Читать книгу Weiter als der Ozean - Carrie Turansky - Страница 9

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Andrew warf den Tennisball in die Luft und holte mit seinem Schläger kräftig aus. Der Ball flog über das Netz und schlug knapp innerhalb der Spielfeldlinie auf. Es tat gut, wieder in London zu sein und die Gesellschaft seines Freundes und Mentors zu genießen.

Henry Dowd machte einen Ausfallschritt und schlug den Ball zurück. Andrew sprang vor, nahm den Ball volley aus der Luft und lupfte ihn knapp über das Netz.

Henry zögerte einen Moment zu lange, bevor er nach links lief und mit seinem Schläger ausholte. Er verfehlte den Ball um mindestens fünf Zentimeter. Stöhnend schüttelte er den Kopf. „Guter Schlag, Andrew. Du hast gewonnen.“ Er trabte über das Feld, hob den Ball auf und marschierte dann auf das Netz zu.

„Ein gutes Spiel.“ Andrew schüttelte Henry die Hand.

Sein Freund verzog das Gesicht. „Es war eindeutig nicht mein bestes.“

„Normalerweise lässt du mich nicht so hoch gewinnen.“ Andrews Grinsen verblasste. „Du wirkst ein wenig abgelenkt. Ist alles in Ordnung?“

Henry legte den Schläger auf seine Schulter. „Schieben wir es darauf, dass ich in Gedanken ein wenig woanders bin.“

„Wo bist du in Gedanken?“ Andrew sammelte zwei weitere Bälle ein und ging zur Seite des Spielfelds. Er folgte Henry durch das Tor und in den Schatten der großen Zeder.

Henry deutete mit dem Kopf zu der Bank unter dem Baum. „Setzen wir uns.“

Sie schlenderten auf die Bank zu, und Andrew warf Henry einen fragenden Blick zu. Ihre gemeinsame Reise nach Italien hatte ihre Beziehung vertieft. Sie waren jetzt nicht mehr nur Kollegen, sondern auch Freunde. Obwohl Henry zehn Jahre älter war als Andrew, hatten sie einen ähnlichen Hintergrund und gemeinsame Interessen, die ihre Freundschaft festigten.

Henry setzte sich auf die Holzbank. „Gleich nach unserer Rückkehr aus Italien habe ich einen Brief von Reginald Hayworth erhalten.“

Andrew setzte sich neben ihn. „Ist der nicht Ministerialrat im Innenministerium?“

„Ja. Er hat auch engen Kontakt zur Königsfamilie, wodurch er viel Einfluss genießt.“

„Worum geht es in dem Brief?“

„Offenbar hat Richard Jansen einen Schlaganfall erlitten und kann seine Untersuchung bezüglich der Kinderemigration nicht fortsetzen. Hayworth will, dass ich seinen Platz einnehme. Er hat mir ein dickes Paket Dokumente und Informationen geschickt, die Jansen bereits zusammengetragen hat.“

Andrew nickte nachdenklich. „Ja, ich weiß Bescheid über die Kinderemigration. Unsere Familie unterstützt seit einigen Jahren die Arbeit von Dr. Barnardo.“ Wenigstens er und seine Mutter taten das. „Was ist der Anlass für die Untersuchung?“

„Es gibt seit Jahren Kontroversen zwischen den Befürwortern und den Gegnern dieses Verfahrens.“

„Es überrascht mich, dass jemand dagegen ist. Ich habe immer gehört, dass sowohl Kanada als auch Großbritannien von der Kinderemigration profitieren. Wir holen die mittellosen Waisen aus den Armenhäusern und von den Straßen und ermöglichen diesen Kindern eine Chance auf ein besseres Leben. Und Kanada profitiert davon, da dadurch die Bevölkerung des Landes wächst.“

„Das war auch meine Meinung. Aber etliche unglückliche Vorkommnisse in Kanada haben dazu geführt, dass einige, darunter Ihre Majestät Königin Alexandra diese Praxis infrage stellen.“

