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2. Gesundheitsbeschädigung und körperliche Misshandlung [insbesondere: Halswirbelsäulen(HWS)-Schleudertrauma]

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Als Gesundheitsbeschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes zu verstehen, der auch ohne körperliche Misshandlung entstehen kann.[7] Eine körperliche Misshandlung ist eine üble, unangemessene Behandlung, durch die das Opfer in seinem körperlichen Wohlbefinden, wenn auch nicht unbedingt durch Zufügung von Schmerzen, so doch in mehr als nur unerheblichem Grade beeinträchtigt wird.[8] Gerade bei Unfällen mit nur leichten Verletzungen sollte sorgfältig geprüft werden, ob die unmittelbare körperliche Einwirkung „erheblich“, d.h. mehr als nur geringfügig, war. So stellt eine bloße Hautrötung aufgrund der Einwirkung des Sicherheitsgurts keine körperliche Misshandlung i.S.d. §§ 223, 229 StGB dar.[9] Auch bei leichten Prellungen kann die Erheblichkeit der körperlichen Einwirkung zu im Einzelfall zu verneinen sein.[10]

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In diesem Zusammenhang ist besondere Aufmerksamkeit auf die Fälle zu richten, in denen der (mutmaßlich) Geschädigte ein Halswirbelsäulen(HWS)-Schleudertrauma[11] behauptet. Die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Halswirbelsäule des Insassen eines angestoßenen Fahrzeugs ist proportional zum Ausmaß der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung. Je geringer die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ist, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit einer unfallbedingten Verletzung der Halswirbelsäule und umgekehrt.[12] Typische Schwierigkeiten beim Nachweis von HWS-Verletzungen sind bei der Verletzung I. Grades anzutreffen, die nach üblicher Definition gerade nicht mit bildgebenden Verfahren nachweisbar ist.[13] Eine Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München[14] ergab, dass in den Jahren 1978 bis Mitte 1992 183 Begutachtungen sog. zweifelhafter HWS-Schleudertrauma-Fälle zu folgendem Ergebnis führten: In 84 % der Fälle konnte kein HWS-Schleudertrauma eingetreten sein, in 10 % der Fälle war es nicht ausschließbar, aber sehr unwahrscheinlich, während lediglich in 6 % der Fälle ein HWS-Schleudertrauma für möglich gehalten wurde. Seitdem haben zahlreiche Entscheidungen[15] und Beiträge von Verkehrssachverständigen[16] zur Kausalitätsproblematik bei HWS-Syndromen die Annahme gestützt, dass relativ häufig ein HWS-Schleudertrauma behauptet wird, obwohl dies medizinisch nicht nachzuweisen ist, weil das subjektive Beschwerdebild nicht mit dem unfallbedingten, pathomorphologischen Befund korreliert. Es empfiehlt sich daher in geeigneten – zweifelhaften – Fällen möglichst frühzeitig eine eingehende interdisziplinäre sachverständige Prüfung,[17] bestehend aus einer verkehrstechnischen Analyse und einer orthopädisch/traumatologischen Begutachtung,[18] anzuregen. Dabei stehen die Ermittlung der Anstoßbeschleunigungen[19] über einen verkehrstechnischen Sachverständigen und sodann eine eingehende medizinisch-biomechanische Bewertung des Unfallablaufs, die einem medizinischen Sachverständigen vorbehalten ist, im Vordergrund. Man wird auch davon ausgehen müssen, dass der behandelnde Arzt keine Feststellungen zur Kausalität des Unfalles für ein Halswirbelsäulentrauma treffen kann, wenn seine Diagnose ausschließlich auf den Angaben des Verletzten beruhen.[20]

