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Sonntag, 29. April 2007

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Dr. Anand kommt abends zu Besuch, und wir verlieren wieder die Bodenhaftung. Er erzählt uns, dass es Zeit ist, Abschied zu nehmen, und nennt uns einen Zeithorizont von zwei Wochen bis zu drei Monaten. Er schwächt ab: »Das sind nur Statistiken«. Ich akzeptiere das nicht! Claudia weiß, dass sie sterben muss. Aber so bald? Klar, die Metastasen in der Lunge verbessern nicht gerade die Prognose, das kann ich auch im Internet nachlesen. Aber Claudia ist eine Kämpferin. Sobald sie eine Spur Energie in sich trägt, sprühen die Funken aus ihren Augen, und sie strahlt wie eine Sonne. Ich jammere wie ein Schlosshund. Wir wollen den Kindern die neue Sachlage schildern, damit sie in Ruhe Abschied nehmen oder noch offene Dinge mit Mami klären können. Ich lasse mich überzeugen. Wir beschließen, dass Claudia ins Krankenhaus geht. Dr. Anand hätte sie lieber zu Hause gepflegt, damit wir möglichst lange etwas von ihr haben, und sie von uns. Ich finde aber, dass es nur im Krankenhaus eine optimale Versorgung gibt. Ich will nicht an ein Ende in drei Monaten glauben!


Dr. Anand geht, als es dunkel ist, und wir bleiben mit unserem Schicksal zurück. Er lässt uns ein Buch über sanftes Sterben da und geht mit der Erkenntnis, dass wir derzeit unsere Probleme mit „dem da oben“ haben. Ich bin für die kommende Woche krankgeschrieben.

Wir reden. Claudia stellt sich vor, auf einem Stern zu wohnen und auf uns herabzuschauen, wenn sie tot ist. Das ist romantisch. Ich könnte mir vorstellen, dass ihre Seele als Energiestrom das Universum durchstreift. Ich wünsche mir, dass sie mir eine Spur legt, sodass ich ihr irgendwann folgen kann und sie wiederfinde. Wir heulen. Ich möchte, dass sie Erinnerungen für die Kinder aufschreibt. Sie weint. Sie hat es mehrfach versucht, seit ich ihr damals beim ersten Krankenhausaufenthalt die Kladde mitgebracht habe. Im letzten Urlaub hat sie eine einzige Sache notiert: Einen Streit zwischen Max und mir. Das hat sie tief getroffen, und sie hat nie mehr geschrieben. Wenn, soll ich es auf Video aufnehmen. Wir reden über den Tod und das Leben danach. Das Leben der Überlebenden. Sie macht sich Sorgen um mich, wenn sie mich leiden sieht.

Sie meint, ob eine Verbrennung in Ordnung wäre. Ich entgegne ihr, dass es das für mich nicht ist. Asche ist tote Materie. Ein toter Körper wird wieder dem Erdkreislauf zugeführt und existiert in anderer Form weiter. Ich will keine Verbrennung mit Miniaturgrab, sie will einen schönen Grabstein, der eine Geschichte erzählt. Mit ganzem Namen, Geburts- und Todesdatum. Ich möchte ein Foto und noch viel von ihr lernen. Wir regeln als Nächstes den Nachlass. Zwischen uns gibt es ein unsichtbares Band, wir sind Seelenverwandt. Wir kuscheln im Bett, so gut wie es geht. Ich kann nicht schlafen, und Claudia auch nicht.

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