Andrew runzelte die Stirn. „Welche unglücklichen Vorkommnisse?“

„Manche Kinder verschwinden, andere werden von den Leuten, die sie aufgenommen haben, vernachlässigt oder misshandelt.“ Henrys Stirn zog sich in Falten. „Ich fürchte, die Kinderemigration hat auch eine dunkle Seite, die von denen, die davon profitieren, verschwiegen wird.“

„Wie meinst du das?“

„Unsere Regierung zahlt den Organisationen, die die Kinder aussenden, zwei kanadische Dollar pro Kind. Kanada steuert noch einmal den gleichen Betrag bei. Die Aufnahmeheime berechnen den Familien, die ein Kind aufnehmen wollen, ebenfalls eine Gebühr. Wenn man dieses Geld mit der Anzahl der Kinder, die nach Kanada emigrieren, multipliziert, sprechen wir von einer beträchtlichen Summe.“

Andrew nickte ernst. „Gab es nicht früher schon einmal eine staatliche Untersuchung? Ich glaube mich zu erinnern, dass ich im Zusammenhang mit meinen juristischen Studien mal etwas darüber gelesen habe.“

Henry nickte. „Vor ungefähr dreißig Jahren wurde ein gewisser Andrew Doyle beauftragt, die Sache zu untersuchen und einen Bericht über seine Untersuchungen zu schreiben. Er ist nach Kanada gefahren und hat mehrere Aufnahmeheime und einige Kinder, die in Familien untergekommen waren, besucht. Als der Bericht veröffentlicht wurde, löste das einigen Wirbel aus.“

„Zu welchem Ergebnis ist Doyle gekommen?“

„Er sah die ganze Sache sehr kritisch – sowohl die Leute, die die Kinder verschickten, als auch das ganze Prozedere. Er vertrat den Standpunkt, dass das Programm den Kindern nicht guttut und mehr Schaden anrichtet, als Gutes zu bewirken. Der Staat solle die Kinderemigration verbieten, war seine Empfehlung, oder wenigstens deutliche Veränderungen am Verfahren vornehmen.“

„Was waren seine Hauptbedenken?“

„Er schrieb, dass die Aufnahmeheime genauer überprüft werden müssten, und verlangte ein besseres Kontrollsystem für die Betreuung der Kinder innerhalb der Familien.“

„Und wurden diese Vorschläge umgesetzt?“

Henry schüttelte den Kopf. „Anfangs haben einige Organisationen Schritte eingeleitet, um die Situation zu verbessern, aber soweit ich weiß, wurde nicht viel geändert. Die Zahl der Kinder, die nach Kanada geschickt wurden, steigt seitdem stetig an. Ich fürchte, in den meisten der besorgniserregenden Punkte hat sich nichts verbessert. Deshalb wurde Hayworth gebeten, eine offizielle staatliche Untersuchung in die Wege zu leiten.“

Andrew strich mit dem Finger über seinen Tennisschläger und dachte über Henrys Worte nach. „Ich habe Dr. Barnardo sprechen gehört und eine Darbietung einiger Kinder, die er betreute, gesehen. Es war recht beeindruckend. Besonders wenn man bedenkt, dass die meisten dieser Kinder auf der Straße gelebt hatten, bevor sie in Heime aufgenommen wurden.“

„Dr. Barnardo war bis zu seinem Tod der unumstrittene Kopf der Kinderemigration, aber er war nicht der Einzige, der Kinder nach Kanada schickte. Anscheinend wurden schon mehr als fünfzigtausend Kinder ins Ausland gebracht.“

Andrew sah seinen Freund erstaunt an. „Mir war nicht bewusst, dass die Zahl so hoch liegt.“

„Ja, es ist eine überraschend hohe Zahl, aber die Kinderemigration wird schon seit vielen Jahren betrieben. Ich glaube, Dr. Barnardo selbst hat die ersten Kinder Anfang der 1880er-Jahre nach Kanada geschickt. Und er selbst trat damit in die Fußstapfen von Annie MacPherson, Maria Rye und einigen anderen.“