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Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass z.B. in Bayern das Fachgebiet der „Verletzungsmechanik“ zur öffentlichen Bestellung als Sachverständiger geschaffen wurde. Die Zulassungsvoraussetzungen setzen eine fundierte (universitäre) Ausbildung auf technisch/physikalischem und medizinischem Gebiet voraus.[21] Da derart qualifizierte Sachverständige in der Lage sind, die Verletzungsmechanismen unter qualitativer und quantitativer Beurteilung der mechanischen Belastungen als auch deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper vorzunehmen, reicht die Bestellung eines Sachverständigen zur Klärung eines problematischen HWS-Schleudertrauma-Falles aus. Allein eine biomechanische Begutachtung vermag eine medizinische Begutachtung grundsätzlich nicht zu ersetzen.[22] Die Feststellung einer HWS-Distorsionsverletzung ist nämlich eine medizinische Frage.[23] Der medizinischen Begutachtung kommt deshalb rechtlich ausnahmslos die sachverständige Letztentscheidung zu.[24] Aber: Die Feststellung eines HWS-Schleudertraumas ist zwar in erster Linie eine medizinische Frage, doch müssen vor Einholung eines medizinischen Gutachtens eine unfallanalytische und sodann eine biomechanische Begutachtung erfolgen. Biomechanische Gutachten sind zur Feststellung der Unfallfolgen nicht verzichtbar, da die biomechanische Beurteilung die Brücke zwischen den vom Unfallanalytiker berechneten Fahrzeugwerten und der medizinischen Begutachtung baut, die die ärztlich dokumentierten subjektiven Beschwerden und objektiven Befunde (klinische und bildgebende Untersuchungen usw.) zum Gegenstand hat.[25]

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Praxishinweis

Werden überflüssige Gutachten eingeholt, so kommt ggf. später eine Niederschlagung der Kosten hierfür in Betracht. Grundlage hierfür ist § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG, der vor allem gilt, wenn eine Berufung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels, welcher allein gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, erfolgreich ist. Es liegt dann nämlich eine unrichtige Sachbehandlung im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG vor.[26]

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Praxishinweis

Dem Verteidiger sollte bekannt sein, welche Informationen für die interdisziplinäre Begutachtung beim HWS-Schleudertrauma von Bedeutung sind, um ggf. die Sicherung und Beschaffung dieser notwendigen Fakten zu veranlassen. Im Einzelnen sollten vorliegen[27]:

Lichtbilder der an der Kollision beteiligten Fahrzeuge,
Reparaturkalkulationen oder Kostenvoranschläge,
Fahrzeugdaten (Kopien der Fahrzeugscheine),
Angaben zur Beladung der Fahrzeuge,
Unfallskizze, Fotos der Unfallszene,
Einschätzung der Belastungsrichtung (vorn/hinten/rechts/links oder in Kombination),
Informationen zur Sitzbeschaffenheit und Kopfstützeneinstellung,
Angaben zum Sicherheitsgurt (angelegt?),
Informationen zur Körper- und Kopfhaltung zum Zeitpunkt der Kollision,
Angaben zur Position im Fahrzeug (z.B. Beifahrer),
Personendaten (Körperlänge, Gewicht, Alter und Geschlecht),
Informationen zu Vorerkrankungen (z.B. Veränderungen im Bereich der HWS) bzw. zur Beschwerdefreiheit vor der Kollision (ärztliche Berichte etc.),
Angaben zum Zeitintervall zwischen Kollision und erstmaligem Auftreten der Beschwerden.

