglich von den Geräuschen entfernt sein. Was, wenn es der Händler ist? Wenn er mich wieder mit dem Seil fesseln will? Sorgenvoll klettere ich auf dem Ast weiter vor, damit ich besser in die Tiefe spähen und sehen kann, was dort unten vor sich geht. Gedanken rasen in meinem Kopf durcheinander und ich weiß nicht, was ich tun soll. Davonlaufen? Ihm entgegentreten? Mein Versteck verteidigen? Noch während ich die Möglichkeiten abwäge, durchbrechen schon Gestalten das Unterholz. Vor Schreck bewege ich mich zu hastig, zu schnell. Ich will zurückweichen, mich tiefer im Blattwerk verstecken, als der Ast unter mir bedrohlich knackt und im Bruchteil eines Augenblicks weiß ich, dass es zu spät ist. Er zerbricht unter meinem Gewicht und ich falle. Panisch rudere ich mit den Armen, hoffe, etwas zu packen zu bekommen, stürze jedoch zu Boden.
Meine Flügel!
Es ist keine Zeit, zu versuchen, sie zu benutzen, denn die Gestalten haben mich bereits bemerkt. Nicht bloß eine. Es sind ganze fünf hochgewachsene Männer, die sich auf mich zubewegen. An ihrer Spitze läuft der Händler von heute Morgen, der eine Lampe schwenkt. Ihr Schein erreicht mein Gesicht und blendet meine Augen. Entsetztes Keuchen und sogar ein Schrei zerreißen die Nacht. Ich weiß nicht, welches Geräusch von mir und welches von ihnen kommt.
Der Moment, in dem ich nachdenken könnte, verstreicht. Mein Körper handelt intuitiv. Ich klaube das Messer vom Boden auf und wirble herum, mein provisorischer Dolch findet sein Ziel: das Herz eines Angreifers. Erschrocken keuchen die anderen auf.
Einen Wimpernschlag lang hängt tödliche Stille über dem Wald. Ein Feuerrabe krächzt laut.
Dann schreit der vordere Mann entsetzt auf und deutet auf mich: »Das ist sie! Was habe ich gesagt?!«
Oh nein! Bitte nicht! Augenblicklich schärfen sich meine Sinne aufs Äußerste, mein Verstand läuft auf Hochtouren, jeder einzelne Muskel in mir spannt sich an. Angriffsbereit. Dann gleitet mein Blick zu den scharfen Waffen, die sie über ihren Schultern tragen. Es sind grobe Äxte und schwere Knüppel, die sie nun drohend schwenken.
Na und?! Ich kann mich wehren!
Mit bloßen Händen?
Mein Blick huscht über die Angreifer, ich analysiere sie blitzschnell. Ich glaube ihren pochenden Puls zu sehen, höre ihren Herzschlag und spüre das Blut in ihren Adern strömen. Ich bin mir ihrer Lebendigkeit so überdeutlich bewusst, dass alles andere verblasst, als würde der Wald die Luft anhalten, als würde alles innehalten und nur die klopfenden Herzen der Menschen dröhnen in meinen Ohren. Ich bekomme eine Gänsehaut. Jemand atmet langsam, hörbar aus.
Du kannst sie töten.
Wir starren einander an, entschlossen, fest. Wimpernschläge werden zu Ewigkeiten. Der Mann, den ich schon kenne, hat die Arme warnend ausgebreitet, um seine Leute zurückzuhalten.
Lebendig, so lebendig.
Ich versuche, nicht zu dem toten Mann zu sehen, dem ich meine Waffe ins Fleisch gerammt habe. Ich habe jemanden umgebracht! Es war ein Reflex, aber noch nie zuvor habe ich einen Menschen getötet. Glaube ich zumindest. Auf einmal bin ich mir da nicht mehr so sicher …
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie einer der Männer sein Gewicht verlagert, und sofort weiche ich zurück. Wieder blicke ich zu ihren Waffen, eine Axt, Knüppel, Messer. Was soll das alles? Mein Blick huscht hin und her, ich versuche die Lage zu verstehen. Ich weiche vor ihnen zurück, während der Händler mich direkt anspricht:
»Ganz ruhig, Kleine. Wir machen dir keinen Ärger, wenn du mit uns kommst.«
Seine Worte erreichen mich nicht richtig, werden zu einem sinnlosen Rauschen in meinen Ohren, bedeutungslos. Ich sehe nur ihre Furcht einflößenden Gesichter, höre den Klang seiner dröhnenden Stimme und wie sie näher kommen. Mir ist es gleich, was er sagt, ihre Augen brüllen die Wahrheit in mein Gesicht, mein Verstand schreit dazu: Feind, Feind, Feind!