„Das klingt, als gäbe es dieses Verfahren schon eine ganze Weile.“

Henry nickte. „Ich habe mich in das Thema eingelesen. Ich glaube, die Leute, die damit anfingen, verfolgten gute Absichten, und das gilt wahrscheinlich auch heute noch für die meisten. Aber diese Praxis hat riesige Ausmaße angenommen, und angesichts der hohen Zahl an Kindern, die emigrieren, kann man sich leicht vorstellen, dass dabei manche durch das Raster fallen und ein trauriges Schicksal erleben.“

Andrew wurde ernst. Waren dies Einzelfälle oder litten Hunderte oder gar Tausende Kinder, weil es keine geeigneten Richtlinien und keine Kontrollen gab?

„Und wirst du die Untersuchung übernehmen, Henry?“

„Es ist eine wichtige Aufgabe. Jemand muss die Sache untersuchen und einen fairen und unvoreingenommenen Bericht schreiben. Diese Person muss ungebunden sein, um reisen und in diesem Frühling und Sommer eine gewisse Zeit in Kanada verbringen zu können.“ Henry legte seinen Tennisschläger auf seine Knie. „Ich bin bereit, diesen Auftrag zu übernehmen, aber ich hätte gern deine Unterstützung.“

Andrew versuchte, in der Miene seines Freundes zu lesen. „Du willst, dass ich dich begleite?“

„Ja. Ich denke, wenn wir es gemeinsam anpacken, können wir viel effizienter arbeiten. Wir müssen einige Kinderheime hier in London und in Liverpool besuchen, bevor wir nach Kanada fahren, um Informationen zu sammeln und die dortige Situation zu bewerten. Nach unserer Rückkehr müssen wir unsere Ergebnisse in einem Bericht zusammenfassen und Empfehlungen abgeben. Hoffentlich sind wir bis zum Ende des Sommers damit fertig.“

Andrew schmunzelte. „Das ist alles?“

„Auf uns kommt viel Arbeit zu. Ich schätze, dass wir hier alles Notwendige regeln und in zwei bis drei Wochen nach Kanada aufbrechen können.“

„Du denkst, wir können alle nötigen Reisevorkehrungen so rasch treffen?“

„Ich beauftrage Phillips noch heute, alles Nötige in die Wege zu leiten.“ Jetzt war es an Henry, erwartungsvoll zu schauen. „Und? Was sagst du?“

Andrew überlegte einen Moment. „Das klingt nach einer spannenden Herausforderung. Du weißt, dass ich gern reise. Kanada wollte ich schon immer einmal sehen.“

Henry zog eine Braue hoch. „Ich dachte, du würdest sagen, dass du schon immer ein Herz für Kinder und für die Armen hattest.“

Andrews Gesicht begann zu glühen. „Ja, Gerechtigkeit auch für die Armen – das ist mir ein großes Anliegen. Und für die Kinder ganz besonders.“

Henry klopfte ihm auf die Schulter. „Das weiß ich doch. Ich habe nur getestet, ob ich dich ein wenig aus der Fassung bringen kann.“ Sein Grinsen verblasste. „Aber jetzt im Ernst: Das ist ein sehr wichtiger Auftrag. Wir werden der Regierung gegenüber verantwortlich sein. Und was noch wichtiger ist: Wir müssen uns vor unserem Herrn im Himmel verantworten. Wir müssen fest entschlossen sein, unser Bestes zu geben, und unsere Arbeit im Gebet Gott hinlegen.“

„Ja, natürlich.“

„Dann sollten wir sofort damit anfangen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte Henry den Kopf.

Andrew senkte ebenfalls schnell den Kopf. Er fühlte sich immer noch nicht ganz wohl damit, dass sein Freund die Angewohnheit hatte, in den ungewöhnlichsten Momenten laut zu beten. Aber er schätzte Henrys ehrlichen Glauben und sein Bestreben, auch im Alltag Gottes Führung zu suchen.

