Читать книгу Weiter als der Ozean - Carrie Turansky - Страница 8
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Andrew zog unauffällig die Uhr aus seiner Westentasche, öffnete sie unter dem Esstisch und schaute nach, wie spät es war. Er verkniff sich ein Seufzen und versuchte, sich auf das Gespräch am Tisch zu konzentrieren. Mit großer Anstrengung war es ihm gelungen, in der letzten Stunde einige höfliche Bemerkungen zum Gespräch beizutragen, aber er verlor allmählich die Geduld.
Wenn sie endlich den letzten Gang des Menüs hinter sich bringen würden, könnte er sich entschuldigen und sich in die Bibliothek zurückziehen. Er würde den Rest des Abends viel lieber mit der aktuellen Ausgabe des Juristenjournals verbringen, als sich die Klagen von Tante Eloise über die Arthritis in ihren Knien oder die Einfallslosigkeit ihrer Hutmacherin anzuhören.
Wenn nur seine Schwester Olivia mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern hier wäre! Sie beherrschte es immer gut, das Gespräch am Laufen zu halten. Aber so kurz nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes hatten sie und ihr Mann beschlossen, dieses Jahr an Ostern lieber zu Hause zu bleiben, als die Familie in Bolton zu besuchen. Andrew bedauerte ihre Entscheidung.
„Ich hoffe doch sehr, dass ihr für die Saison nach London kommt.“ Eloise tupfte ihren Mund mit der Serviette und ließ ihren Blick in die Runde wandern. „Die Sommerausstellung der Königlichen Akademie wird bald eröffnet.“
Sein Vater schaute seine Schwester über den Tisch finster an. „Ich bin kein Anhänger von Kunstausstellungen und habe nicht vor, diese zu besuchen.“
„Aber, George, das erwartet man von dir. Du solltest dich blicken lassen.“
„Ich verabscheue den ganzen Lärm und Trubel in der Stadt.“ Er richtete seinen kühlen Blick auf Andrew. „Ihr wisst, dass ich das Landleben bevorzuge. Auf die erdrückenden Menschenmassen und die schmutzigen Straßen in London kann ich gerne verzichten.“
Andrew biss die Zähne zusammen. Er würde jetzt nicht mit seinem Vater über die Vorzüge des Stadtlebens gegenüber dem Leben auf dem Land diskutieren.
„Ich kann dir nur zustimmen.“ Onkel Bertram nickte Vater zu. „Das Landleben ist viel friedlicher. Frische Luft, schöne Spaziergänge in der Natur. Was könnte man daran auszusetzen haben?“
„Ich genieße das Leben auf dem Land auch“, redete Tante Eloise weiter, „aber wenn du deine Beziehungen pflegen willst, musst du an der Saison in London teilnehmen.“
Sein Vater schnaubte. „Ich habe nicht den Wunsch, Beziehungen zu Leuten zu pflegen, die die besten Monate des Jahres damit vergeuden, von einer Veranstaltung zur nächsten zu laufen und zu versuchen, die anderen Narren zu beeindrucken, die auch nichts Besseres zu tun haben.“
Andrews Mutter warf Andrew einen flehenden Blick zu. Sie wollte offensichtlich, dass er sich am Gespräch beteiligte und versuchte, die Stimmung aufzulockern.
Er räusperte sich. „Ich freue mich darauf, die Henley Royal Regatta und die Royal Ascot zu besuchen. Vater, diese beiden Regatten haben dir in der Vergangenheit auch gefallen. Vielleicht überlegst du dir, sie dieses Jahr zu besuchen.“ Er wollte hinzufügen, dass sie gemeinsam hingehen könnten, aber so viel wagte er nicht zu hoffen. Sein Vater lud ihn nie ein, ihn zu begleiten, wenn er in die Stadt oder sonst irgendwohin fuhr. Er jagte allein, er angelte allein und er reiste allein. Er war ein verschlossener Einzelgänger.
„Vielleicht gehe ich zur Royal Ascot, aber nur am ersten Tag“, erwiderte sein Vater. „Ich sehe keine Veranlassung, die anderen vier Tage auch noch zu bleiben.“
„Willst du nur für diese eine Nacht dein Haus in London bezugsfertig machen?“, fragte Tante Eloise.
„Nein, ich übernachte im Club und fahre am nächsten Morgen zurück.“
Andrew warf einen Blick auf seine Mutter. Verletzten sie die Bemerkungen seines Vaters? Ihre Miene verriet nicht viel, aber Andrew nahm ihretwegen Anstoß an seiner Rücksichtslosigkeit. Kam sein Vater denn nicht auf den Gedanken, dass sie im Frühling oder Sommer vielleicht gern Ascot oder eine der anderen Veranstaltungen in London besuchen würde? Andrew schüttelte den Kopf. Er hatte die unsensible Art seines Vaters satt.
„Nun, mich freut es, wenn du nach Ascot kommst“, schob Eloise nach. „Wenn du dich dort zeigst, nimmst du wenigstens den Gerüchten, du wärst ein griesgrämiger Einsiedler geworden, den Wind aus den Segeln.“
Mutter zuckte kurz und senkte den Blick auf ihren Teller.