Ein kurzer Blick, ein Gedanke, dann drehe ich mich um und stürze davon, höre nicht auf ihre Rufe, achte nicht auf die Schritte, wie sie hinter mir hereilen. Ich rase wie von einer Flutwelle verfolgt weiter, fliege förmlich zwischen den Bäumen hindurch, springe über Wurzeln und Äste, schlage Haken, damit sie mich verlieren. Ich überlasse meinen Beinen die völlige Kontrolle, höre auf nachzudenken und stürme blindlings davon.
Ich schlage absichtlich andere Wege ein und versuche ihnen so zu entkommen. Doch sie geben nicht auf. Von allen Seiten kommen sie und ich lege noch ein wenig an Tempo zu. Das Laufen liegt mir und ich schnaufe nicht, im Gegensatz zu meinen Verfolgern. Ich spüre, wie sie zurückfallen, wie sie zu keuchen beginnen, der beißende Geruch ihres Schweißes steigt mir in die Nase und das Dröhnen ihrer Herzen wird zu einem wilden Stakkato.
In Windeseile klettere ich auf einen Baum und springe flink von Ast zu Ast, eine Fähigkeit, für die ich sehr dankbar bin.
Mit einem Mal wird mir schwindelig, ganz plötzlich kommt es und vernebelt mir die Sinne. Im Hals spüre ich das Kratzen, das nichts Gutes ankündigt. Ich werde nervös, meine Bewegungen abgehackter.
Was ist das?
Nein, nicht nachdenken, laufen! Ich zwinge mich zur Ruhe, versuche nicht an all das Blut zu denken, das in ihren Adern rauscht und sie am Leben hält, versuche den Geruch zu vertreiben, der mir in die Nase steigt. Hat sich jemand verletzt? Ist es ernst?! Es ist, als würde ich nicht mehr nur vor ihnen weglaufen, sondern davor, mich umzudrehen und einen nach dem anderen umzubringen.
Durst!
Ich schlucke mehrfach. Das darf nicht wahr sein, wieso schaffe ich es nicht, meinen eigenen Körper unter Kontrolle zu bringen?! Meine Sinne schärfen sich – mir wäre es lieber, sie würden es nicht tun, weil ich weiß, dass ich nicht mehr lange dem Drang standhalten kann. Ich will nicht! Trotzdem kann ich nichts dagegen tun. Ich werde langsamer, viel zu langsam.
Oh …
Nein, nein, nein! Ich muss weiter, lauf weiter, los!,
versuche ich mich selbst zur Vernunft zu rufen – es hat keinen Zweck. Es ist, als würde ich verblassen, verschwinden und als würde eine andere Macht die Kontrolle erlangen. Ich stoppe ab, schwinge mich an einem Ast nach unten und sehe mich gierig nach meinen Verfolgern um. Es ist der reinste Wahnsinn, ein Albtraum! Ich kann meinen eigenen Muskeln nicht mehr befehlen, höre und rieche zwar ausgezeichnet, bestimme allerdings nicht mehr darüber. Ich schaffe es einfach nicht.
Wütend brülle ich auf, als ich bemerke, dass sie schon vor längerer Zeit erschöpft waren und die Verfolgung aufgegeben haben. Ich war zu schnell und ihre Ausdauer nicht allzu groß. Trotz der Entfernung konnte ich sie riechen; als ich jetzt die Nase schnuppernd in den Wind halte, nehme ich nichts mehr wahr.
Sie haben sich zurückgezogen.
Ich ziehe die Möglichkeit in Erwägung, zurückzulaufen, um sie mir zu holen, aber das hat wohl keinen rechten Sinn … Außerdem weiß ich nicht, wie viele von ihnen vielleicht noch irgendwo im Wald lauern, und ich sollte froh sein, dass ich ihnen entkommen bin …
Matt lasse ich mich zu Boden sinken. Es ist nicht der Lauf, der mich aus der Puste gebracht hat …
Ganz toll. Ich hätte gerade schon fast wieder die Kontrolle verloren, werde von Menschen verfolgt und befinde mich ohne irgendetwas hier im Wald, schließlich sind alle meine Sachen noch hoch oben im Baum. Zurückgehen und sie holen? Ausgeschlossen – auf eine zweite Begegnung mit den Kaufleuten bin ich nicht sonderlich erpicht. Bleibt also nur eine Lösung: weitergehen. Weiter den Wald durchstreifen und hoffen, einen Ausweg zu finden.