„Vater, wir kommen vertrauensvoll zu dir. Unsere Herzen und Gedanken sind auf diesen neuen Auftrag gerichtet, die Kinderemigration zu untersuchen. Wir wissen, dass du alle Probleme und alle Menschen, die daran beteiligt sind, genau kennst. Wir wissen, dass dir die Armen am Herzen liegen und dass du einen besonderen Platz in deinem Herzen für Waisen und verlassene Kinder hast. Bitte sorge dafür, dass sie uns auf dieselbe Weise am Herzen liegen. Führe uns und zeige uns die Wahrheit. Hilf uns, die Situation deutlich zu sehen und zu erkennen, was wir in unseren Bericht aufnehmen und was wir empfehlen sollen. Wir bitten dich, dass du unsere Reise segnest, und geben uns in deine Hände. Um das alles bitten wir dich im Namen von Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.“

„Amen“, schloss sich Andrew dem Gebet seines Freundes an und hob dann wieder den Kopf.

Henry legte Andrew die Hand auf die Schulter. „Mein Freund, das ist eine große Verantwortung – aber es könnte auch ein großes Abenteuer werden.“

Andrew erwiderte sein Lächeln. „Das sehe ich auch so. Ich bin bereit.“

Katie holte tief Luft und zwang sich, die Worte auszusprechen. „Ich will nach Kanada.“

Mrs Staffords Brauen hoben sich. „Wir schicken normalerweise nur unsere besten Mädchen nach Kanada. Sie müssen gehorsam und fleißig sind. Würdest du dich so beschreiben?“

Katies Wangen begannen zu glühen. „Ja, Madam. Ich bemühe mich.“ Gott sei Dank hatte Mr Peterson der Heimleiterin nicht verraten, dass sie sich in der Dunkelheit aus dem Haus geschlichen hatte, um Garth zu treffen. Über den Schreibtisch hinweg sah sie Mrs Stafford offen die Augen.

Die Frau schürzte die Lippen und las in der Akte, die sie vor sich aufgeschlagen hatte, als würde sie sie das erste Mal sehen. „Erzähl mir von deiner Familie.“

Ein Kloß bildete sich in Katies Kehle, und sie musste schwer schlucken, bevor sie sprechen konnte. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter tot war. Es tat so weh, auch nur daran zu denken. „Meine Eltern waren gute Menschen. Sie waren sehr freundlich und hilfsbereit. Papa arbeitete als Zimmermann. Er baute Häuser und renovierte Gebäude. Mama kümmerte sich um den Haushalt und die Familie, bis Papa starb. Dann mussten wir umziehen, und Mama begann, in einer Schneiderei zu arbeiten. Aber sie lebt jetzt auch nicht mehr, und wir sind auf uns allein gestellt.“

Mrs Stafford runzelte die Stirn und las die Akte. „Deine beiden Eltern sind tot?“

Katie schluckte wieder und nickte.

„Und deine Geschwister?“

„Mein Zwillingsbruder Garth ist im Jungenheim nebenan, und Grace, meine kleine Schwester, ist hier bei mir. Wir haben eine ältere Schwester, Laura. Sie arbeitet als Kammerzofe auf einem Anwesen in der Nähe von St. Albans.“ Ihre Enttäuschung schmerzte so sehr, dass ihre Stimme fast versagte. „Aber sie kann nicht für uns sorgen.“

„Verstehe.“ Die Heimleiterin tauchte ihre Feder in die Tinte und schrieb etwas in die Akte. Dann sagte sie: „Erkläre mir, warum du nach Kanada willst.“

„Garth hat gesagt, dass er bald nach Kanada fährt. Deshalb wollen Grace und ich auch nach Kanada, damit wir zusammenbleiben können.“

Mrs Stafford klappte die Akte zu und betrachtete Katie. „Du scheinst gesund zu sein, und du siehst nicht allzu schlecht aus, auch wenn du für dein Alter ziemlich klein bist.“ Die Heimleiterin musterte sie noch einmal. „Wirklich schade, dass du keine blauen Augen hast.“

Katie verkrampfte die Hände hinter dem Rücken und bemühte sich, sich von diesen Worten nicht verletzen zu lassen, aber sie trafen sie trotzdem. Sie würde nie so hübsch sein wie ihre Schwestern. Sie hatten beide wunderschöne blaue Augen und gewelltes blondes Haar. Katie hatte die braunen Augen ihres Vaters geerbt, und ihr Haar war eher rötlich als braun. Das war doch hoffentlich kein Hindernis, um nach Kanada zu kommen, oder doch?