Vaters Gesicht lief rot an. „Also wirklich, Eloise! Du kümmerst dich viel zu sehr darum, was andere denken!“
Onkel Bertram warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, dann sah er Andrews Vater an. „Ich verstehe deine Abneigung, dich während der Saison in der Stadt aufzuhalten. Bei den vielen Menschen und dem ständigen Lärm kann es in London unerträglich sein, manchmal sogar regelrecht gefährlich.“
Eloise beugte sich vor. „Bertram hat leider recht. Erzähle ihnen, was letzte Woche passiert ist.“
„Irgend so ein kleiner Taschendieb hat mir vor einigen Tagen meine Brieftasche aus der Manteltasche gestohlen!“
Eloise legte die Hand auf ihre üppige Brust. „Wir kamen gerade aus der Victoria Station, als der Junge so heftig mit Bertram zusammenstieß, dass er ihn fast zu Boden warf. Er entschuldigte sich und lief weiter. Wir merkten erst, dass er Bertrams Brieftasche gestohlen hatte, als wir später den Taxifahrer bezahlen wollten und feststellten, dass wir kein Geld hatten!“ Sie schaute in die Gesichter am Tisch. „Grauenhaft, dass sich anständige Menschen in bestimmten Stadtvierteln nicht bewegen können, ohne von Vagabunden und Dieben belästigt zu werden!“
„Sie sollten das ganze Pack ins Gefängnis sperren!“ Bertram fuchtelte so vehement mit der Hand, dass er beinahe sein Wasserglas umstieß.
Vater runzelte die Stirn. „Es gibt nicht genug Gefängnisse, um Londons Kanalratten alle unterzubringen.“
Andrews Mutter runzelte die Stirn. „George, wie kannst du sie so bezeichnen? Sie sind doch noch Kinder.“
„Mir ist egal, wie alt sie sind. Sie sind eine Plage, und man sollte die Straßen von ihnen befreien.“
Tante Eloise nickte heftig. „Das sehe ich ganz genauso. Es muss etwas unternommen werden!“
„Diese kleinen Diebe sind nicht besser als ihre Eltern“, schimpfte sein Vater weiter. „Nur aufgrund ihres Alters sollten wir kein Mitleid mit ihnen haben. Einmal Dieb, immer Dieb.“
Andrew ballte unter dem Tisch die Fäuste. „Kinder, die sich nicht anders zu helfen wissen, als zu stehlen, tun das nur, weil die Erwachsenen, die für sie verantwortlich sind, ihre Pflichten vernachlässigen. Du kannst den Kindern doch keinen Vorwurf aus ihrem Hunger oder ihrer Armut machen. Wo sind ihre Mütter und Väter?“
„Das sehe ich genauso“, bestätigte seine Mutter. „Die meisten dieser Kinder haben kein Zuhause und keine Familie, die sich um sie kümmert. Haben sie denn eine andere Wahl?“
Sein Vater schob angriffslustig das Kinn vor. „Obdachlos oder nicht, Stehlen ist keine Lösung.“
Seiner Mutter stieg das Blut in die Wangen. „Und das Gefängnis auch nicht!“
„Was sollte man dann tun?“ Tante Eloise ließ ihren Blick in die Runde wandern. „Wenn sie Verbrechen begehen, bleibt der Polizei doch keine andere Wahl, als sie zu verhaften und einzusperren.“
„Es gibt eine andere Lösung“, entgegnete Andrews Mutter. „Ich finde, man sollte sie nach Kräften unterstützen.“
„Und wie sollte das aussehen?“, fragte sein Vater.
„Es gibt Heime für diese Kinder. Zum Beispiel die Heime, die Dr. Barnardo gegründet hat. Sie holen Jungen und Mädchen aus den Fabriken und von der Straße und ermöglichen ihnen, sich auf ein nützliches, produktives Leben vorzubereiten.“
Tante Eloise rümpfte die Nase. „Ich glaube nicht, dass Dr. Barnardo ein ehrbarer Gentleman war. Ich habe gehört, dass es gegen diesen Mann und seine Arbeit verschiedene Anklagen gab. Er stand immer wieder wegen des einen oder anderen Problems vor Gericht. Wie kannst du so jemanden unterstützen?“
„Er war umstritten, aber ich habe ihn sprechen gehört“, erwiderte Mutter. „Ich war sehr beeindruckt. Er hatte einen tiefen Glauben, und es war ihm ein großes Anliegen, Kindern zu helfen. Er vertrat den Standpunkt, dass kein Kind ein hoffnungsloser Fall ist.“
Vaters dunkle Brauen zogen sich zusammen. „Du hast eine Veranstaltung von Barnardo besucht?“
„Ja. Wir haben ihn in Cliffside gehört. Nach seiner Rede folgte ein herzerwärmender Auftritt von einigen Kindern, die er in einem Heim aufgenommen hat. Sie haben gesungen, und mit was für bezaubernden Stimmen. Mir kamen fast die Tränen. Das hättet ihr hören müssen.“
Sein Vater sah auf und knurrte: „Wann war das denn?“
„Vor ein paar Jahren, als du bei einem Jagdausflug warst.“
„Solche Veranstaltungen solltest du nicht besuchen. Dort drücken sie nur auf die Tränendrüse, um an dein Geld heranzukommen.“
Andrew richtete sich auf seinem Stuhl auf. „Es muss aber etwas unternommen werden, um diesen Kindern zu helfen. Statt gemütlich am Tisch zu sitzen und über das Problem zu diskutieren, wurde Dr. Barnardo aktiv und hat Tausende arme und mittellose Kinder von den Straßen geholt. Du musst doch zugeben, Vater, dass das eine lobenswerte Sache ist, die wir unterstützen sollten.“
Das Gesicht seines Vaters verriet dessen Gereiztheit. „Ich sehe nur einen selbstgerechten Mann, der versucht hat, seinen eigenen Ruf zu fördern, indem er diese Kinder vor einem zahlungskräftigen Publikum vorführte. Er hat kein anderes Ziel verfolgt, als genug Geld zu sammeln, um Werbung für sich zu machen.“ Sein finsterer Blick richtete sich auf seine Frau. „Der Mann war ein Scharlatan. Ich will nicht, dass du mit seiner Stiftung noch irgendetwas zu tun hast.“
„George, du hast diesen Mann doch nie selbst gesehen. Wie kannst du ihn so scharf verurteilen?“
„Ich weiß genug über ihn und seinesgleichen. Und ich verbiete dir, solche Veranstaltungen zu besuchen!“
Seine Mutter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sein Vater hob die Hand. „Das Thema ist erledigt. Ich will nichts mehr davon hören!“
Andrew biss die Zähne zusammen. In ihm kochte der Zorn. Er hatte genug davon, seinem Vater zuzuhören. Zu diesem Thema und zu jedem anderen. Je früher er Bolton verließ und sich der Kontrolle seines Vaters entzog, umso besser. Er bedauerte nur, dass er seine Mutter im Stich ließ und sie sich allein mit seinem Vater auseinandersetzen musste.
