Читать книгу Weiter als der Ozean - Carrie Turansky - Страница 5

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London, 1909

Katie McAlisters Herz hämmerte wild, während sie sich an dem wackeligen Geländer festhielt und die Hintertreppe hinabstürmte. Unten angekommen schob sie die schwere Tür auf und sprang hinaus in die dunkle Gasse hinter der Schneiderei. Ein kühler grauer Nebel hüllte sie ein und brachte den Geruch von verfaultem Essen und erstickendem Kohlenrauch mit sich.

Sie warf einen schnellen Blick nach links und dann nach rechts. Eine Gänsehaut lief ihr über die Arme. So spät nachts war sie noch nie allein auf der Straße gewesen. Das war gefährlich, wenigstens in diesem Teil von London. Aber sie durfte sich von ihren Ängsten nicht aufhalten lassen. Sie musste es tun.

Wenn nur ihre ältere Schwester Laura hier wäre! Sie wüsste, was zu tun war. Aber sie wohnte kilometerweit entfernt.

Katie rannte los und wich den Holzkisten aus, die von kaputten Flaschen und stinkendem Müll überquollen. Das kreischende Miauen einer Katze zerschnitt die Luft. Katie machte keuchend einen Satz zur Seite. Die Katze huschte an ihr vorbei, ein schwarzer Schatten im schwachen Licht der Gaslaternen.

Sie atmete scharf ein und bog um die Ecke. Ihre Schritte hallten auf dem kalten, glitschigen Kopfsteinpflaster wider. Sie hätte schon früher Hilfe holen sollen, aber Mama hatte sie angefleht, sie nicht allein zu lassen.

Sie lief an der Schusterei und an der Bäckerei vorbei, dann bog sie in eine Gasse und rannte polternd zur Tür der Grahams hinauf. Mit zitternder Hand klopfte sie dreimal, dann biss sie sich auf die Lippe und trat zurück. Niemand kam an die Tür. Sie klopfte erneut, dieses Mal kräftiger. „Mrs Graham!“

Schließlich ging die Tür auf, und die Freundin ihrer Mutter schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie trug eine Rüschenhaube auf dem Kopf, ein graues Wolltuch lag über ihren Schultern. „Meine Güte, Katie! Bist du das?“

„Ja, Madam. Können Sie bitte mitkommen? Mama geht es immer schlechter. Sie glüht vor Fieber, und ihr Atem kommt so keuchend. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“

Ein angsterfüllter Blick trat in Mrs Grahams Augen. Sie nickte schnell. „Natürlich, Liebes. Ich packe nur ein paar Sachen ein.“

Katie schloss ihre brennenden Augen und atmete tief aus. Jetzt würde alles gut werden. Mrs Graham wusste, wie man Kranke pflegte. Katie schluckte schwer und betete, dass Mrs Grahams Hilfe ausreichen würde. Aber die schmerzvollen Erinnerungen an den Unfall ihres Vaters vor anderthalb Jahren stürmten auf sie ein. Er war bei einem schrecklichen Zugunglück schwer verletzt worden. Mama hatte ihn drei Tage lang rund um die Uhr gepflegt. Die ganze Familie hatte gebetet, dass er wieder gesund werden würde, aber er war gestorben, und ihre Welt war zusammengebrochen.

Sie waren gezwungen gewesen, ihr bescheidenes Haus aufzugeben und in die Drei-Zimmer-Wohnung über der Schneiderei zu ziehen, in der Mama für Mrs Palmer von frühmorgens bis spätabends Kleider nähte. Wenigstens hatte Mama für Mrs Palmer gearbeitet, bis sie vor acht Tagen Fieber bekommen hatte. Seitdem war sie zu schwach, um vom Bett aufzustehen.

Mrs Graham trat mit einem Korb am Arm aus der Wohnung. „Komm, Kind.“

Katie versteifte sich. Sie war kein Kind mehr. Sie war vierzehn und arbeitete fast den ganzen Tag. Sie kümmerte sich um ihre jüngere Schwester Grace und übernahm einen Teil des Kochens und Wäschewaschens. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um das klarzustellen. Sie eilte hinter Mrs Graham her und schickte ein stummes Gebet zum Himmel, während sie der Freundin ihrer Mutter folgte und schließlich in die Gasse hinter der Schneiderei einbog. Sie lief voraus und öffnete Mrs Graham die Tür zum Treppenhaus.

„Du meine Güte! Hier drinnen ist es ja so dunkel wie in einem Verlies.“ Mrs Graham raffte ihren Rock und stieg die knarrende Treppe hinauf.

Katie blieb an der untersten Stufe stehen und schaute nach oben. Ein schwaches, trübes Licht fiel durch das einzige Fenster und warf gespenstische Schatten auf die Stufen. Ein kaltes Grauen erfasste sie. Wenn sie nur vor dem schmerzlichen Anblick, der sie in der Wohnung erwartete, fliehen könnte! Aber Garth, ihr Zwillingsbruder, war oben bei Mama und bei der siebenjährigen Grace. Sie verließen sich auf sie, und Katie würde sie in dieser beängstigenden Nacht nicht allein lassen.

Sie atmete tief ein, straffte die Schultern und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen folgte sie Mrs Graham in die Wohnung. Die abstoßenden Gerüche aus der Gasse durchdrangen ihre kleine Behausung, obwohl sich Mama und Katie nach Kräften bemühten, alles sauber zu halten. Eine einsame Petroleumlampe brannte neben Mamas Bett und erhellte das kalte Zimmer mit einem trüben Lichtschein.

Mrs Graham eilte zu dem Bett, in dem Mama lag. Katies Bruder und Schwester saßen auf dem anderen Bett. Grace hatte sich an Garth gelehnt und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Er schaute Katie an. Seinem angsterfüllten Blick entging nicht, was sie dachte.

Er hatte schon immer ihre Gedanken lesen können, solange sie zurückdenken konnte. Mama sagte, als Kleinkinder hätten sie ihre eigene Sprache gehabt. „Zwillingssprache“ hatte sie es genannt. Obwohl seitdem viele Jahre vergangen waren, waren sie nach wie vor Seelenverwandte und wussten meistens, was der andere dachte. Zwischen ihnen gab es keine Geheimnisse.