Mit wackligen Beinen stehe ich auf, lehne mich an einen Baumstamm und sehe in die Ferne, in der sich in der Dunkelheit die Umrisse rauer Rinde, Büsche und Sträucher aneinanderreihen, ein ewiges Geflecht, das sich weiter und weiter zieht, kein Ende nimmt. Der Wald ist gewaltig, er verspricht Schutz und Sicherheit – zumindest hat er das mal getan. Jetzt nehmen die Menschen mir auch ihn weg und ich habe nichts, wo ich bleiben kann. Ist es an der Zeit, etwas Neues anzufangen, neu zu beginnen und herauszufinden, wer ich bin?
Denn daran, dass die Erinnerungen einfach irgendwann schon wiederkommen werden, glaube ich selbst nicht mehr. Wenn ich wissen will, was damals passiert ist, dann muss ich das wohl selbst in die Hand nehmen.
Ich stoße mich ab und beginne zu gehen. Gehe und gehe, ohne Unterlass, weil ich Angst habe, dass ich, sobald ich anhalte, meine Meinung ändern könnte. Besser ist es, überhaupt nicht darüber nachzudenken.
Irgendwann habe ich den Waldrand erreicht. Vor mir breitet sich eine lang gezogene Ebene aus, nichts als Gras, so weit das Auge reicht. Die Landschaft ist ein wenig hügelig und verschlungene Pfade winden sich als ein braunes Band durch das saftige Grün. Zögernd blicke ich zurück. Die Bäume scheinen mich mit ihren Zweigen packen und wegziehen zu wollen, weg von dieser neuen Welt. Irgendwie habe ich das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald nie wiedersehen werde. Davor fürchte ich mich, genauso wie ich mich vor dem Tal zu meinen Füßen fürchte. Ich lege mich hin und rolle mich zu einer kleinen Kugel zusammen für ein letztes Quäntchen Schlaf im Schatten der Baumkronen, bevor die Sonne aufgeht. Fast ein wenig wehmütig schließe ich die Augen.
Händler
»Schneller, verdammt, ihr alten Waschweiber!«, knurre ich und gerate ins Straucheln, als ich den Abhang hinunterhaste. Meine Gedanken überschlagen sich, als sie zu dem seltsamen Mädchen finden.
Es kann keines der Kinder aus dem Dorf sein! Die würden sich niemals so tief in den Wilden Wald wagen. Zu Recht, er ist viel zu gefährlich. Wie sie erst aussah. Vollkommen verwildert! Ihre Haare standen wie eine verfilzte Matte vom Kopf ab, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Auf ihrer Stirn prangte ein dunkler Streifen Erde, ihre Hände und Knie waren verdreckt und unter ihren Fingernägeln klebte Schmutz. Grüne Grasflecke bedeckten ihre kurze, zerrissene Hose ebenso wie das grobe Oberteil, das sicherlich auch schon sauberere Tage erlebt hat.
Weder Socken noch Schuhe trug sie an ihren Füßen und über das dünne Oberteil hatte sie nur einen fliederfarbenen Stofffetzen gezogen, der wohl an eine Jacke erinnern soll, jedoch vollkommen eingerissen, schmutzig und löchrig war.
Wenn sie schon länger hier zwischen den Bäumen verwahrloste, würde das ihr animalisches Verhalten erklären. Bloß die Augen – ihre Augen! Allein der Gedanke an sie lässt mich nun erneut frösteln. Sie waren so anders, so … abnormal. Dazu die gezackten Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Habe ich überhaupt einen Menschen vor mir gehabt?
Wie sie mir am Vortag ihre Faust in den Bauch gerammt hat – wie kann eine solche Kraft in diesen dürren Armen und dem ausgemergelten Körper liegen?!
Ich muss mit jemandem darüber sprechen! Wäre sie ein gewöhnliches Kind, könnte ich glauben, sie habe ihre Eltern bei einer misslungenen Flucht verloren, denn es gibt genug, die weiter hierher in den Süden flüchten, um der Gefahr aus dem Norden zu entkommen. Unsere Beziehungen zu den Hexen sind gut, viele Männer sind bereit, sich der Königin anzuschließen und für sie zu kämpfen. Sie ist im klaren Vorteil und nimmt ein Gebiet nach dem anderen ein – zweifelsohne können auch wir davon profitieren. Die Hexen und anderen Kreaturen, die sie unterstützen, liefern zusätzlich überzeugende Argumente, warum wir uns nicht gegen sie stellen sollten.