Wie hatte sie es geschafft, schon so viele Jahre seinen Egoismus und seine zornigen Ausfälle zu ertragen? Sie hatte ihre Freundinnen, ihre Kirchengemeinde und die wohltätigen Organisationen, die sie unterstützte. Darauf konnte sie ihre Energie verwenden. Und sie hatte ihren Glauben, der ihr Kraft gab. Aber genügte das? Andrew würde so oft wie möglich herkommen müssen, um sie aufzumuntern und ihr zu versichern, wie viel ihm an ihr lag.
Laura versuchte, sich mit ihrem Schirm vor Wind und Regen zu schützen, während sie durch die Rushley Lane eilte. Sie hob den Blick und suchte die Gebäude nach Haus Nummer 326 ab. Ob vor dem Grangeford-Kinderheim für arme und mittellose Kinder wohl ein Namensschild hing? Allein schon bei diesem Namen wurde ihr schwer ums Herz. Ihre Familie war zwar nicht vermögend, aber sie waren reich an Liebe. Und sie hielten fest zusammen.
Regentropfen spritzten um ihre Füße und machten ihren Rocksaum und ihren Mantel nass. Bei dem stürmischen Wind war ihr Schirm fast nutzlos. Sie wischte sich das Wasser von der Wange, einige kalte Tropfen liefen ihr hinten in den Kragen. Sie erschauerte und marschierte entschlossen weiter. Trotz der Kälte und Nässe wollte sie sich durch nichts davon abbringen lassen, ihre Geschwister zu suchen und sie zu erinnern, dass ihre Familie sie liebte und nicht vergessen hatte.
Nach dem Besuch bei ihrem Bruder und ihren beiden Schwestern wollte sie auf die andere Seite der Stadt fahren, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Eine Nachricht von Garth, Katie und Grace würde die Stimmung ihrer Mutter sicher aufhellen und deren Genesung beschleunigen.
An der Seite eines dreistöckigen Ziegelgebäudes entdeckte sie ein verblasstes Schild mit dem Namen des Kinderheims. Sie fasste neuen Mut, der jedoch sofort wieder schwand. Ein einschüchternder Eisenzaun mit einem geschlossenen Tor umgab das Gelände. Sie nahm ihren Schirm in die andere Hand und zog am Griff, aber das Tor ging nicht auf.
Ihr Blick fiel auf eine kurze Schnur, an deren Ende eine Glocke befestigt war. Sie zog daran. Als niemand kam, zog sie noch einmal an der Schnur, während sie unter ihrem tropfenden Schirm vor Kälte bibberte.
Schließlich kam ein alter Mann in einem Regenmantel auf sie zu. Das Wasser in den Pfützen auf dem Schotterweg spritzte unter seinen Schritten auf. „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“
„Ja, danke. Ich möchte meinen Bruder und meine Schwestern besuchen.“
Der Mann zog die Brauen hoch. Dann runzelte er leicht die Stirn und warf einen Blick über seine Schulter auf das Gebäude. „Das ist ein Mädchenheim. Ihre Schwestern sind vielleicht hier, aber Ihr Bruder müsste im Jungenheim sein. Es befindet sich gleich hinter dem Zaun und diesen Bäumen dort.“ Er deutete mit dem Kopf nach links. Bei dieser Bewegung tropfte der Regen von seiner Kappe und lief an seinem bärtigen Gesicht hinab.
Der Schmerz in Lauras Brust wurde noch größer. Sie hatten Garth von den Mädchen getrennt. Das musste sehr schmerzhaft sein, besonders für Katie, obwohl Grace ihren Bruder auch sehr gern hatte.