Katie trat ans Bett, auf dem Grace und Garth warteten. Sanft strich sie über die blonden Locken ihrer Schwester. Das arme Kind. Es war schon fast Mitternacht. Sie sollte längst schlafen und von glücklicheren Tagen träumen.

Mrs Graham sprach leise mit Mama, während sie das Laken glatt strich und ihr die Decke über die Brust hochzog, aber Mama antwortete nicht. Sie warf unruhig den Kopf hin und her. Ihre Wangen waren gerötet und schweißgebadet.

Grace schaute Mrs Graham ängstlich an. „Wird sie wieder gesund?“

Mrs Graham zögerte. „Natürlich, Liebes.“ Aber ihre Worte klangen nicht überzeugend. Ihr Blick wanderte von Grace zu Katie. „Geh doch bitte in die Küche und setz den Teekessel auf. Garth, du und Grace geht bitte auch mit. Eine Tasse Tee wird uns allen guttun.“

„Ja, Madam.“ Katie nahm Grace an der Hand und half ihrer Schwester vom Bett. Ihr Bruder stand auf und folgte ihnen in die Küche.

Garth schüttete eine kleine Schaufel voll Kohlen in den Ofen, seine Miene wirkte abwesend und bedrückt. Katie füllte den Kessel mit Wasser und versuchte, den Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren. Grace kletterte auf einen der Stühle am Tisch und schaute ihren beiden Geschwistern mit großen blauen Augen zu.

Katie holte vier Tassen aus dem Regal und stellte sie auf den Tisch, dann nahm sie die Teedose. Sie war fast leer. Zucker hatten sie auch nicht mehr. Das Brot war aufgebraucht. Alles, was noch an Essbarem da war, waren einige runzelige Kartoffeln und eine Zwiebel. Mit einem müden Seufzen gab sie ein paar Teeblätter in den Topf und ließ den Tee ziehen.

Grace stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in ihre Hand. „Kann ich heiße Schokolade haben?“

Garth warf Katie einen schnellen Blick zu. Seine Botschaft war unmissverständlich. Bring jetzt bloß nicht Grace aus der Fassung. Er wandte sich an seine kleinere Schwester. „Heute nicht, Gracie. Vielleicht morgen.“

Grace verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf mit einem schweren Seufzen darauf.

Garth öffnete den Küchenschrank und ließ seinen Blick über die leeren Fächer schweifen. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf und wandte sich dann an Katie. „Ich werde mit Mr Davies sprechen. Vielleicht zahlt er mir einen Vorschuss.“

Katie nickte und hoffte, der Metzger würde sich darauf einlassen. Garth arbeitete unter der Woche nach der Schule und samstags den ganzen Tag als Lieferjunge für Mr Davies. Der Mann war für seinen Geiz bekannt. Garth musste immer bis zum Monatsende auf seinen Lohn warten. Er verdiente nicht viel, aber seit Mama krank war, bekam sie überhaupt kein Geld mehr, und sie waren auf Garths Lohn angewiesen.

Mrs Graham trat in die Küche und faltete die Hände. „Garth, lauf bitte zu uns nach Hause und sag meinem Mann, dass er mit dem Wagen kommen soll. Wir müssen eure Mama ins Krankenhaus bringen.“

Katies Herz zog sich zusammen. „Mama will nicht ins Krankenhaus. Wir können sie doch bestimmt auch hier versorgen.“

Mrs Grahams Miene wurde weicher, und ihr Blick wanderte von Katie zu Garth. „Eure Mama braucht einen Arzt und ausgebildete Krankenschwestern, die sich um sie kümmern. Sonst befürchte ich …“ Sie sprach nicht weiter und warf einen schmerzerfüllten Blick auf Grace.

Katie legte die Hand auf das Kreuz, das sie an einer Kette unter ihrem Kleid trug, und bemühte sich, ihre Angst zu bändigen. Sie wusste, dass Mama ernsthaft krank war. Aber sie konnten sich keinen Arzt leisten. Wovon sollten sie eine Krankenhausrechnung zahlen?

Aber blieb ihnen eine andere Wahl? Da Papa tot war und Laura so weit weg arbeitete, mussten sie die Entscheidung treffen.

Garth nahm seine Kappe und Weste vom Haken an der Wand und trat wortlos zur Tür. Er würde tun, was Mrs Graham gesagt hatte, und ihren Mann holen.

Katie schenkte eine Tasse Tee für Mrs Graham ein und brachte sie ihr. Dann setzte sie sich mit Grace neben Mamas Bett. Ängstliche Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, während sie alle warteten, bis Garth mit Mr Graham zurückkam. Mamas Gesicht war noch mehr gerötet, und sie warf den Kopf hin und her und murmelte Worte, die Katie nicht verstehen konnte.

Schließlich stapften Schritte die Treppe herauf. Garth trat ein, gefolgt von Mr Graham und dessen Sohn Jacob. Sie schoben schnell eine schwere Decke unter Mama, um sie als Trage zu benutzen. Mr Graham nahm die beiden Ecken neben Mamas Kopf, und Mrs Graham und Jacob packten je eine der anderen Ecken.

Katie wollte ihre Weste anziehen. „Wir kommen mit.“

„Nein, Liebes. Es ist spät. Ihr bleibt besser hier.“ Mrs Graham warf erneut einen vielsagenden Blick auf Grace. Ihre Botschaft war unmissverständlich – Grace war zu jung für das ganze Leid im Krankenhaus. „Wenn wir mehr wissen, geben wir euch Bescheid.“

Katie schaute Garth an, der ernst nickte. Als die Grahams losmarschierten, griff eine kalte Angst nach ihrem Herzen. Grace brach in Tränen aus. Sie klammerte sich an Katies Bein und vergrub das Gesicht in Katies Rock.

Katie strich ihrer Schwester über den Rücken. „Du brauchst nicht zu weinen. Alles wird wieder gut werden.“ Aber ihr liefen selbst heiße Tränen übers Gesicht.

Garth stand neben Katie, seine Kappe in der Hand, seine Wangen gerötet und die Kiefer zusammengepresst. Er vergoss keine Tränen, aber seine Augen glänzten feucht, als die Grahams Mama zur Tür hinaus- und die Treppe hinabtrugen.