Sie erwiderte den Blick der Heimleiterin. „Niemand kann etwas für seine Augenfarbe.“

„Ach, mach dir deshalb keine Sorgen, Kind. Es könnte trotzdem eine Familie geben, die dich aufnimmt.“

Katie bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Sie wollte die Frau nicht verärgern. Sie sollte sie nicht für launisch oder empfindlich halten.

„Der Bundesstaat Kanada gehört zu den wohlhabendsten Gebieten des Britischen Empires. Ein Land voller Chancen für Menschen, die bereit sind, fleißig zu arbeiten und verantwortungsbewusst und gehorsam zu sein.“ Mrs Stafford kniff die Augen zusammen. „Bist du dazu bereit, Katherine?“

„Ja, Madam. Ich habe meiner Mutter immer beim Kochen und Putzen geholfen und auf meine jüngere Schwester aufgepasst. Ich kann flicken und stricken, und ich habe nähen gelernt und beherrsche die nötigen Stiche, um Kleider und Hemden zusammenzunähen. Ich werde eines Tages bestimmt eine gute Näherin sein.“

Mrs Staffords Mundwinkel verzogen sich säuerlich. „Es schickt sich nicht, mit seinen Fertigkeiten zu prahlen. Warte, bis du gefragt wirst, ehe du deine Liste aufzählst.“

Erneut schoss eine spürbare Hitze in Katies Gesicht, und sie presste die Lippen zusammen.

„Merke dir, Katherine: Mit Demut kommst du viel weiter als mit Stolz.“

„Ja, Madam.“

„Der Himmel weiß, dass wir hier überfüllt sind.“ Die Heimleiterin blätterte noch einmal in Katies Akte und seufzte. „Wir haben vier Mädchen, die am Mittwoch nach Liverpool aufbrechen. Ich setze deinen Namen zu ihren auf die Liste.“

Katie beugte sich vor und umklammerte die Schreibtischkante. „Bitte, Madam, meine Schwester Grace muss auch mitkommen. Wir müssen zusammenbleiben.“

Die Heimleiterin zog eine andere Akte aus ihrer Schreibtischschublade. Mit gerunzelter Stirn überflog sie die erste Seite. „Grace ist erst sieben. Sie ist zu jung, um einer Familie eine große Hilfe zu sein.“

„Ich kümmere mich um sie. Sie wird niemandem zur Last fallen.“

Die Heimleiterin tippte mit den Fingern auf den Schreibtisch, während sie den Rest von Graces Akte las. Schließlich hob sie den Blick. „Also gut. Vielleicht gibt es eine Familie, die euch beide aufnimmt.“

Katie atmete erleichtert auf. „Danke, Madam. Ich verspreche, dass wir alles tun, was man uns aufträgt, und dass wir höflich und respektvoll sind. Hauptsache, wir können zusammenbleiben.“

Die Augen der Heimleiterin wurden einen Moment weicher, doch dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. „Ihr werdet das bestimmt schaffen. Mrs Hastings wird sich darum kümmern, dass ihr für die Fahrt nach Liverpool alles habt, was ihr braucht. Die Mitarbeiterinnen dort werden euch helfen, euch vorzubereiten und eure Sachen für die Überfahrt zu packen. Ihr dürftet schon sehr bald nach Kanada aufbrechen, um dort ein neues Leben zu beginnen.“ Sie klappte die Akte zu. „Du kannst gehen.“

„Danke, Madam.“ Katie drehte sich um und verließ das Büro. Sie hatte gemischte Gefühle. Doch Grace und sie mussten mit Garth nach Kanada fahren. Jetzt, da Mama und Papa tot waren, war das ihre einzige Chance. Laura hatte auf ihren Brief nicht geantwortet, und Mrs Graham schien sie ebenfalls vergessen zu haben.