Sie hob den Blick und schaute den alten Mann an. „Dann würde ich gern meine Schwestern besuchen.“
Er nickte kurz und holte einen großen metallenen Schlüsselring aus seiner Tasche. Das Regenwasser tropfte von seiner Hand, während er den richtigen Schlüssel suchte. „Hier ist er.“ Er sperrte das Tor auf. Die Angeln quietschten laut, als er es aufzog. „Kommen Sie bitte mit.“
Sie folgte ihm über den Schotterweg und hatte Mühe, den Pfützen auszuweichen. Dann stieg sie die Steinstufen hinauf, die zu der großen Holztür führten.
„Wenn Sie hier klopfen, kommt jemand und lässt Sie hinein.“ Er stieg die Stufen wieder hinab, doch dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Noch einen schönen Tag, Miss.“ Dann drehte er sich um und marschierte auf dem Schotterweg davon.
Laura drehte sich zu der Tür um und klopfte dreimal. Einige Sekunden später ging die Tür auf, und eine junge Frau mit ernsten Augen stand vor ihr. Sie schien älter zu sein als Katie, aber jünger als sie selbst. Vielleicht sechzehn oder siebzehn. Ihr hellbraunes Haar war geflochten und am Kopf zu einem Kranz hochgesteckt. Sie trug ein schlichtes braunes Kleid mit einer langen hellgrauen Schürze. Ihre abgewetzten braunen Schuhe spitzten unter ihrem Rock hervor.
„Guten Morgen. Ich heiße Laura McAlister. Ich würde gern meine Schwestern Katie und Grace besuchen.“
Das Mädchen zog die Brauen hoch. „Das müssen Sie mit der Heimleiterin klären. Ich weiß nicht, ob Besuche erlaubt sind.“
Laura nickte. „Gut. Wenn Sie mir den Weg zeigen, würde ich gern mit ihr sprechen.“
Das Mädchen zog die Tür auf. Laura klappte ihren Schirm zusammen und schüttelte das Wasser ab, bevor sie eintrat. Trotzdem hinterließ sie eine Wasserspur auf dem grauen Fliesenboden, als sie dem Mädchen durch den trüben Gang folgte. Vor der letzten Tür auf der rechten Seite blieben sie stehen. Das Mädchen klopfte.
„Herein“, rief eine Frauenstimme.
Das Mädchen trat beiseite, bedachte Laura mit einem kurzen ausdruckslosen Blick und ging dann weg.
Laura nahm einen tiefen Atemzug, straffte die Schultern und betrat das Büro der Heimleiterin.
Eine ältere Frau saß hinter einem großen Holzschreibtisch. Bücherregale füllten die Wand hinter ihr. Die schweren marineblauen Vorhänge um das Fenster sperrten den größten Teil des Tageslichts aus, das das Büro selbst an einem so verregneten Tag ein wenig erhellt hätte. Stattdessen verbreitete eine Petroleumlampe, die in der Ecke auf dem Schreibtisch stand, ein trübes gelbes Licht.
Die Frau hob den Kopf. Ihre harte, unfreundliche Miene passte perfekt zu ihrem dunkelgrauen Kleid und ihrer teigigen Gesichtsfarbe. Ihr grau durchzogenes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem Knoten zurückgezogen. Eine kleine Drahtbrille saß auf ihrer Nasenspitze. Auf einem Schild auf dem Schreibtisch stand Mrs Stafford, Heimleitung. Ohne aufzustehen, musterte sie Laura von Kopf bis Fuß.
„Guten Morgen, Madam. Ich heiße Laura McAlister. Ich habe gehört, dass meine Schwestern Katie und Grace McAlister hier im Grangeford-Kinderheim wohnen, und ich möchte sie besuchen.“
„Ich kann mich nicht erinnern, sie aufgenommen zu haben.“ Der Tonfall der Frau war kühl, ihre Worte waren knapp, und sie verzichtete auf ein Lächeln. „Ich muss nachsehen, ob sie hier wohnen.“ Sie zog ihre Schreibtischschublade auf und blätterte in mehreren Akten. Schließlich hielt sie inne und blickte auf. „Wir haben hier eine Katherine McAlister, vierzehn Jahre, und eine Grace McAlister, sieben Jahre.“
Laura atmete erleichtert auf. „Ja, das sind meine Schwestern.“
„Sie dürfen sich setzen.“ Die Frau nickte zu einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
Laura trat vor und sank auf den harten Holzstuhl.
Die Heimleiterin legte die zwei Akten auf ihren Schreibtisch. Sie schlug die oberste auf und begann zu lesen. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, je länger sie die Seite überflog.
Laura faltete die Hände auf dem Schoß und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Warum war die Miene dieser Frau so missbilligend? Was hatten ihre Schwestern angestellt? Katie hatte einen starken Willen und scheute sich nicht, ihre Meinung zu äußern, aber Laura konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich widerspenstig benahm, und ganz gewiss nicht an einem solchen einschüchternden Ort.