„Was sollen wir jetzt machen?“ Katies Kehle war so zugeschnürt, dass sie kaum sprechen konnte.

Garth schloss die Tür und starrte ein paar Sekunden auf den Boden. Schließlich hob er den Kopf. „Wir müssen Laura schreiben.“

Katies Gedanken wanderten zu ihrer älteren Schwester. Laura war einundzwanzig und arbeitete als Kammerzofe für eine wohlhabende Familie auf einem großen Anwesen in der Nähe von St. Albans, ungefähr eine Zugstunde nördlich von London. „Glaubst du, sie wird kommen?“

„Keine Ahnung.“

„Aber was ist, wenn sie deshalb ihre Stelle verliert?“

„Sie werfen sie doch nicht hinaus, nur weil sie kommt, um ihrer Familie zu helfen, oder?“

Katie rieb ihre müden Augen. Sie brauchten das Geld, das ihnen Laura jeden Monat schickte, um die Miete für ihre Wohnung zu bezahlen. Garth hatte recht. Sie mussten ihrer Schwester schreiben, was mit Mama los war. Sie seufzte. „Es ist schon sehr spät. Wir können Laura morgen schreiben.“

Garth nickte. Dann steckte er die Hand in seine Westentasche, zog ein kleines, rundes, in Papier gewickeltes Päckchen heraus und hielt es Grace hin.

Graces Tränen versiegten, und sie bekam einen Schluckauf. „Was ist das?“

„Pack es aus und schau nach.“

Grace wischte mit dem Ärmel über ihre Nase und wickelte das Papier auf. Ein Rosinenbrötchen kam darin zum Vorschein. Ihre Augen strahlten auf. „Woher hast du das, Garth?“

„Jacob hat es mir gegeben, während wir warteten, bis sein Vater mit dem Wagen kam.“ Er nahm ein zweites Brötchen aus seiner Tasche und hielt es Katie hin.

Ihr Magen zog sich zusammen, aber sie schob es zurück. „Iss es selbst.“

„Ich habe schon eines gegessen. Das hier ist für dich.“

Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte sie. Sie zog das Brötchen aus dem Papier und nahm einen kleinen Bissen. Das süße, buttrige Gebäck war köstlich. „Es schmeckt köstlich.“

Garth verzog den Mund zu einem Lächeln. „Jacob ist sehr nett, genauso nett wie seine Mutter.“

Katie nickte und nahm einen weiteren kleinen Bissen, damit sie so lange wie möglich etwas von dem Brötchen hatte.

Garth warf einen stirnrunzelnden Blick auf die kleine Uhr im Regal. „Es ist schon spät. Wir sollten versuchen zu schlafen.“

Katie blickte aus dem Fenster. „Du hast recht.“

Der Himmel war dunkel bis auf den fahlen Mondschein, der durch die Wolken drang. Sie gähnte und aß das Brötchen auf. Ihre Augen brannten, Nacken und Schultern schmerzten. Sie würde sich zu ihrer Schwester in ihr gemeinsames Bett legen, aber sie bezweifelte, dass sie einschlafen konnte. Heute Abend gingen ihr zu viele sorgenvolle Gedanken durch den Kopf.

Wie lange würde Mama im Krankenhaus bleiben? Was würde der Krankenhausaufenthalt kosten? Wie sollten sie ohne Mama zurechtkommen? Was wäre, wenn sie nicht mehr gesund wurde? Müssten sie sich dann als Waisen ohne ein Zuhause allein durchs Leben schlagen? Sie hatte Kinder gesehen, die auf den Straßen bettelten, und andere, die keine andere Überlebenschance sahen, als zu stehlen.

Sie schloss die Augen und versuchte, diese schmerzhaften Bilder auszusperren. Das würde ihnen nie passieren. Morgen früh wäre alles wieder gut. Mama würde gesund werden, sie würde heimkommen, und sie wären alle wieder glücklich zusammen.

Katie schaute durch das Fenster, an dem der Regen hinablief, und suchte unten die Straße ab. Aber sie konnte Garth nirgends finden. Sie warf einen Blick auf die kleine Uhr im Regal über der Spüle und biss sich auf die Lippe.

Wo konnte er sein? Als er am Morgen die Wohnung verlassen hatte, hatte er ihr versichert, dass er nach Hause käme, sobald er die Waren für Mr Davies ausgeliefert hatte. Er war samstags normalerweise um eins, spätestens um zwei Uhr fertig, aber jetzt war es schon fast drei. Wo blieb er so lange? Hatte er Mr Davies überreden können, ihm einen Vorschuss zu zahlen, und war dann auf dem Rückweg gleich einkaufen gegangen? Sie atmete tief aus. Ja, das musste der Grund sein.

Sie ging zum Tisch hinüber, an dem ihre kleine Schwester saß und auf der Rückseite eines alten verknitterten Prospekts etwas malte. Grace summte, während sie mit ihrem Bild beschäftigt war, und schien in ihrer Fantasiewelt versunken zu sein. Katie legte Grace die Hand auf die Schulter, eine tröstliche Geste, die ebenso ihr selbst galt wie ihrer Schwester.

Grace blickte von ihrem Bild auf, die blauen Augen schimmerten sanft und unschuldig. „Wann kommt Garth?“

„Er wird bald hier sein.“ Katie zwang sich zu einem Lächeln. „Erzähl mir etwas über dein Bild.“

Grace deutete auf die Strichmännchen. „Das sind Mama und ich, und das bist du, und das ist Garth. Wir sind am See im Park und füttern Enten.“

Katie nickte und schluckte schwer. „Sehr schön.“ Sie blinzelte mit brennenden Augen. Wie schön musste es sein, klein zu sein und sich sicher zu fühlen und zu glauben, dass alles gut werden würde.

Sie hatte den ganzen Tag versucht, sich zu beschäftigen und sich wegen Mama keine Sorgen zu machen. Sobald die Schneiderei geöffnet hatte, war sie nach unten gegangen und hatte Mrs Palmer mitgeteilt, dass Mama im Krankenhaus lag. Die strenge Frau hatte sich anscheinend mehr Sorgen darum gemacht, wer jetzt die Näharbeiten erledigen würde, als um Mamas Gesundheit. Katie hatte angeboten, Mamas Arbeit zu übernehmen, aber Mrs Palmer wollte davon nichts hören. Mama hatte Katie gezeigt, wie man die kleinen kunstvollen Stiche nähte. Katie beherrschte sie inzwischen recht gut. Aber Mrs Palmer glaubte ihr das nicht.