Ihre Augen brannten, aber sie blinzelte die Tränen fort und stieg die Treppe hinauf, um ihre Schwester zu suchen. Als sie im oberen Schlafsaal ankam, entdeckte sie Grace, die neben ihrem Bett stand und sich das Haar bürstete.

Katie eilte zu ihr. „Ich habe mit der Heimleiterin gesprochen.“

Grace fuhr herum. „Hast du etwas von Mama gehört?“

Katie wurde das Herz schwer. Sie hatte ihrer Schwester die traurige Nachricht aus Garths letztem Brief noch nicht gesagt. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, diese schmerzhaften Worte laut auszusprechen. Grace liebte Mama so sehr. Wie sollte Katie ihr sagen, dass sie nie wieder ihre sanfte Stimme hören oder ihr liebevolles Lächeln sehen würden? Sie würde es ihr irgendwann sagen müssen, aber nicht heute.

Sie schüttelte den Kopf und ergriff Graces Hand. „Die Heimleiterin hat gesagt, dass wir nach Kanada fahren dürfen.“

Graces blaue Augen weiteten sich. „Aber was ist mit Mama? Macht sie sich keine Sorgen, wenn wir so weit wegfahren?“

Katie fuhr mit dem Daumen über Graces Hand und suchte nach den richtigen Worten, um ihre Schwester zu trösten. „Ich glaube, Mama würde wollen, dass wir drei zusammenbleiben. Und da Garth nach Kanada geht, sollten wir auch gehen.“

„Aber dann weiß Laura nicht, wo sie uns findet.“

Diese Worte trafen Katie wie ein weiterer Schlag in den Magen. Sie atmete tief ein, setzte sich aufs Bett und deutete auf die Decke neben sich. „Setz dich zu mir, Grace.“

Ihre kleine Schwester sank neben ihr aufs Bett.

„Laura hat auf meinen Brief nicht geantwortet. Und sie hat uns nicht besucht. Wahrscheinlich kann sie nicht weg, um nach London zu kommen. Und selbst wenn sie das könnte, könnte sie sich wahrscheinlich nicht um uns kümmern.“

Graces Kinn zitterte. „Aber Laura liebt uns.“

Katie nickte, obwohl sie das inzwischen bezweifelte. Dann zog sie Grace in ihre Arme.

Warum hatte Laura nicht auf ihren Brief geantwortet? Katie hatte ihrer Schwester geschildert, was mit Mama passiert war und wohin sie gebracht worden waren. Sie konnte das einfach nicht verstehen. Normalerweise schrieb Laura jede Woche und besuchte die Familie, sooft sie konnte. Sie hatten sich immer so nahegestanden. Wenigstens hatte sie das geglaubt.

Katie streichelte ihrer Schwester über den Rücken. Sie musste Grace jetzt trösten, da Mama tot war und Laura ihre Geschwister sich selbst überließ. Katie würde sich immer um Grace kümmern, egal was kam. „Alles wird gut werden“, sagte sie leise. „Die Heimleiterin sagt, dass Kanada ein schönes Land ist und dass wir dort gemeinsam bei einer Familie wohnen können.“

„Garth auch?“

Das hoffte Katie, aber ihre Zweifel wuchsen immer mehr. Und wenn sie an einen anderen Ort geschickt wurden als Garth? War die Entscheidung, nach Kanada zu gehen, ein riesengroßer Fehler? Sie hatten Papa und Mama verloren. Wie sollten sie ohne Garth überleben?

Sie schloss die Augen und schickte eine stumme Bitte zum Himmel. Bitte, Vater, pass auf uns auf, beschütze uns und hilf uns, eine Möglichkeit zu finden, wie wir zusammenbleiben können.

Laura schob Mamas Rollstuhl in den kleinen Garten hinter dem St.-Josef-Krankenhaus. Es tat so gut, die düstere Station und den Geruch von Desinfektionsmitteln wenigstens für ein paar Minuten hinter sich zu lassen.

