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5 Häufigkeit der ADHS

Wie oft tritt ADHS auf? Gibt es Unterschiede der Auftretenswahrscheinlichkeit in verschiedenen Ländern, d. h. gibt es ADHS zum Beispiel in Deutschland häufiger als in den USA? Diese und weitere Fragen sollen in diesem Kapitel behandelt werden (Tab. 5.1).


Ergebnisse zur ADHS aus den KiGGS-Studien

Die KiGGS-Studien sind große, umfassende Studien des Robert-Koch-Instituts, die Fragen zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland erforschen. An einer ersten Studie aus den Jahren 2003–2006 nahmen 17.641 Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 17 Jahren zusammen mit ihren Eltern teil. Somit konnten erstmals deutschlandweit aktuelle und aussagekräftige Daten zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen gesammelt werden. Neben Daten zum physischen Gesundheitszustand (z. B. körperliche Verfassung der Kinder und Jugendlichen) wurden umfangreiche Daten zur psychischen Gesundheit erhoben und ausgewertet.

Tab. 5.1: Weltweite Prävalenzraten der ADHS

QuellePrävalenzLandAnmerkungen
Polanczyk et al. (2007)5,29 %weltweitsystematisches Review, gepoolte Prävalenz
Cuffe et al. (2001)1,51 %USAältere Jugendliche, DSM-III-R
Cuffe et al. (2005)4,19 % (Jungen), 1,77 % (Mädchen)USAim Rahmen des National Health Interview Survey
Froehlich et al. (2007)8,7 %USAim Rahmen des National Health and Nutrition Examination Surveys
Canino et al. (2004)8,0 %Puerto Rico
Ford et al. (2003)2,23 %UKim Rahmen des British Child and Adolescent Mental Health Survey
Goodman et al. (2005)1,3 %; 1,4 %Russland; UKnach ICD-10
Huss et al. (2008)4,8 %Deutschlandim Rahmen der KiGGS
Graetz et al. (2001)7,5 %Australienrepräsentative Stichprobe
Rohde et al. (1999)5,8 %BrasilienSchulstichprobe
Smalley et al. (2007)8,5 %FinnlandGeburtenkohorte, jugendlich
Kessler et al. (2006)4,4 %USAErwachsene, National Comorbidity Survey Replication
Fayyad et al. (2007)4,1 %1,9 %7,3 %3,1 %2,8 %1,8 %1,9 %5,0 %1,2 %5,2 %BelgienKolumbienFrankreichDeutschlandItalienLibanonMexikoNiederlandeSpanienUSAErwachsene, im Rahmen der World Health Organization World Mental Health Survey Initiative
Simon et al. (2009)2,5 %Erwachsene, Meta-Analyse, gepoolte Prävalenz

5.1 Aktuelle deutsche Daten zur Häufigkeit von ADHS

4,8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut der KiGGS-Studie eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS (Huss et al. 2008; Schlack et al. 2007). Die Prävalenz beträgt 1,5 % im Vorschulalter, 5,3 % im Grundschulalter, 7,1 % bei den 11–13-Jährigen und 5,6 % bei den 14–17-Jährigen. Somit belegen die Daten einen starken Ansprung der diagnostizieren Fälle vom Vor- zum Grundschulalter. Mit dem Eintritt in die Grundschule wird die ADHS häufiger diagnostiziert. Aus diesem Grund ist also die ADHS eine Störung, welche Lehrern bekannt sein sollte: Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass sie im Laufe ihres Schulalltags auf Kinder mit ADHS treffen.

Sozioökonomischer Status

ADHS wird weiterhin laut der KiGGS-Studie häufiger bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status im Vergleich zu Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status diagnostiziert. Es ist nicht geklärt, ob ADHS tatsächlich in Familien mit niedrigem soziökonomischen Status häufiger vorkommt oder nicht. Einerseits ist es bei einer stark erblichen Störung wie der ADHS wahrscheinlich, dass Väter und Mütter, die selbst unter ADHS-Symptomen leiden, Probleme in Schule, Ausbildung, Beruf und somit geringere Aufstiegschancen im Job hatten, als Väter und Mütter, die keine ADHS hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ebenfalls ADHS haben, steigt und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der soziökonomische Status dieser Familien niedriger ist. Andererseits gibt es keine empirischen Studien, die belegen, dass ADHS mit einem bestimmten sozioökonomischen Status gekoppelt ist. Andererseits könnte man vermuten, dass positive Merkmale der ADHS (wie z. B. Kreativität), sofern diese zum Erscheinen gebracht werden, zu Erfolg führen könnten.