Die Schneiderin hatte sie mit der Warnung nach Hause geschickt, dass sie aus der Wohnung über der Schneiderei ausziehen müssten, wenn Mama nicht bald wieder gesund werde und ihre Arbeit wieder aufnehmen könne. Mit den unbarmherzigen Worten der Frau im Ohr war Katie langsam die Stufen hinaufgestiegen. In der Wohnung hatte sie Laura einen Brief geschrieben, aber sie hatte keine Briefmarke gehabt und kein Geld, um eine zu kaufen. Sie hatte den Brief beiseitegelegt und Grace eine Geschichte vorgelesen, bevor sie die Wohnung aufgeräumt hatte, um alles für Mamas Rückkehr vorzubereiten. Sie musste bestimmt nicht lange im Krankenhaus bleiben.

Mittags briet sie die letzten Kartoffeln und die Zwiebel an und gab Grace die größere Portion. Sie hatte überlegt, etwas für Garth aufzuheben, aber normalerweise steckte Mrs Davies ihm eine kleine Wurst oder ein Scheibe Brot mit Butter zu, bevor er die Waren auslieferte. Katie hoffte, dass das auch heute der Fall war. Wenn nicht, müsste Garth hungrig zu Bett gehen.

Jemand klopfte. Katie ging schnell zur Tür und öffnete.

Mrs Graham stand mit einem Korb am Arm vor ihr. „Hallo, Katie. Kann ich hereinkommen?“

„Natürlich. Waren Sie im Krankenhaus? Wie geht es Mama?“

Mrs Graham warf einen Blick auf Grace und lächelte schwach. „Hallo, Liebes. Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie holte eine kleine Orange aus ihrem Korb und reichte sie Grace.

Das Gesicht des Mädchens strahlte auf. „Danke!“ Sie nahm die Orange, setzte sich an den Tisch und begann, sie zu schälen.

Mrs Graham bedeutete Katie, näher zu kommen, dann senkte sie die Stimme. „Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Der Zustand deiner Mutter ist unverändert.“

Katie nickte leicht. Das war nicht die Nachricht, die sie sich erhofft hatte, aber Mama lebte, und das gab ihr Hoffnung.

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen“, berichtete Mrs Graham weiter. „Er sagt, sie hat eine Lungenentzündung. Sie ist schwach, aber ihr Zustand ist stabil.“

„Können wir sie heute besuchen?“

„Zum Krankenhaus ist es ein weiter Weg, Liebes, und sie würden Grace sowieso nicht hineinlassen. Sie ist noch zu klein.“

Katie nickte seufzend. Warum hatte sie überhaupt gefragt? Sie konnten es sich nicht leisten, quer durch die Stadt zu fahren, und zu Fuß wäre es zu weit.

„Mach dir keine Sorgen. Deine Mutter wird gut versorgt, und mit der Zeit wird sie bestimmt auch wieder gesund werden.“ Mrs Graham holte eine weitere Orange aus ihrem Korb. Mit feucht glänzenden Augen reichte sie sie Katie. „Unser Herr wird auf sie aufpassen. Kümmere du dich um Grace und sprich brav deine Gebete.“

„Das werde ich.“ Katie nahm die kühle, glatte Orange, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

Unter ihnen waren Stimmen zu hören. Dann polterten schwere Schritte die Treppe herauf.

Mrs Graham rief aus: „Gütiger Himmel, wer ist denn das?“

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Polizist stapfte in die Wohnung und zerrte Garth am Arm hinter sich her.

Katies Herz zog sich zusammen, und ihr Blick flog von dem Polizisten zu Garth. Das Gesicht ihres Bruders war knallrot angelaufen, und er verzog grimmig die Lippen. Sobald er Katies Blick sah, biss er die Zähne zusammen und senkte den Kopf.

Der Polizist wandte sich an Mrs Graham. „Sind Sie Mrs Edna McAlister?“

„Nein, Sir. Ich bin Mrs Ruby Graham.“

Katie ballte die Fäuste. Was hatte Garth angestellt? Er konnte eigensinnig sein und spielte gern einen Schabernack, aber er hatte noch nie Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt.

Mrs Grahams Gesicht wurde blass. „Was ist passiert?“

„Dieser Junge wurde dabei erwischt, als er in Pinkhams Bäckerei einen Laib Brot stehlen wollte.“ Der Polizist schüttelte Garths Arm. „Er hat gesagt, dass seine Familie Hunger leidet und dass er ihnen nur etwas zu essen bringen wollte. Aber hier sieht niemand so aus, als würde er hungern.“

Katies Gesicht begann zu glühen. Oh Garth! Du weißt doch, dass Mama nie wollen würde, dass du etwas stiehlst, egal wie viel Hunger wir haben.

„Ich hätte das Brot nicht nehmen dürfen, das war falsch.“ Garth schaute den Polizisten mit einem herausfordernden Blick an. „Aber ich habe nicht gelogen. Schauen Sie sich doch selbst um. Dann werden Sie feststellen, dass ich die Wahrheit sage. Wir haben wirklich nichts zu essen.“

Der Polizist ließ Garths Arm los und schritt durch die Küche. Er zog die Schränke auf und suchte die leeren Regale ab. Schließlich schnaubte er und wandte sich wieder an Mrs Graham. „Stimmt es, dass die Mutter der Kinder im Krankenhaus ist?“

„Ja, Sir. Wir haben Sie gestern Nacht ins Krankenhaus gebracht. Aber ich wusste nicht, dass die Kinder nichts zu essen haben. Das haben sie mir nicht verraten.“

Der Polizist runzelte die Stirn und ließ seinen Blick durch die Küche wandern. Schließlich blieb er an Grace hängen. „Wie alt bist du, junges Fräulein?“

Grace warf einen verängstigten Blick auf Katie und sank noch tiefer in ihren Stuhl. Katie legte die Hand auf Graces Schulter. „Sie ist sieben.“

„Und du?“

Katie hob das Kinn. „Ich bin vierzehn.“

„Genauso alt wie dein Bruder?“

„Ja, Sir. Wir sind Zwillinge.“

Der Polizist kniff die Augen zusammen. „Ihr seht überhaupt nicht wie Zwillinge aus.“

Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Katie gelacht. „Nein, Sir. Wir sind zweieiige Zwillinge.“

„Ich kann drei Kinder nicht ohne Essen allein in einer Wohnung lassen. Ihr müsst mitkommen.“

Panik erfasste Katie. Sie verstärkte ihren Griff um Graces Schulter. Er konnte sie doch nicht einfach mitnehmen!