Mama war immer noch schwach und konnte nur wenige Schritte gehen, aber Laura hatte die Krankenschwester um Erlaubnis gebeten, mit ihr in den Garten gehen zu dürfen, damit sie frische Luft schnappen konnte. Die Schwester hatte widerstrebend eingewilligt, solange Mama warm eingepackt war und Laura versprach, nicht zu lange mit ihr draußen zu bleiben.

Strahlen der Morgensonne fielen durch die großen Bäume am Rand des Gartens und warfen ein Schattenmuster auf den Steinweg.

Mama hob das Gesicht und schloss die Augen. „Es ist herrlich, die Wärme der Sonne wieder zu spüren. Und hörst du die Vögel?“

„Ja, hier draußen ist es wirklich schön.“ Laura schaute sich im Garten um und betrachtete den gewundenen Weg und die Glyzinien, die an den Mauern emporrankten und deren rötlich-violette Knospen bald blühen würden. Sie platzierte den Rollstuhl neben einer Holzbank am Rand des Weges und schlang die weiche Decke enger um Mamas Schoß. „Ist dir warm genug?“

„Ja, Liebes, mir geht es gut.“ Mama sah lächelnd zu Laura auf und ergriff ihre Hand. „Danke. Es tut so gut, dich hier zu haben.“

Laura drückte die Hand ihrer Mutter. „Ich bin froh, dass ich hier sein kann.“

„Konntest du Pfarrer Bush besuchen?“

„Ja, wir haben heute Morgen fast eine Stunde miteinander gesprochen.“ Laura setzte sich auf die Ecke der Bank. „Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der sich für unsere Geschichte interessiert.“

„Was hat er dir geraten?“

Laura wandte den Blick ab und suchte vorsichtig nach den richtigen Worten. „Er war sehr verständnisvoll, und ich soll dir ausrichten, dass er für dich betet. Aber die Vormundschaft muss vom Gericht festgelegt werden. Dabei kann er uns nicht helfen.“

Mamas Hoffnung sank sichtlich. „Das ist schade. Ich dachte, ein Brief von ihm könnte die Heimleiterin in Grangeford vielleicht dazu bewegen, dir die Kinder zu übergeben.“

Laura war auch enttäuscht, aber Pfarrer Bush hatte ihr klargemacht, dass sie nicht die volle Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen konnte. Solange sie nicht nach Bolton zurückkehrte oder eine neue Stelle fand, hatte sie kein Einkommen. Und sie konnte nicht erwarten, dass die Grahams ihre ganze Familie unbegrenzt bei sich aufnahmen und durchfütterten.

Sie verdrängte ihre Enttäuschung und konzentrierte sich wieder auf ihre Mutter. „Er hat versprochen, dass er versucht, mir zu helfen, eine neue Stelle zu finden. Dann kann ich meinen Lohn sparen, um eine Wohnung zu mieten und die Betreuungskosten in Grangeford abzuzahlen.“

Mama seufzte müde. „Ich verstehe nicht, warum sie uns für die Versorgung der Kinder Geld berechnen. Von einer wohltätigen Einrichtung würde ich etwas anderes erwarten. Sie müssen doch wissen, dass Eltern ihre Kinder nicht freiwillig in ein Heim geben.“

„Das sehe ich auch so, aber Pfarrer Bush hat mir versichert, dass sie dort gut versorgt werden, bis wir sie zu uns nach Hause holen können.“

Neue Hoffnung sprach aus Mamas graublauen Augen. „Du bleibst also in London?“

Laura nickte. „Ich denke, das ist das Beste.“

„Oh, danke, Liebes. Ich bin so froh. Wohnst du vorerst bei den Grahams?“

„Ja. Sie sind sehr entgegenkommend. Und Pfarrer Bush hat gesagt, dass ich ihn in drei Tagen wieder besuchen darf. Vielleicht hat er bis dahin von einer freien Stelle gehört. Er hat vorgeschlagen, dass ich in der Zeitung nach Stellenanzeigen suchen und mich bei einer Arbeitsvermittlung melden soll.“

Mama nahm Lauras Hand. „Das klingt nach einem vernünftigen Plan. Ich bete, dass du eine Stelle bei einer guten Familie findest.“

Lauras Magen zog sich zusammen. Sie hatte die Harringtons auch für eine gute Familie gehalten, bis deren Neffe aufgetaucht war und ihr das Leben schwer gemacht hatte. Wie konnte sie sicher sein, dass sie sich nicht wieder in eine gefährliche Situation begab?