Die Heimleiterin hob den Blick. „Ein Besuch bei Ihren Schwestern ist leider nicht möglich.“
Laura blinzelte. „Was? Warum nicht?“
„Katherine und Grace sind erst seit Kurzem in Grangeford. Für einen Familienbesuch ist es zu früh. Das würde die beiden nur aufregen.“
„Aber ich bin den weiten Weg aus St. Albans mit dem Zug hergekommen. Unsere Mutter liegt im Krankenhaus, und ich muss ihr berichten, wie es meinen Schwestern geht.“
Die Heimleiterin überflog die Akte ein zweites Mal. „Ihre Schwestern tun sich schwer, sich an die Tagesabläufe im Heim zu gewöhnen. Ein Besuch von einem Familienangehörigen würde sie nur beunruhigen und die wenigen Fortschritte, die wir erreicht haben, zunichtemachen.“
Laura beugte sich vor. „Ich stehe meinen Schwestern sehr nahe. Mein Besuch würde sie bestimmt eher ermutigen als beunruhigen.“
Mrs Staffords Miene blieb unverändert hart. „Tut mir leid. Ich kann es nicht erlauben.“
Laura verkrampfte die Hände zwischen ihren Rockfalten. Wie konnte ihr diese Frau verweigern, ihre Schwestern zu besuchen? Das war nicht fair, und wahrscheinlich hatte sie dazu auch keine rechtlichen Befugnisse. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf. „Wenn Sie mir nicht erlauben, sie zu sehen, will ich meine Schwestern noch heute aus Ihrem Heim holen und mitnehmen.“
Die Heimleiterin zog die Brauen hoch. „Das ist nicht möglich.“
Laura hob das Kinn. „Warum nicht? Ich bin volljährig, und sie sind meine Geschwister.“
„Sie wurden von der Polizei hierhergebracht und unserer Obhut unterstellt. Ich kann sie Ihnen nicht einfach aushändigen.“
„Wenn ein Angehöriger kommt und sie zu sich nehmen will, müssen Sie sie doch bestimmt gehen lassen.“
„Nein, das muss ich nicht! Die Kinder werden weder Ihnen noch sonst jemandem übergeben, solange Sie nicht beweisen können, dass Sie ihr gesetzlicher Vormund sind und dass die Umstände, die die Kinder hierhergebracht haben, behoben sind.“ Wieder ein unerbittlicher Blick über den Brillenrand. „Außerdem müssen die Kosten für ihre Betreuung beglichen werden.“
„Welche Kosten?“
„Den Tagessatz für Unterkunft, Verpflegung und Kleidung, die wir den Kindern angedeihen lassen. Bevor die Kinder Grangeford verlassen dürfen, müssen Sie die Kosten bezahlen.“
„Wie hoch sind diese Kosten?“
Die Heimleiterin blätterte in der aufgeschlagenen Akte und rechnete die Summe auf einem Zettel aus. Dann drehte sie den Zettel um und schob ihn Laura über den Schreibtisch zu. „Das ist der Betrag.“
Laura konnte nur mühsam ein Stöhnen unterdrücken. „Das ist ja Wucher!“
„Das sind die Kosten für ein Mädchen. Sie müssen diese Zahl verdoppeln, wenn Sie beabsichtigen, Ihre beiden Schwestern mitzunehmen.“
Laura wurde schwer ums Herz. Wie konnte man von ihr erwarten, eine so hohe Summe zu zahlen? Sie hatte keine Ersparnisse und keine Ahnung, wer ihr so viel Geld leihen könnte. Und was war mit Garth? Wenn sie ihn auch aus dem Heim holen wollte, müsste sie diese Summe verdreifachen.
„Ich weise Sie darauf hin, dass sich die Kosten mit jedem Tag, den die Kinder in unserer Obhut bleiben, weiter erhöhen.“
Lauras Brustkorb zog sich zusammen. Das war so unfair! Warum berechnete eine wohltätige Einrichtung Familien so viel Geld für die Betreuung ihrer Kinder? Es musste doch eine Möglichkeit geben, diese Regel zu umgehen.
Laura zwang ihre Stimme, ruhig zu bleiben. „Wenn Sie von unserer Situation hören, machen Sie bestimmt eine Ausnahme. Unser Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er erlag den Verletzungen, die er sich bei einem Eisenbahnunglück zugezogen hatte. Unsere Mutter arbeitet seitdem als Näherin. Mein Bruder arbeitet nach der Schule als Botenjunge für einen Metzger, und ich arbeite als Kammerzofe. Wir tun unser Möglichstes, um unsere Familie über Wasser zu halten. Und wir kümmern uns gut umeinander. Aber leider wurde unsere Mutter vor einigen Wochen krank und musste ins Krankenhaus. Deshalb kann sie im Moment nicht arbeiten.“
„Miss McAlister, jedes Kind in diesem Heim hat eine schwere, traurige Geschichte. Deshalb sind die Kinder ja hier in Grangeford. Ihre Situation bildet keine Ausnahme. Wir haben Regeln und Bestimmungen zum Schutz der Kinder aufgestellt, und an diese Regeln muss sich jedes Kind und jede Familie halten.“
„Ja, das verstehe ich. Aber ich bin bereit, die Verantwortung für meine Geschwister zu übernehmen. Sie können den kostbaren Platz in Grangeford anderweitig vergeben. Ich werde mich um sie kümmern und für sie sorgen.“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen wollte, aber sie musste versuchen, diese Frau zu überzeugen.