Garth trat neben Katie. „Unsere Mutter wird bald aus dem Krankenhaus zurückkommen. Wir müssen hier auf sie warten.“

Der Polizist wandte sich an Mrs Graham. „Stimmt das?“

Die Frau zögerte. „Wir hoffen natürlich, dass sie bald nach Hause kommt, aber wir wissen nicht mit Bestimmtheit, wann sie wieder gesund ist.“

„Ich kann die Kinder nicht allein und ohne Essen und elterliche Aufsicht in der Wohnung lassen.“ Er senkte die Stimme. „Können Sie die drei bei sich aufnehmen, bis ihre Mutter zurückkommt?“

Mrs Graham zog die Augenbrauen hoch und legte die Hand auf ihre Brust. „Oh! Das würde ich sehr gern machen, aber ich weiß nicht, was mein Mann dazu sagen würde. Wir haben selbst sechs Kinder und kaum genug zu essen für unsere eigene Familie.“

„Also gut.“ Der Polizist trat auf Garth zu. „Ich bringe die Kinder ins Grangeford-Kinderheim.“

„Nein! Bitte, wir wollen hierbleiben.“ Garth hielt Katie an der Hand fest. „Ich habe eine Arbeit. Ich liefere für Mr Davies, den Metzger in der Layton Street, Waren aus, und Katie näht für Mrs Palmer, die Schneiderin im Erdgeschoss. Wir bekommen bald unseren Lohn. Dann haben wir genug Geld, um Lebensmittel zu kaufen, bis Mama zurückkommt.“

„Tut mir leid, Junge. Ihr müsst mitkommen.“ Der Polizist ließ sich nicht umstimmen.

„Und wenn wir uns weigern?“ Katie legte den Arm um Graces Schultern.

Der Polizist wurde nun energisch. „Dann muss ich deinen Bruder verhaften, weil er ein Brot gestohlen hat, und ihn ins Gefängnis sperren.“

Sie schaute Garth an und versuchte zu erraten, was er dachte, aber dieses Mal konnte sie seine Gedanken nicht lesen. Vielleicht war er genauso verwirrt und verängstigt wie sie.

Der Polizist verschränkte seine kräftigen Arme vor sich. „Ihr habt die Wahl: Entweder ihr kommt jetzt alle drei mit oder ich stecke den Jungen ins Gefängnis und komme dann zurück und bringe euch Mädchen ins Kinderheim.“

Garth warf einen angsterfüllten Blick auf Katie. Resignation breitete sich in seinem Gesicht aus. „Wir wollen zusammenbleiben.“

„Das ist nur vorübergehend, bis eure Mama wieder gesund ist.“ Mrs Graham zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Im Heim bekommt ihr genug zu essen und seid sicher untergebracht. Wenn eure Mama wieder gesund ist, kann sie euch nach Hause holen.“

Katies Magen zog sich zusammen, ihr wurde richtig übel. Das klang alles vernünftig, aber was war, wenn Mama nicht wieder gesund wurde? Was würde dann passieren?

Laura McAlister nahm Mrs Frasiers weinrotes Seidenkleid vom Bügelbrett und hielt es hoch, um sich zu vergewissern, dass sie jede Falte ausgebügelt hatte. Sonnenlicht fiel durch das Fenster im Wäscheraum und ließ die schwarzen Perlen am Mieder funkeln. Sie drehte das Kleid langsam und betrachtete den Rücken und die Seiten. Mit ihrer Arbeit zufrieden, schob sie einen Kleiderbügel in den Ausschnitt des Kleides, legte den langen Rock über ihren Arm und trat auf den Flur hinaus.

Es war schon fast Mittag und Zeit für das Mittagessen der Dienstboten. Sie wollte das Kleid nach oben bringen und ins Ankleidezimmer ihrer Herrin hängen, um sich dann zu den anderen Dienstboten im Aufenthaltsraum zu gesellen. Vielleicht war die Morgenpost schon gekommen, und sie würde einen Brief von Mama vorfinden, auf den sie sehnsüchtig wartete. Normalerweise bekam sie einmal oder zweimal in der Woche Post von ihrer Familie, aber aus irgendeinem Grund hatte sie seit fast zwei Wochen nichts mehr von ihnen gehört.

Ihre Besorgnis wuchs, und ihr wurde eng ums Herz. Wenn sie nicht bald etwas hörte, würde sie darum bitten, einen Tag frei zu bekommen, damit sie nach London fahren und ihre Familie besuchen könnte.

Es war schmerzhaft und beunruhigend, von ihnen getrennt zu sein, aber nach dem Tod ihres Vaters hatte Laura Arbeit finden müssen, um ihre Familie finanziell unterstützen zu können. Durch eine Freundin hatte sie von den Harringtons gehört, einer wohlhabenden Familie in London, die eine neue Zofe gesucht hatte. Sie hatte sich für die Stelle beworben und war noch am selben Tag eingestellt worden.

Zuerst war alles gut gelaufen, aber dann war der Neffe der Harringtons eingezogen, Simon. Er hatte ihr mit seinen anzüglichen Bemerkungen das Leben schwer gemacht. Leider hatte er es dabei nicht belassen, sondern hatte ihr auch auf den Gängen nachgestellt und angefangen, ihr auf der Hintertreppe aufzulauern. Das letzte Mal war sie ihm nur mit knapper Not und einem zerrissenen Kleid entkommen. Sie hatte so große Angst gehabt, dass sie noch am selben Nachmittag das Haus verlassen hatte.