„Deine Erfahrungen als Kammerzofe der Frasiers dürften dir bei der Stellensuche zugutekommen.“

„Das hoffe ich.“ Aber darauf konnte sie sich nicht verlassen. Hier in London gab es viel Konkurrenz. Vielleicht müsste sie wieder ganz unten anfangen, als Zimmermädchen oder vielleicht sogar als Küchenmädchen, aber das war egal. Sie würde jede Stelle annehmen, solange sie in London und in der Nähe ihrer Familie bleiben konnte.

Sie musste Mrs Frasier schreiben und ihr erklären, warum sie nicht nach Bolton zurückkommen konnte. Mrs Frasier war eine freundliche Person, und Laura hoffte, dass sie Verständnis zeigen würde. Aber wenn sie jetzt fristlos kündigte, brachte sie ihre Arbeitgeberin damit in eine unangenehme Situation. Hoffentlich verweigerte sie Laura nicht das Empfehlungsschreiben.

Und was würde Andrew Frasier von ihrer Entscheidung halten? Würde er glauben, dass sie die Situation ausgenutzt und das Geld seiner Familie genommen hatte, obwohl sie von Anfang an die Absicht gehabt hatte, nie nach Bolton zurückzukehren? Bei diesem Gedanken wurde ihr schwer ums Herz.

„Laura?“ Ihre Mutter legte den Kopf schief. „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Nein, entschuldige bitte.“

Mama lächelte. „Du hast ausgesehen, als wärst du in Gedanken kilometerweit weg.“

„Ich habe nur überlegt, dass ich den Frasiers schreiben muss, dass ich nicht nach Bolton zurückkomme.“

„Ja, das solltest du tun. Wenn du erklärst, dass dich deine Familie hier braucht, werden sie das sicher verstehen.“ Mamas Blick wanderte einen Moment durch den Garten, bevor er zu Laura zurückkehrte. „Vielleicht sollte ich der Heimleiterin von Grangeford schreiben.“

„Ich glaube nicht, dass sie die Kinder gehen lässt, solange wir die Unkosten nicht beglichen haben.“

„Sie gibt die Kinder vielleicht nicht heraus, aber ich könnte sie wenigstens bitten, dass du sie besuchen darfst. Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn du sie besuchen und ihnen versichern könntest, dass es mir schon wieder besser geht und dass wir sie bald nach Hause holen.“

Laura war nicht sicher, ob sich die Heimleiterin durch einen Brief zum Umdenken bewegen lassen würde, aber Mama würde es helfen, es wenigstens zu versuchen.

„Ich schreibe auch jedem der Kinder einen Brief“, beschloss Mama lächelnd. „Das muntert sie bestimmt auf.“

„Über einen Brief von dir werden sie sich sehr freuen.“

„Gut. Dann gehen wir wieder hinein und schauen, ob wir irgendwo Papier und einen Stift auftreiben können.“

Während Laura ihre Mutter durch den Garten zurückschob, wanderten ihre Gedanken zu Katie und Grace. Die Heimleiterin hatte gesagt, die Mädchen täten sich schwer, sich an die Abläufe in Grangeford zu gewöhnen. Was hatte sie damit gemeint? Konnte ein Kind an einem so kalten und düsteren Ort überhaupt glücklich sein?

Eine neue Entschlossenheit festigte sich in ihr. Sie würde noch einmal nach Grangeford fahren und Mamas Brief an die Heimleiterin mitnehmen. Vielleicht öffnete er ihr die Tür zu einem Besuch. Wenn nicht, könnte sie wenigstens dafür sorgen, dass ihre Geschwister einen aufmunternden Brief von ihrer Mutter bekamen und wussten, dass sie und Laura sie nicht vergessen hatten.

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