Die Heimleiterin schürzte die Lippen. „Wie ich schon sagte: Ich kann Ihnen die Kinder nicht aushändigen, solange Sie mir keinen Beweis vorlegen, dass Sie Vormund der Kinder sind und dass Sie in der Lage sind, sie zu versorgen. Außerdem müssen Sie erst die angelaufenen Unterbringungskosten begleichen. Sind Sie dazu heute in der Lage?“
Laura rutschte auf ihrem Stuhl vor. „Nein, das bin ich nicht. Aber es muss doch eine andere Möglichkeit –“
„Es gibt keine andere Möglichkeit, Miss McAlister!“ Die Heimleiterin klappte die Akten zu und stand auf. „Sie dürfen Ihren Geschwistern schreiben, aber das ist der einzige Kontakt, der erlaubt ist. Entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe dringende Aufgaben zu erledigen.“
Laura stand mit hämmerndem Herzen auf. „Bitte, Mrs Stafford, ich will sie doch nur sehen!“
„Guten Tag, Miss McAlister.“ Die Heimleiterin schritt an Laura vorbei und verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Lauras Gesicht glühte, und ihre Hände zitterten. Warum waren Regeln und Bestimmungen wichtiger als der Zusammenhalt einer Familie?
Laura hob ihren Schirm auf und trat auf den Flur hinaus. Mrs Stafford glaubte vielleicht, sie hätte das letzte Wort, aber Laura würde nicht aufgeben! Sie würde einen Weg finden, Katie und Grace trotz der hartherzigen Entscheidung der Heimleiterin und derer unbeugsamen Regeln zu sehen. Und sie wollte dafür sorgen, dass sie keinen Tag länger als nötig in dieser kalten, unpersönlichen Einrichtung bleiben mussten.
Sie schob die Haustür auf und trat hinaus. Ein feuchter Nebel hing über der Erde, und vom grauen Himmel fiel immer noch kalter Regen. Sie spannte ihren Schirm auf und marschierte über den Schotterweg zum Tor.
Wie konnte man eine Vormundschaft beweisen? Wahrscheinlich brauchte sie dafür ein offizielles Dokument. Konnte sie selbst ein solches Dokument verfassen oder brauchte sie dazu die Hilfe eines Anwalts?
Ihr fiel Andrew Frasiers Angebot ein, ihr zu helfen. Sie steckte die Hand in die Manteltasche und tastete nach seiner Visitenkarte.
Sollte sie Kontakt zu ihm aufnehmen? Würde er ihren Fall übernehmen? War es überhaupt fair, ihn um seine Hilfe zu bitten, wenn sie kein Einkommen und kein Zuhause für ihre Geschwister hatte? Sie schüttelte den Kopf. Er war Anwalt, aber Wunder konnte auch er nicht vollbringen. Er konnte nicht einfach mit den Fingern schnippen und diese Probleme lösen. Sie musste jemand anderen finden, der ihr helfen konnte, ohne eine finanzielle oder anderweitige Bezahlung von ihr zu erwarten.
Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihre Geschwister aus dem Heim zu holen. Sie würde nicht ruhen, bis sie alle drei sicher in ihrer Obhut hatte.
Katie huschte geräuschlos durch die Seitentür aus dem Haus und lief die Steinstufen hinab. Der Mond warf lange Schatten auf das Gras. Ein kalter Wind pfiff unter den Dachtraufen und erzeugte unheimliche Töne, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Falls jemand sie um diese Uhrzeit hier draußen entdeckte, bekäme sie große Probleme. Sie blieb im Schatten und schlich mit vorsichtigen, leichtfüßigen Schritten um die Seite des Gebäudes herum.
Diese Stunde, bevor das Licht ausgemacht wurde, war die einzige freie Zeit, die sie am Tag hatte. Die meisten Mädchen lagen auf ihren Betten und lasen oder unterhielten sich mit ihren Freundinnen. Sie hatte gesagt, sie müsse auf die Toilette, und war dann die Treppe hinabgeschlichen und durch die Seitentür ins Freie gehuscht.
Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, dann lief sie über den Rasen auf den Schuppen zu und hoffte, eine Nachricht von Garth vorzufinden. Sie nahm eine leere Kiste, die neben dem Schuppen lehnte, und schleppte sie zur hinteren Wand. Mit einem stummen Gebet zum Himmel kletterte sie hinauf und tastete das Astloch ab. Ihre Finger ertasteten ein zusammengefaltetes Papier. Sie zog es heraus und hielt es ins helle Mondlicht.
Liebe Katie,
ich hoffe, diese Nachricht erreicht Dich rechtzeitig. Sie haben mich auf die Liste für Kanada gesetzt. Ich nehme den Platz eines anderen Jungen ein, der die medizinische Untersuchung nicht bestanden hat.
Katie blinzelte und starrte die Worte an. Garth ging nach Kanada? Das konnte doch nicht sein! Wie konnte er auch nur daran denken, sie und Grace allein zu lassen? Sie hatte einige Mädchen gehört, die von Freundinnen im Heim erzählten, die nach Kanada geschickt worden waren. Aber sie hatte nicht verstanden, was das bedeutete. Warum wurden sie weggeschickt? Was hatten sie angestellt?
Ich habe ihnen gesagt, dass Mama mich aus dem Heim holen wird und dass ich deshalb nicht auf diese Liste gesetzt werden will. Aber Mr Gumblich, der Betreuer der Jungen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie mich nicht aus dem Heim holen wird. Ich will nicht glauben, dass Mama tot ist, aber was sollte er sonst gemeint haben?
Katies Herz stockte, und ihr wurde so schwindelig, dass sie fast von ihrer Kiste fiel. Sie musste sich am Zaun festhalten. Mama holte sie nicht aus dem Heim? Sie war tot? Wie konnte das sein? Würde man es ihr nicht sagen, wenn Mama gestorben war? Würde sie das nicht irgendwie spüren? Sie senkte den Blick und las den Rest, obwohl sie Mühe hatte, Garths Worte zu begreifen.