Migrationshintergrund

Die KiGGS-Studie zeigt auch, dass Familien mit Migrationshintergrund seltener über eine ADHS-Diagnose als Familien ohne Migrationshintergrund berichten. Jedoch gibt es mehr ADHS-Verdachtsfälle bei Familien mit als ohne Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger bezüglich der ADHS-Symptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) auffällig werden (z. B. im Kindergarten und / oder der Schule), aber seltener Beratung, Diagnostik oder Interventionen in Anspruch nehmen. Lehrer sollten also Familien mit Migrationshintergrund genauer im Blick haben, um diese ggf. auf entsprechende Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen, Beratungsstellen speziell für Familien mit bestimmten kulturellen Hintergründen) hinzuweisen.

Wohnort

Die KiGGS-Studie fand keine weiteren Unterschiede der Häufigkeit der ADHS-Diagnose zwischen den Wohnorten. Es werden also nicht häufiger ADHS-Diagnosen in Ost- oder in Westdeutschland ausgesprochen; ebensowenig macht es einen Unterschied für das Auftreten der ADHS, ob Kinder in kleinen oder großen Städten aufwachsen.

5.2 Vergleich der Prävalenz der ADHS in Deutschland und in anderen Ländern

„The worldwide prevalence of ADHD: Is it an American condition?“ – „Die weltweite Prävalenz von ADHS: Ist es eine amerikanische Störung?“ betiteln Faraone und Kollegen einen Artikel aus dem Jahr 2003. Für ihre Meta-Analyse haben sie in einer medizinisch-wissenschaftlichen Datenbank 50 Artikel identifiziert, die zwischen den Jahren 1982 und 2001 die Begriffe „ ADHD“, „ADD“, „HKD“, oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung und „Prävalenz“ gekoppelt verwenden. 20 dieser Studien stammten aus den USA, 30 wurden außerhalb der USA durchgeführt. Eine genauere Durchsicht dieser Artikel ergab, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von ADHS bei amerikanischen und nicht-amerikanischen Kindern gleich hoch ist. ADHS ist also keine typisch amerikanische Störung.

Zudem zeigte die Auswertung, dass die Auftretensraten der ADHS am höchsten sind, wenn zur Diagnose DSM-IV- im Vergleich zu ICD-10-Kriterien angelegt werden. Dieser Unterschied rührt daher, dass die ICD strenge Vorgaben darüber macht, ob ein Kind Symptome in allen drei Dimensionen (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität), davon einige zu Hause als auch in der Schule zeigen muss. Die ICD schließt zudem Kinder mit komorbiden Störungen aus. Das DSM hingegen ist offener: Es ist möglich, Kinder mit ADHS zu diagnostizieren, die nur Auffälligkeiten in einem Bereich zeigen (z. B. nur Unaufmerksamkeit) und an weiteren Störungen leiden.

Auch in anderen, aktuellen Untersuchungen konnte bestätigt werden, dass ADHS kein Nebenprodukt der amerikanischen Kultur ist. In einer weiteren Metaanalyse, die durch Polanczyk und Rohde (2007) durchgeführt wurde, zeigte sich das folgende Bild: Die Auftretenswahrscheinlichkeit der ADHS in Nordamerika übersteigt mit 6,2 % nur knapp die Rate, die in europäischen Ländern gefunden wurde (4,6 %). Die höchsten Raten finden diese Autoren übrigens in Afrika (8,5 %) und Südamerika (11,8 %). Zusammenfassende Analysen einer ADHS-Skala, die in 21 Ländern verwendet wurde, zeigten, dass japanische und finnische Kinder die niedrigsten Werte, jamaikanische und thailändische Kinder die höchsten Werte erzielen und amerikanische Kinder im Mittelfeld liegen.

Methodische Unterschiede

Auch diese Analyse unterstreicht, dass die Auftretensunterschiede für ADHS in Nordamerika vs. Europa auf methodische Unterschiede zurückzuführen sind: Alle amerikanischen Forscher legten in ihren Studien die offeneren DSM-Kriterien an; die meisten europäischen Wissenschaftler jedoch die strengeren ICD-Kriterien. Die Autoren dieser Analyse führen die Abweichungen der ADHS-Prävalenz in verschiedenen Ländern zum Großteil auf diese methodischen Unterschiede zurück.