Mit einem Schauer verdrängte Laura die hässlichen Erinnerungen und stieg die Dienstbotentreppe hinauf. Es war ein Wunder, dass sie nur eine Woche später eine neue Stelle bei der Familie Frasier bekommen hatte. Mrs Ellis, die Haushälterin, und Mr Sterling, der Butler, behielten das Personal streng im Auge und erlaubten keine persönlichen Beziehungen unter den Dienstboten.

Sie fühlte sich auf Bolton sicher und war für ihre neue Stelle dankbar.

Als sie im Erdgeschoss ankam, stand ihre Freundin Millie, die als Hausmädchen hier arbeitete, an der grünen Abtrenntür und spähte in die Eingangshalle.

„Was machst du denn hier?“, flüsterte Laura.

Ihre Freundin zuckte zusammen und fuhr herum. „Laura! Hast du mich erschreckt!“

„Entschuldige. Was ist denn los?“

Millie grinste, und Grübchen traten auf ihre rosigen Wangen. „Komm und schau selbst.“

Laura trat neben ihre Freundin und lehnte sich an die Tür. Sie spähte durch den Spalt, und ihr stockte der Atem. Ein großer, attraktiver junger Mann stand am Fuß der Treppe und unterhielt sich mit Mrs Frasier. Er trug einen modischen grauen Anzug, der für seine schlanke Figur maßgeschneidert war. Seine Krawatte mit blauem Paisleymuster stach von seinem gestärkten weißen Hemd und seinem gebräunten Gesicht ab. Aus dieser Entfernung konnte sie seine Augenfarbe nicht erkennen, aber er hatte hellbraunes Haar und ein markantes Kinn. Kleine Fältchen bildeten sich in seinen Mund- und Augenwinkeln, als er Mrs Frasier lächelnd begrüßte.

Laura zog den Kopf zurück und flüsterte: „Wer ist das?“

„Andrew Frasier, Mr und Mrs Frasiers Sohn.“

Lauras Magen zog sich zusammen. „Wird er hier wohnen?“

„Hoffentlich. Sieht er nicht einfach umwerfend aus?“ Millie beugte sich näher zu ihr herüber und lächelte verträumt. „Er wird eines Tages der Herr von Bolton sein.“

Laura biss sich auf die Lippe und spähte erneut durch den Spalt. Mrs Frasier hatte erwähnt, dass sie eine verheiratete Tochter und einen Sohn habe. Aber sie hatte gesagt, der Sohn lebe in London und sie bekomme ihn seltener zu Gesicht, als ihr lieb sei. „Was weißt du über ihn?“, flüsterte Laura.

„Er ist vierundzwanzig. Und er wird mal Anwalt werden. Ist gerade noch in Ausbildung.“

Lauras Schultern verspannten sich. Wie lange würde er auf Bolton bleiben? War er ein anständiger Mann? Oder war er gefährlich, so wie Simon Harrington? Sie betrachtete forschend Andrew Frasiers Gesicht und versuchte, hinter sein Lächeln zu blicken. Aber es war unmöglich, seinen wahren Charakter zu erkennen.

Sie musste sehr vorsichtig sein und ihm sicherheitshalber lieber aus dem Weg gehen.

Andrew reichte dem Butler seinen Hut und Mantel. „Es ist so schön, dich zu sehen, Mutter.“ Seine Stimme drang gut vernehmlich an ihre Ohren.

Mrs Frasier strahlte. „Was für eine freudige Überraschung! Ich habe dich erst nächste Woche erwartet.“

„Unsere Geschäfte waren früher erledigt als erwartet, und als wir hörten, dass in zwei Tagen ein Schiff ausläuft, beschlossen wir aufzubrechen, damit wir rechtzeitig zu Ostern zu Hause wären.“

„Das freut mich sehr. Wir haben dich so vermisst, Andrew.“

„Ihr habt mir auch gefehlt.“

Mrs Frasier hakte sich bei ihm unter. Er tätschelte ihre Hand, und gemeinsam schlenderten sie in Richtung Salon.

Laura wandte sich an Millie. „Das klingt, als wäre er verreist gewesen.“

Millie nickte. „Er war zwei Monate in Italien.“

Laura bekam große Augen. „Italien? Oh, meine Güte.“

„Ja. Klingt das nicht aufregend?“

„Was hat er dort gemacht?“

„Er hat einen anderen Anwalt bei dessen Geschäften begleitet.“ Millie kniff die Augen zusammen und tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Ich glaube, er heißt Mr Dowd. Er ist derjenige, der Mr Frasier zum Anwalt ausbildet.“

„Warum nimmt Andrew Frasier eine Arbeitsstelle an, wenn er der künftige Erbe von Bolton ist?“

Millie zuckte die Schultern. „Sein Vater könnte noch zwanzig bis dreißig Jahre leben. Vermutlich will er etwas Sinnvolles mit seinem Leben anfangen.“

„Trotzdem klingt es sonderbar, dass jemand in seiner Position nach London geht und in einer Anwaltskanzlei arbeitet.“

„Nicht alle Männer mit Vermögen lieben Müßiggang“, sagte Millie mit einem altklugen Nicken.

„Das stimmt wahrscheinlich.“ Laura warf einen Blick zur Tür, durch die Mrs Frasier und ihr Sohn verschwunden waren. „Mich würde interessieren, ob er nur über Ostern hier ist oder ob er plant, länger zu bleiben.“

Millie grinste, und ein verträumter Blick trat in ihre Augen. „Ich hoffe, er bleibt sehr lange hier.“

Ein Schauer lief über Lauras Rücken. Falls Andrew Frasier tatsächlich plante, auch nach Ostern auf Bolton zu bleiben, müsste sie sich womöglich bald eine neue Stelle suchen.

„Was machen Sie hier?!“ Mr Sterling kam die Treppe herunter und trat mit einem tadelnden Stirnrunzeln zu ihnen.

Laura hielt die Luft an und richtete sich auf. „Nichts, Sir.“

Er kniff streng die Augen zusammen. „Die Dienstboten auf Bolton gehen ihren Pflichten nach und belauschen nicht die Familie. Ist das klar?“

„Ja, Sir“, antworteten Millie und Laura wie aus einem Munde.

„Gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich will Sie nie wieder untätig auf der Dienstbotentreppe herumlungern oder durch einen Türspalt spähen sehen!“

„Ja, Sir.“ Laura verstärkte den Griff um den Kleiderbügel und das Kleid und stieg die Treppe hinauf.

Millie holte sie rasch ein und schmunzelte leise: „Mr Sterling ist so ein alter Dudelsack.“

„Lass ihn das bloß nicht hören.“ Mr Sterling und Mrs Ellis standen allen Dienstboten im Haus vor. Er konnte ihr jederzeit kündigen und sie fortschicken, wenn er mit ihrer Arbeit oder mit ihrem Verhalten nicht zufrieden war. Es war besser, den Mund zu halten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und ihre Vorgesetzten mit Respekt zu behandeln.

„Ob Mr Andrew Frasier wohl eine Freundin hat?“

„Millie, das geht uns nichts an. Es würde ihm bestimmt nicht gefallen, wenn zwei Zimmermädchen Spekulationen über seine persönlichen Angelegenheiten anstellen.“

„Vermutlich nicht“, pflichtete ihr Millie mit einem schelmischen Grinsen bei. „Aber ein wenig Träumen wird wohl noch erlaubt sein.“

„Heute Morgen ist ein Brief für Sie angekommen.“ Mrs Ellis hielt Laura den dünnen hellgrauen Umschlag hin. Sie schaute Laura durch die Drahtbrille auf ihrer Nasenspitze an. Ihr silbern durchzogenes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem kleinen strengen Knoten zurückgezogen.

„Danke, Madam.“ Laura nahm den Brief und steckte ihn in ihre Schürzentasche. Sie trank schnell ihren Tee, stand vom Tisch auf und huschte aus dem Aufenthaltsraum. Erneut schob sie die Hand in ihre Schürzentasche, legte die Finger um den Brief und schritt durch den Gang im Untergeschoss. In der Hoffnung auf ein wenig Sonnenschein und ein paar ungestörte Minuten, in denen sie den Brief lesen konnte, schob sie die Tür auf und trat ins Freie.

Der Duft von frisch gemähtem Gras und Frühlingsblumen begrüßte sie, als sie auf die Terrasse hinter dem Haus trat. Sie schlenderte über den Kiesweg um die Seite des Hauses herum und betrat den Garten, der von einer Stechpalmenhecke umgeben war. Gelbe und weiße Narzissen mit silbergrünen Blättern nickten im leichten Frühlingswind mit ihren Köpfen. Rosa, rote und gelbe Tulpen säumten die Blumenbeete mit dem federförmigen grünen Farn. Der blühende Pflaumenbaum sah aus wie eine rosa Wolke über dem Weg.

Laura setzte sich im Schatten einer Stechpalme auf die Steinbank und riss den Umschlag vorsichtig auf. Sie zog den Brief heraus und war überrascht. Normalerweise schrieben ihr Mama und Katie, aber diese Handschrift war ihr unbekannt. Sie drehte den Brief um und entdeckte am Ende Mrs Grahams Unterschrift. Ihre Schultern verspannten sich.

Liebe Laura,

ich muss Dir leider mitteilen, dass es Deiner Mutter in den letzten Wochen nicht gut ging und sie sehr krank ist. Katie und Garth haben ihr Möglichstes getan, um sich um sie zu kümmern, und ich habe sie auch fast jeden Tag besucht. Aber sie bekam hohes Fieber und wurde immer schwächer. Deshalb haben mein Mann und ich sie am Freitagabend ins St.-Josef-Krankenhaus gebracht.

Lauras Herz zog sich zusammen. Sie starrte entsetzt auf den Brief. Wie hatte sie jeden Tag ihren Pflichten nachgehen können, ohne zu ahnen, dass es ihrer lieben Mutter so schlecht ging? Tränen traten ihr in die Augen, und sie musste einige Male blinzeln, bevor sie weiterlesen konnte.

Die Schwestern dort versorgen sie gut, und die Ärzte hoffen, dass sie sich von ihrer Lungenentzündung erholt, aber das ist nicht sicher. Ich wollte Dich für den Fall vorbereiten, dass das Schlimmste eintritt. Ich werde sie besuchen, so oft ich kann, und ich verspreche, Dir zu schreiben, wenn sich etwas an der Situation ändert.

Der nächste Absatz war nicht weniger beunruhigend. Mrs Graham teilte ihr mit, dass ihr Bruder beim Diebstahl erwischt worden war und dass ihre drei Geschwister in ein Kinderheim gebracht worden waren.

Ich hoffe, Du kommst nach London, wenn Du kannst. Es würde Deine Mutter sicher aufmuntern, wenn sie Dich sieht und weiß, dass Du alles tust, um Dich um Deine Geschwister zu kümmern und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Bitte schreibe mir, ob Du kommen kannst. Ich werde in meinen Gebeten an Dich und Deine Familie denken.

Herzlich

Ruby Graham

Laura drückte den Brief ans Herz und schluckte. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatten, wurden sie jetzt erneut mit einer schmerzhaften Situation konfrontiert. Ihre Geschwister hatten versucht, sich um sich selbst und um Mama zu kümmern, aber sie waren damit überfordert gewesen. Außerdem hatten sie Hunger gelitten und nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollten. Ihr armer Bruder war so verzweifelt gewesen, dass er Brot gestohlen hatte. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.

Sie schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Katie, Grace und Garth mussten zutiefst verängstigt sein. In welches Heim hatte man sie gebracht? Waren sie alle im selben Haus oder hatte man sie getrennt? Viele Kinderheime nahmen nur Jungen oder nur Mädchen auf.

Sie musste nach London. Ihre Familie brauchte sie. Würde Mrs Frasier ihr das erlauben oder würde sie ihr kündigen und sich eine neue Kammerzofe suchen? Wenn Laura ihre Stelle verlor, hätte sie kein Geld, um ihrer Familie zu helfen. Vielleicht könnte sie in London eine neue Stelle finden, aber wie sollte sie sich um ihre Geschwister kümmern, wenn sie den ganzen Tag arbeitete?

