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ESSSUCHT, EIN VERDECKTES LEBENSPROGRAMM OHNE LOBBY

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Da Esssucht in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existiert, dürfen esssüchtige Frauen sich selbst nicht als hilfebedürftig erkennen, sondern ordnen sich selbst, unreflektiert und fatalerweise sich zugehörig fühlend, in die Heerscharen der »Dicken« ein, von denen es in unserer hochzivilisierten Gesellschaft nur so wimmelt.

Und das Geschäft mit den Dicken blüht wie nie zuvor! Sei es nun in den Wellness- und Fitness-Zentren, in der Kleiderbranche, in den Schönheitssalons, in den kalorienarme Menüs anpreisenden Restaurants, indem in Zeitschriften und anderen Medien kostspielige Fastenkuren, die neuesten Diäten und Wundermittelchen, Tipps für die besten Fettabsaugadressen angepriesen werden, oder gar in den Räumlichkeiten irgendwelcher Scharlatane.

Übergewicht, die »paar Kilos zu viel« und deren gesundheitsschädigende Folgen ist in aller Munde, beherrscht Gespräche, ist sexy, füllt Kongresshallen, macht Schlagzeilen. Aber Esssucht in seinem peinlichen Ausdruck, in seiner Unförmigkeit rückt nicht ins Rampenlicht.

Mit dem Begriff »Esssucht« lässt sich nun mal kein Geschäft machen und schon gar keine ansprechenden und aufmunternden Titelblätter in Frauenmagazinen. Esssucht kann nicht schöngeredet werden, sondern ist und bleibt eine Krankheit, ein Leiden. Wen also wundert’s, dass Esssucht noch immer keine Lobby hat?

Ohne die tatkräftige Unterstützung einer Lobby, ohne eine sensibilisierte und damit empathische Öffentlichkeit können massiv übergewichtige Frauen ihre Sucht in der Regel recht lange verkennen, sehr zu ihrem eigenen Nachteil und unter Umständen ebenfalls zum Schaden ihrer näheren Bezugspersonen.

Nur allzu gerne folgen sie dem Mainstream und klammern sich an den Glauben, dass irgendwo schon noch die »richtige Diät« für sie bereitliegt – sie haben sie bloß noch nicht entdeckt. Und natürlich werden sie wiederum enttäuscht und frustriert werden durch das nächste, sicherlich gut gemeinte, aber für ihr eigentliches Leiden wiederum unstimmige Angebot.

Immer wieder wird die Hoffnung auf Körperkontrolle und bewusstes Kalorienmanagement geschürt und immer wieder bricht Enttäuschung und Frust über sie herein. In Ermangelung einer spezifischen, leicht zugänglichen Sucht-Aufklärung bleibt für sie nur der stereotype »Trost«, dass es

a) halt wieder mal das falsche Mittel beziehungsweise die falsche Diät war oder

b) dass es eben doch an einem noch zu schwachen Willen oder

c) am unpassenden Zeitpunkt liegen muss.

Durch dieses wiederholte »Versagen« wegen Nicht-Erkennens beziehungsweise Verleugnens ihrer Krankheit, der Esssucht, rutschen solcherart in ihrer Persönlichkeit und Körperlichkeit kastrierte Frauen tiefer und tiefer in das Dickicht eigener Defizite, Abhängigkeiten, Unzulänglichkeits- und Wertlosigkeitsgefühle. Ihre ohnehin getrübte Selbstwahrnehmung wird, je länger sie dauert, umso verzerrter.

Die esssüchtige Frau versteht die unbändige Gier ihres Körpers nicht, geschweige denn sich selbst. Wie auch? Sie verfügt ja über keinerlei Anhaltspunkte, was sie derart schädigend, ja geradezu dämonisch antreibt, sich selbst weiterhin derart respektlos zu verunstalten und gesundheitlich zu schädigen. Umso weniger, als ihre unentwegten Bemühungen um Körper- und Esskontrolle in deren Vergeblichkeit zwar missverstanden, aber gesellschaftlich durchaus »honoriert« werden.