Letztlich werden jedoch Studien benötigt, welche die Prävalenz der ADHS direkt in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Nur wenige Studien tun dies; diese wenigen Ergebnisse sind zudem äußerst heterogen. Es gibt vielfältige Gründe für die Probleme bei der kulturvergleichenden Erfassung des Auftretens der ADHS:

1. Konfundierung: Häufig sind die Ergebnisse mit spezifischen Aspekten der jeweiligen Kultur, in welcher Untersuchungen durchgeführt wurden, konfundiert, d. h. vermischt. Z. B. wurde in einer Studie die Prävalenz der ADHS bei Kindern, die während der Atomkatastrophe in einem 30 km-Radius um Tschernobyl lebten, im Anschluss nach Kiew evakuiert wurden und nach 10 Jahren immer noch in Kiew lebten, mit der Prävalenz amerikanischer, gleichaltriger Kinder verglichen (Gadow et al. 2000). Diese Studie zeigte eine höhere Auftretensrate der ADHS bei den ukrainischen (19,8 %) im Vergleich zu den amerikanischen Kindern (9,7 %) – jedoch kann nicht geklärt werden, ob diese erhöhte Auftretensrate von Umwelteinflüssen, die nach der Atomkatastrophe eingetreten sind, oder durch die Tatsache, dass alle Kinder der ukrainischen Stichprobe nach Kiew umziehen mussten, verursacht worden ist. Das Ergebnis, dass ukrainische Kinder häufiger an ADHS leiden, ist also konfundiert bzw. vermischt mit den Faktoren, die in den Umwelt- und Lebensbedingungen der ukrainischen Kinder liegen und bei der amerikanischen Vergleichsgruppe nicht aufgetreten sind.

2. Methodenvielfalt: Immer häufiger wurde also in den letzten Jahren versucht, über Meta-Analysen die Prävalenz der ADHS im Ländervergleich zu charakterisieren. Problematisch ist jedoch, dass in den meisten Fällen in den unterschiedlichen Ländern auch unterschiedliche Diagnosemethoden eingesetzt werden. Somit haben wir wiederum mit dem Problem der Kultur-Konfundierung zu kämpfen, gleichzeitig offenbart sich hier noch eine weitere Schwierigkeit: Können wir tatsächlich über dasselbe Störungsbild sprechen, wenn wir verschiedene Methoden zur Erfassung und verschiedene Diagnosesysteme verwenden? Anders gefragt: Ist die in verschiedenen Ländern diagnostizierte ADHS tatsächlich auf dasselbe Störungsbild zurückzuführen? Weitere empirische Forschung der nächsten Jahre wird sicher einen genaueren Einblick in diese Problematik bringen.

5.3 Warum ist die Frage nach der weltweiten Prävalenz der ADHS wichtig?

Aus verschiedenen Gründen erscheint die Erforschung der weltweiten Prävalenz von ADHS wesentlich:

Umweltunabhängigkeit

Dass ADHS anscheinend laut aktueller Forschungsergebnisse weltweit auftritt, spricht dafür, dass es eine Störung ist, die nicht allein durch die Umwelt ausgelöst wird. Eine Veränderung unserer Gesellschaft wird also nicht bewirken können, dass es dann keine ADHS-Kinder mehr gibt. ADHS tritt unabhängig davon auf, ob ein Kind in der westlich-amerikanischen oder europäischen Kultur aufwächst.

Umweltabhängigkeit

Dass es jedoch geringfügige Unterschiede zwischen der Diagnosehäufigkeit der ADHS in verschiedenen Ländern und Kulturen gibt, scheint dafür zu sprechen, dass vor allem für Kinder, die Symptome am Schwellenbereich für eine klinische oder subklinische Störung aufweisen, die ADHS-Diagnose in Abhängigkeit des Landes, in dem sie aufgewachsen sind, gestellt wird.


ADHS ist keine typische amerikanische Störung. ADHS tritt in allen Kulturen auf. Geringere Unterschiede der Prävalenzen in verschiedenen Ländern sind vermutlich auf methodische Unterschiede zurückzuführen – genauere, weitere Studien sind jedoch unabdingbar.


Weitere Informationen zu den KiGGS-Studien: https://www.kiggs-studie.de


Vertiefungsfragen

13. Ist ADHS eine typisch amerikanische Störung?

14. Warum ist die Frage nach der weltweiten Auftretenswahrscheinlichkeit von ADHS von Bedeutung?

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