Ein ersticktes Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um nicht laut zu weinen. Sie sollte für ihre Mutter und für ihre Geschwister beten, aber sie konnte ihre aufgewühlten Gedanken nicht in Worte fassen. Sie beugte den Kopf und betete um Trost. Aber der Himmel erschien ihr fern und schweigsam.

Ein leichter Wind fuhr durch die Pflaumenblüten über ihr, und einige rosa Blütenblätter regneten auf sie herab. Sie hielt sich die Augen zu und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Andrew faltete die Hände auf dem Rücken und schlenderte mit seiner Mutter über den smaragdgrünen Rasen im alten Rosengarten. Es war noch zu früh für die Rosenblüte, aber er sah die neuen Triebe, die ankündigten, dass sie sich in wenigen Wochen in ihrer ganzen Pracht zeigen würden. Um diese Jahreszeit leuchteten am Rand der Beete die bunten Tulpen, Herzblumen, Hyazinthen und Vergissmeinnicht.

Es tat gut, zu Hause zu sein und durch die Privatgärten seiner Familie zu spazieren. Als Junge hatte er hier draußen viele Stunden verbracht und war Mr Harding, dem mürrischen alten Gärtner mit dem weichen Herzen, überallhin gefolgt. Von ihm hatte er gelernt, die Beete zu bearbeiten, mehrjährige Blumen umzupflanzen und die Kletterrosen zu schneiden. Neben der Arbeit im Garten hatte Andrew Kaninchen gejagt und zugesehen, wie Rotkehlchen ihre Nester bauten und ihre Jungen fütterten.

Bei schönem Wetter war er gern im Freien gewesen und bei Mr Harding in die Schule gegangen. Und manchmal auch, wenn das Wetter nicht so schön gewesen war. Er hatte jene Stunden mit dem alten Mann genossen und die Geheimnisse des Gartens in sich aufgesogen. So hatte er nicht im Haus und in der Nähe seines Vaters sein müssen, der ein hitziges Temperament hatte und nur selten mit dem, was Andrew sagte oder tat, zufrieden war.

Er presste die Zähne zusammen, schob diesen Gedanken beiseite und wandte sich an seine Mutter. „Wo hält sich Vater im Moment auf?“

„Er ist zum Angeln in Schottland. Morgen oder am Samstag müsste er zurück sein.“

Andrew nickte und war dankbar, dass er und seine Mutter ein wenig Zeit für sich haben würden, bevor sein Vater zurückkehrte.

„Erzähl mir von Italien.“ Sie sah ihn mit einem herzlichen Lächeln an. „Ich hoffe, du hast nicht die ganze Zeit nur gearbeitet.“

Andrews Blick wanderte über den Garten, während er sich an die schönsten Momente der zwei Monate erinnerte, die er mit Henry Dowd, seinem Freund und Mentor, in Italien verbracht hatte. „Rom ist atemberaubend. Dort gibt es so viel Geschichtliches und so viele faszinierende Sehenswürdigkeiten. Aber wir waren die meiste Zeit in der Nähe von Florenz. Die Landschaft dort ist wunderschön, und es gibt etliche historische Bergstädte, die bis ins Mittelalter zurückreichen.“

„Das hört sich interessant an.“

„Ja, es ist eine reizvolle Gegend. Die kleinen Bergstädte haben farbenfrohe enge Straßen und sonnengetränkte Plätze, die Piazzas. Es gibt bemerkenswerte Kunstwerke, und die Menschen sind so freundlich. Und das Essen schmeckt köstlich.“

„Kein Wunder, dass es dir dort so gut gefallen hat.“

Er grinste. „So ist es. Ich hoffe, dass ich irgendwann wieder dorthin fahren kann.“

„Und eure Arbeit? Lief alles gut?“

„Ja. Wir haben das Anwesen eines Mandanten verkauft und alle seine Geschäfte in Italien abgewickelt.“

Ein Bediensteter trat zu ihnen. „Entschuldigen Sie, Madam. Mrs Jackson ist angekommen.“

„Oh. Sagen Sie ihr bitte, dass ich gleich bei ihr bin.“

Der Mann nickte und schritt zum Haus zurück.

„Entschuldige, Andrew. Ich hatte ganz vergessen, dass Althea heute kommt. Sie und ich sind Schirmherrinnen des Frühlingsfests von St. Lukas. Wir haben einiges zu besprechen.“

„Das macht nichts, Mutter.“ Er küsste sie auf die Wange. „Genieß die Zeit mit deiner Freundin. Wir sehen uns später.“

„Danke, mein Lieber.“ Sie tätschelte seinen Arm und ging dann zurück zum Haus.

Andrew atmete tief ein und genoss den Geruch von feuchter Erde und blühenden Blumen. Bei einem friedlichen Spaziergang durch den restlichen Garten, um zu erkunden, welche Pflanzen sonst gerade blühten, könnte er sich in Ruhe überlegen, wie er seinem Vater das Unaufschiebbare sagen würde, wenn der von seinem Angelausflug zurückkehrte. Das Gespräch würde wahrscheinlich nicht angenehm verlaufen, aber es war überfällig.

Er erreichte das Ende des Rosengartens und bog auf den Schotterweg, der zum Teich und dann weiter zum Obstgarten führte.

Ein unerwartetes Geräusch ließ ihn innehalten. Er neigte den Kopf und strengte seine Ohren an. Weinte da jemand auf der anderen Seite der Stechpalmenhecke? Er lauschte noch einen Moment und ging dann einige Schritte in diese Richtung.

Als er das Ende der Hecke erreichte, blieb er stehen und sah sich um. Eine junge Frau in einem schwarzen Dienstbotenkleid mit weißer Schürze saß auf der Steinbank. Ihr blondes Haar war unter einer Haube hochgesteckt, und sie drückte einen Brief an ihre Brust. Ihre Schultern bebten, und Tränen glänzten auf ihren Wangen.

Sein Herz zog sich zusammen, und er trat schnell zurück. Sollte er sie ansprechen? Oder sollte er sie mit der traurigen Nachricht, die sie offenbar bekommen hatte, allein lassen? War Liebeskummer oder eine schmerzhafte Familienangelegenheit der Grund für ihre Tränen?

Wie auch immer, ein mitfühlendes Wort konnte nicht schaden. Er bog um die Hecke und trat auf die junge Frau zu.

Weiter als der Ozean

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