Aber das, was mir dort begegnet ist, das war kein unschuldiges Kind. Nicht mit diesen Augen! Sie muss besessen sein, verzaubert oder Schlimmeres. Auf jeden Fall ist sie eine Gefahr, solange eine Kreatur wie sie im Wald haust. Deshalb habe ich mit einigen Kaufleuten auf dem Markt gesprochen und wir beschlossen, uns in den Wald vorzuwagen.
Die Geschwindigkeit, mit der dieses Wesen sich vorwärtsbewegt hat, war unfassbar. Sie zu verlieren absehbar.
»Ihre Augen haben sicherlich etwas mit schwarzer Magie zu schaffen!«, keucht Kial nun hinter mir. »Damit will ich nichts zu tun haben.«
»Dann verzieh dich, Feigling!«, fahre ich ihn unwirsch an und halte auf das Dorf zu. »Wenn es stimmt, dann ist es noch besser, Veith von diesem kleinen Biest unterrichten«, füge ich überzeugt hinzu. Sagte nicht ebenjener Hexenmeister, mit dem wir in Kontakt stehen, wir müssen gerade in dieser Zeit nach allen Auffälligkeiten Ausschau halten?
Ob das tatsächlich die beste Idee ist, stelle ich wenig später infrage, als ich unruhig die Hände knete und von einem Bein auf das andere trete. Natürlich konnten wir nicht mit dem Hexenmeister persönlich reden. Ein viel zu wichtiger Mann und auch viel zu beschäftigt, um sich um Lappalien zu kümmern. Das sagten jedenfalls die beiden Hexen, die sich zurzeit in der Nähe unseres Dorfes aufhalten und den Kindern Angst einjagen, nachdem wir auf sie zugestürmt sind.
Da half es auch nichts, dass ich mit stolz geschwellter Brust meinte, dass ihn das, was wir entdeckt haben, sicher interessieren wird. Die beiden Boten hoben nur unbeeindruckt die Schultern. Um ehrlich zu sein, traue ich diesen Hexen nicht so recht. Sie sind mir ein wenig unheimlich mit ihren dunklen, fast schwarzen Augen, dem heimtückischen Grinsen, das stets verschlagen in ihren Mundwinkeln lauert, und den seltsamen Kleidern, die sie tragen. Sie tauchen in kleinen Gruppen auf und tuscheln und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie uns immerzu aufmerksam beobachten.
Dieser Veith, ihr Meister, hat es zwar als ein Angebot ausgedrückt, dass wir uns dem Kampf anschließen, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es eher eine Drohung war. Sie brauchen Rekruten. Und ich zweifele nicht daran, dass sie uns mächtige Probleme bereiten könnten, wenn ihre Armee sich tatsächlich dermaßen weit in den Süden durchschlagen kann.
Doch die Hexen sind nicht so bereit, uns zu helfen, wie wir es uns erhofft hatten. Mit undurchdringlichen Mienen beobachten sie uns, seitdem wir sie am Rande des Dorfes entdeckt haben und auf sie einreden.
»… dann ist sie davongestürmt und wir versuchten ihr zu folgen, verloren jedoch ihre Spur. Sie war viel zu schnell!«, schließe ich. Die beiden Hexen wechseln ernste Blicke und wiegen dann in stillem Einvernehmen ihre Köpfe hin und her.
»Was auch immer das ist, es ist eine Gefahr für uns alle! Wir müssen etwas unternehmen«, fügt Horan mit wackliger Stimme hinzu. Noch haben wir unseren Frauen und Kindern nichts erzählt, denn sie sollen sich keine Sorgen machen. Allein bei dem Gedanken an das Mädchen überkommt mich eine Gänsehaut. Wer weiß, in was für einer Gefahr wir schweben?!
Nun tritt eine der Hexen einen Schritt vor und deutet auf mich.
»Du«, stößt sie hervor und ich fahre verschreckt zusammen, versuche es rasch zu überspielen. Ein wenig unsicher weiche ich dem Blick aus den pechschwarzen Augen aus. »Wir werden dich zu Veith bringen. Er wird entscheiden, was zu tun ist.«
Man beäugt mich von oben bis unten. »Und wehe dir, deine Geschichte sollte nicht bis ins kleinste Detail stimmen …«
Ich schlucke und schüttele rasch den Kopf.
»N-nein, es ist alles wahr, es ist alles genau so, wie ich sagte!«, presse ich erstickt hervor. Ein Knoten zieht sich bei dem Gedanken, dem Obersten Hexenmeister persönlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, in meinem Magen zusammen. Wieder blicken die Hexen sich an und die vordere packt mich grob am Arm. »Wir werden sehen.«