Wegen ihrer Fettleibigkeit erhält sie, wenn auch nicht spezifisch-konkrete Hilfeleistung, so doch Tipps von allen Seiten, es regnet Komplimente und Schmeicheleien über tatsächlich oder nur vermeintlich abgenommene Kilos. Viele Trostworte fallen, wenn den etwaigen Minus-Kilos die obligaten neuen Kilos (bedingt durch den Jojo-Effekt) folgen. Eine von Oberflächlichkeit und Überheblichkeit geprägte Form der Aufmerksamkeit, die den Kern ihres Leidens völlig verfehlt und so die Sucht missachtet und schürt.

Auch befindet sie sich mit unzähligen »Dicken« in guter Gesellschaft. Der alles dominierende, buchstäblich gewichtige und einbindende Gesprächsstoff geht nie aus, er ist längst zum ausfüllenden, alles beherrschenden Lebensthema geworden.

Wie sähe denn das eigentliche, tatsächlich selbstbestimmte Leben einer solchen Frau ohne ihr nicht zu kontrollierendes, massives Übergewicht aus? Wenn nicht ihre körperliche Verunstaltung den Tagesablauf, ihre Zukunftspläne, ihre Beziehungen – ihr Leben überhaupt – prägen würde? Wenn sie endlich ihre Persönlichkeit, ihre Weiblichkeit aufspüren und ausleben dürfte, dies ohne Stress, ohne Ängste, ohne Erwartungsdruck noch Direktiven beziehungsweise Manipulationen von außen?

Jede dieser durch Esssucht kastrierten Frauen hat auf diese Fragen einen ganzen Antwortkatalog bereit, der genau schildert, was sie zusätzlich alles tun möchte und würde – vorausgesetzt, sie wäre endlich schlank!

Bleibt die vorsichtige Frage, warum sie ihre so genau definierten Ziele trotz aller noch so breit gefächerten »normalen« Hilfsangebote nicht nachhaltig umsetzen kann? Wenn doch ihre angestrebte Lebensqualität nur noch von diesem verflixten Schlanksein abhängt? Warum überfallen sie dann, allen Einsichten und guten Vorsätzen zum Trotz, immer wieder diese unsäglich erniedrigenden Gierattacken, die sie regelmäßig vor sich selbst und der Umwelt schönredet und damit verleugnet?

Es ist undenkbar, dass ein Mensch, eine Frau ein solcherart eingeschränktes Leben bewusst beschritten beziehungsweise je angestrebt hätte. Ein Leben, welches geradezu dazu verdammt ist, von Selbstvertrauen, Eigenständigkeit, Attraktivität und erfüllter Sexualität lediglich zu träumen. Welches unerkannte, stille Drama spielte sich da ab, das derartig selbstzerstörerische Episoden wie Binge-Eating hervorbringt?

Oder, um im Bild des männlichen Kastraten zu bleiben, wer oder was überhaupt könnte ein Interesse an dieser »modernen« Form der Kastration haben? Wohl kaum die Betroffene selbst ... Der Lustgewinn bei Esssucht ist nun mal äußerst gering, vor allem im Nachhinein, wenn die Scham- und Schuldgefühle alles andere überdecken.

Wer möchte verhindern, dass eine Frau Selbstsicherheit und anziehende Weiblichkeit ausstrahlt, über ein breites Beziehungsspektrum und ein ausgefülltes Sexualleben verfügt? Wer wäre denn derart missgünstig? Wohl nur jemand, der sich durch diese gelebten positiven Eigenschaften, durch diese Lebensqualitäten angegriffen fühlen könnte ... Also ein Mensch, der unbedingt vermeiden möchte, in seiner Persönlichkeit, in seinem eigenen Lebenskonzept infrage gestellt zu werden.

Dann kann es aber nur jemand sein, der früh genug auf eine derart dominant-beherrschende Weise in ein anderes Leben eingreifen konnte, auf eine Weise, dass das Fundament eines abhängigen, also eines (Ess-)Suchtcharakters entstehen konnte. Es kann sich hier um einen Menschen handeln, der ganz selbstverständlich in der Lage war, eine mächtige und dadurch prägende Funktion auszuüben in Bezug auf Persönlichkeit, Körperlichkeit und Autonomie-Entwicklung eines Kindes – und der diese Verantwortung missachtete ...

Nun, für eine Tochter gibt es nur eine Person, welche die Stellung und damit Möglichkeit zu dieser Negativ-Prägung besaß und besitzt: die eigene Mutter!

Die böse Mutter

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