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Heftig diskutiert wurde in den vergangenen Jahren, ob es für die Halswirbelsäule eine bestimmte Belastungsgrenze gibt. Im Kern geht es um die Frage, ob es je nach Größe der physikalischen Kraft des Zusammenstoßes von Fahrzeugen, also der sich hierbei ergebenden Differenzgeschwindigkeit, einen bestimmten Wert gibt, bei dessen Unterschreitung eine Verletzung der HWS ausgeschlossen ist.[28] Der BGH[29] hat die Annahme einer sogenannten „Harmlosigkeitsgrenze“, d.h. einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bei deren Vorliegen eine Verletzung der eine HWS-Verletzung generell auszuschließen ist, abgelehnt, mithin die schematische Anwendung einer starren Belastungsgrenze verworfen,[30] denn es kann durchaus Fälle geben, in denen trotz Eingreifens der Harmlosigkeitsgrenze eine Verletzung möglich ist.[31] Allerdings bleibt die Feststellung der individuellen (biomechanischen) Belastung der Fahrzeuginsassen auf Grund des konkreten Unfallgeschehens ein wichtiges Indiz für die Beurteilung, ob eine HWS-Verletzung unfallbedingt hervorgerufen werden konnte. Die aus Crash-Versuchen gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 11 km/h allein unter biomechanischen Aspekten nicht von Beschwerden oder Verletzungen der HWS ausgegangen werden kann.[32] Dem entsprechend ist davon auszugehen, dass bei einer kollisionsbedingten Differenzgeschwindigkeit von weniger als 10 km/h der Eintritt einer Wirbelsäulenverletzung bei einer gesunden Person auf Grund zu geringer biomechanischer Insassenbelastung grundsätzlich nicht eintreten kann.[33]

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Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse wird der Verletzte in geeigneten Fällen einwenden, es seien verletzungsfördernde Faktoren für die HWS zu berücksichtigen. Dazu zählt insbesondere der „Überraschungseffekt“, der sich bei der Heckkollision insbesondere deshalb ergibt, weil der Insasse anders als bei der Frontalkollision auf den Unfall optisch unvorbereitet ist. Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist der „Überraschungseffekt“ jedoch nicht sicher als verletzungsfördernder Faktor anzunehmen.[34] Dies gilt auch für die Hypothese einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit der HWS bei abweichender Kopfhaltung („Out of Position“).[35] Die Verteidigung sollte in diesem Zusammenhang den Verfahrensbeteiligten darlegen, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen[36] fast 90 % der zu Begutachtenden mit HWS-Beschwerden nach Heckkollisionen einer biomechanischen Belastung, die auch im Autoscooter erreicht wird, ausgesetzt waren.

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Praxishinweis

Die Ursächlichkeit eines Unfalls für behauptete HWS-Beschwerden kann nicht festgestellt werden, wenn nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Beschwerden auf einer Schädigung durch einen Vorunfall beruhen und der gerichtliche Sachverständige eine Verschlimmerung einer Vorschädigung zwar für möglich, aber nicht für wahrscheinlich hält.[37] Es gehört mithin zu den Aufgaben des Verteidigung, Umständen, die auf eine Vorschädigung hindeuten, nachzugehen und diese ggf. in das Verfahren einzuführen.

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Atteste über ein „HWS-Schleudertrauma“ sollten nach alledem unter Berücksichtigung etwaiger Fehlerquellen genau hinterfragt werden.[38] Dabei ist auf eine möglichst exakte Bezeichnung der Art und Lokalisation der behaupteten unfallbedingten Verletzungen Wert zu legen.[39] Häufig finden sich ärztliche Diagnosen, die lediglich Verdachtsdiagnosen darstellen oder lediglich auf den subjektiven Angaben des Patienten beruhen. Der Arzt kann die Verlässlichkeit der Angaben des Patienten (z.B. heftiger Aufprall, Kopfschmerzen, etc.) in der Regel nicht nachprüfen.[40]

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Praxishinweis

Zweifel sollten daher insbesondere dann auftauchen, wenn sich in dem Arztattest Bezugnahmen auf „glaubhafte Angaben bzw. Beschwerden“ finden. Die „Glaubhaftigkeit“, die in einem Arztattest erwähnt wird, steht in der Regel für diagnostische Defizite und/oder fehlende traumatologische Erfahrungen des Gutachters. Gerade dann ist es angezeigt, die erhobenen physikalischen und medizinischen Unfallparameter in Beziehung zu setzen, um eine verlässliche Aussage darüber zu erhalten, ob der Unfallverlauf und die objektiven Befunde mit dem geklagten Beschwerdebild in Einklang zu bringen sind[41].

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