Hast Du etwas von Mama gehört? Seit die Grahams sie ins Krankenhaus gebracht haben, sind fast zwei Wochen vergangen. Warum sagt uns niemand, was los ist? Ich dachte, dass Laura herkommen würde oder dass uns wenigstens Mrs Graham eine Nachricht schickt, wie es Mama geht, aber ich habe nichts gehört. Bitte schreib mir, was Du weißt.
Sie sagen, dass es am Dienstag losgeht. Zuerst bringen sie uns in ein Kinderheim in Liverpool, wo wir uns auf die Überfahrt vorbereiten. Ich habe keine Ahnung, wie lange das dauern wird. Danach komme ich zusammen mit einer Gruppe Jungen auf ein Schiff und fahre nach Kanada. Ich habe Mr Gumblich gefragt, ob sie auch Mädchen mitnehmen, und er hat Ja gesagt. Ich finde, Du solltest versuchen, mit Grace auch auf diese Liste zu kommen. Damit wir alle zusammen fahren können.
Katie hielt sich die Hand an den Mund, um nicht laut zu weinen. Garth wollte, dass sie darum bat, nach Kanada geschickt zu werden? Das war verrückt! Sie wollte nicht übers Meer fahren! Selbst wenn Mama sie nicht aus dem Heim holen konnte, würde bestimmt Laura kommen. Ihre Schwester würde sie nicht auf Dauer hierlassen. Katie schüttelte den Kopf und las weiter.
Sie sagen, dass Kanada ein wunderschönes Land mit viel freier Natur ist. Dort wohnen Familien, die Jungen und Mädchen bei sich aufnehmen, damit diese ihnen auf ihrer Farm oder im Haushalt helfen. Mr Gumblich sagt, das sei eine echte Chance, und ich solle froh sein, dass ich den Platz dieses Jungen einnehmen kann. Er sagt, einige bezeichnen die Fahrt nach Kanada als goldene Brücke. Wir könnten uns dort ein neues Leben aufbauen.
Aber ich muss ständig an Mama und unser Leben hier in London denken. Seit Papa gestorben ist, war es schwer, aber wir waren wenigstens zusammen und haben uns immer umeinander gekümmert. Es tut mir leid, dass ich versucht habe, Brot zu stehlen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich damit diese schreckliche Kette an Ereignissen lostrete. Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen und es anders machen könnte! Aber das kann ich nicht.
Ich wünschte, ich könnte mit Dir sprechen. Ich muss wissen, ob ihr mit nach Kanada kommt. Irgendwie müssen wir einen Weg finden, zusammenzubleiben, egal was kommt.
Bitte schreibe mir. Ich bin nur noch vier Tage hier in Grangeford. Ich brauche Deine Antwort, bevor ich fahre!
Liebe Grüße von Deinem Bruder Garth
Heiße Tränen raubten ihr die Sicht, sodass sie diesen letzten Teil des Briefes kaum richtig lesen konnte. Garth verließ Grangeford und ging nach Kanada, um dort ein neues Leben anzufangen. Mama war tot und würde sie nicht aus dem Kinderheim holen.
Ihre Schultern sackten nach unten, sie senkte den Kopf und ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Oh Herr, was soll ich nur machen? Ich kann mir nicht vorstellen, England zu verlassen und so weit weg zu gehen. Ich weiß mir keinen Rat.
Ein kleines Licht tauchte links von ihr auf und bewegte sich schwankend auf sie zu.
Katie starrte regungslos die Laterne an, denn etwas anderes konnte das Licht nicht sein.
„Junges Fräulein, was machst du so spät allein hier draußen in der Dunkelheit?“
Katies Herz hämmerte wie wild. „Wer … wer sind Sie?“
„Charlie Peterson.“ Er hob die Laterne so hoch, dass das Licht sein faltiges Gesicht beschien. „Ich bin hier der Hausmeister und Nachtwächter. Und wer bist du?“
„Katie … Katie McAlister.“
„Nun, Miss Katie, du solltest von dieser Kiste heruntersteigen und mit mir kommen.“ Als sie sich nicht rührte, musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Hast du mich gehört, Mädchen?“
Sie erwachte aus ihrer Benommenheit und stieg von der Kiste. Dabei drückte sie die Nachricht von Garth immer noch an ihre Brust. Zweifellos würde sie bestraft werden, weil sie sich ohne Erlaubnis aus dem Haus geschlichen hatte.
Sein Blick fiel auf die Nachricht in ihrer Hand, und er runzelte die Stirn. „Schreibst du den Jungen Briefe?“
„Nein! Ich meine ja, aber nur meinem Bruder, Garth. Wir sind Zwillinge. Und sie lassen uns nicht miteinander sprechen.“
„Das ist wirklich traurig.“ Er deutete zum Haus. „Komm am besten mit mir.“
Sie seufzte resigniert und folgte ihm. Was sollte sie der Heimleiterin sagen, wenn Mr Peterson sie zu ihr brachte? Aber er ging am Haupteingang vorbei, marschierte zur Rückseite des Gebäudes und führte sie eine Treppe hinab. Unten angekommen schob er die Tür auf und forderte sie mit einer Handbewegung auf einzutreten.
Sie kam seiner Aufforderung nach, und gemeinsam gingen sie den Gang entlang und betraten ein kleines Zimmer mit einem Kamin, in dem ein Feuer brannte. Eine Petroleumlampe stand auf einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Das einzige andere Möbelstück im Zimmer war ein Schreibtisch in einer Ecke, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten.
„Setz dich und erzähl mir deine Geschichte.“ Er zog einen Stuhl für sie heraus.
„Meine Geschichte?“
„Ja. Warum du hier bist und was mit deinem Bruder ist. Du hast gesagt, er heißt Garth?“
„Ja, Sir.“ Katie setzte sich auf den alten Holzstuhl vor dem Kamin. Mr Peterson gab ihr eine Tasse Tee, und sie erzählte ihm erst zögernd, dann aber immer mutiger, was passiert war und wie sie in Grangeford gelandet waren.
Der alte Mann saß ihr gegenüber, er nickte hin und wieder und fragte an einigen Stellen nach. Aber die meiste Zeit hörte er ihr nur aufmerksam zu und beobachtete sie mit einem sanften Leuchten in seinen grauen Augen. Schließlich sagte er: „Es tut mir leid, das von deiner Mutter zu hören. Ich habe meine Mutter verloren, als ich ungefähr in deinem Alter war. Ich kann mir also vorstellen, wie schwer das für dich sein muss.“
Katie schluckte und hatte Mühe, nicht zu weinen. Sie hatte kaum Zeit gehabt, darüber nachzudenken, aber die freundlichen Worte des alten Mannes linderten diesen schrecklichen Schmerz in ihrer Brust ein wenig. Es war lange her, dass sich jemand nach ihrer Familie erkundigt und ihr wirklich zugehört hatte.
Mr Peterson schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein und rührte einen Löffel Zucker hinein. „Also, Miss Katie, es klingt, als müsstest du eine Entscheidung treffen. Und als bliebe dir dafür nicht viel Zeit. Wirst du fragen, ob du auf die Liste nach Kanada gesetzt werden kannst?“
„Ich will nicht so weit von zu Hause weg.“ Aber hatte sie jetzt, da Mama tot war und ihr Bruder fortgeschickt wurde, wirklich noch ein Zuhause?
„Hast du noch andere Angehörige, die dich zu sich nehmen könnten?“
Katie schaute ins Feuer. „Ich habe eine ältere Schwester. Aber sie arbeitet als Kammerzofe auf einem Anwesen nördlich von London.“
„Weiß sie, dass du hier bist?“
„Eine Freundin unserer Mutter hat gesagt, dass sie ihr schreiben will. Aber seit wir hier sind, haben wir weder von ihr noch von dieser Freundin etwas gehört.“
„Dann schlage ich vor, dass du ihr selbst schreibst.“ Er stand auf, ging auf die andere Seite des Zimmers und öffnete die oberste Schreibtischschublade. Nachdem er einige Sekunden darin gekramt hatte, holte er Papier und einen Füller heraus und kam zum Tisch zurück. „Hier hast du, was du brauchst. Und wenn du schon dabei bist, kannst du deinem Bruder auch gleich schreiben. Ich werde dafür sorgen, dass er deinen Brief bekommt.“ Er hob den Finger. „Aber du musst mir versprechen, dass du nicht mehr nachts draußen herumschleichst und Nachrichten durch den Zaun schmuggelst.“
Katie nahm den Füller und das Papier und schaute ihm in die Augen.
„Gibst du mir dein Wort, Mädchen?“
„Ja, Sir.“ Sie hielt den Füller über das Papier und überlegte, wem sie zuerst schreiben wollte. Aber dann hob sie traurig den Kopf. „Ich habe kein Geld für Briefmarken.“
Sein Lächeln kehrte zurück, und kleine Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. „Keine Sorge. Den Brief an deinen Bruder überbringe ich persönlich, und für den anderen kaufe ich eine Briefmarke. Schreib jetzt einfach deinen Brief. Du solltest dich beeilen. Es ist bald Schlafenszeit, und du willst bestimmt nicht, dass die Heimleiterin ihre Runde dreht und dein Bett leer vorfindet. Wenn du nicht da bist, glaubt sie womöglich, du wärst weggelaufen, und holt die Polizei.“ Seine Augen funkelten belustigt.
An einem anderen Abend hätte sie bei der Vorstellung, dass die Heimleiterin so übertrieben reagieren und eine panische Suche starten würde, wenn sie Katies Bett leer vorfände, vielleicht gelächelt oder sogar lauthals gelacht. Aber die schmerzliche Nachricht über ihre Mutter, die sie bekommen hatte, raubte ihr die Kraft für eine unbeschwerte Reaktion.
Sie biss sich auf die Lippe und starrte das leere Blatt Papier an. Jetzt, da sie Papier und Füller hatte und der Mann sogar versprochen hatte, eine Briefmarke zu kaufen und dafür zu sorgen, dass ihre Briefe ankamen, wusste sie nicht, was sie schreiben sollte. Ihr Kopf war voller Fragen, aber auf keine hatte sie eine Antwort.
Sollte sie Garth versprechen, dass sie versuchen würde, eine Möglichkeit zu finden, auch nach Kanada zu fahren? Würde Laura ihren Brief rechtzeitig bekommen, und könnte Katie ihre Schwester überreden, sie aus dem Heim zu holen, bevor ihr und Grace keine andere Wahl bliebe, als mit Garth über den Ozean zu segeln?