Читать книгу Die böse Mutter - Catherine Herriger - Страница 11
ESSSUCHT UND
DEREN TATSÄCHLICHE WURZEL
ОглавлениеDie Mutter als missgünstige, als verunstaltende Täterin ... Ein schlimmer Gedanke! Aber nur sie (oder ihr weiblicher Ersatz) hatte die Möglichkeit, das Selbstverständnis der Tochter maßgeblich zu beeinflussen, bei ihr mittels einer übermäßigen Dominanz und Kontrolle die körperliche und persönliche Selbstbestimmung zu behindern und damit die Grundlage zu einem Suchtcharakter zu legen.
Es ist üblicherweise nach wie vor in erster Linie die Mutter, welche für die Bedürfnisse und Anliegen des noch hilflosen und völlig abhängigen Säuglings zuständig ist. Dabei strahlt sie emotional positive oder negative Signale aus, welche ganz unmittelbar vom Säugling aufgefangen werden – die allererste, zutiefst prägende Interaktion im Leben eines Menschen. Die nachhaltige Botschaft, ob und wie willkommen er ist in diesem ihm noch unbekannten Erdendasein.
Über die zuverlässige Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Nähe, Zuwendung und Nahrung entwickelt sich ein fundamentales Vertrauen und Selbstverständnis – und damit die Basis in der Persönlichkeitsstruktur eines jeden Menschen.
Bei einer Tochter ist die Mutter zudem nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste weibliche Identifikationsfigur. Von ihr wird das kleine Mädchen in seinen frühesten Jahren lernen, wie es mit seinem Körper und dessen Bedürfnissen umzugehen hat. Es kopiert das Körperbild der Mutter, wie eine Frau ausschaut beziehungsweise ausschauen sollte, wie sie spricht, sich bewegt, reagiert – lauter prägende Einflüsse und Eindrücke, gegen die es sich später teilweise abgrenzen wird (und auch muss), um eine eigene Identität zu entfalten.
Auch sieht jedes kleine Mädchen, wie die Mutter sich gegenüber ihrem Lebenspartner, Männern überhaupt, positioniert und verhält. So erlebt es mit, wenn auch noch unbewusst, wie die Mutter mit ihrer Weiblichkeit umgeht. Ob ihre Geschlechtlichkeit, ihre körperliche Befindlichkeit überhaupt, ein gut integrierter Bestandteil ihres Lebens ist, oder ob sie eher Mühe damit hat.
Kein Weg führt daran vorbei: Es ist nun mal die Mutter (beziehungsweise ihr weiblicher Ersatz), welche der kleinen Tochter den Zugang zu der Welt der Frauen eröffnet – ihr somit lebenslang prägende Verhaltensmuster vorgibt. Es ist also auch die Mutter, die ihrer Tochter die innere Freiheit geben und lassen muss, auf all diesen Pfaden eine ganz eigene Persönlichkeit zu finden und diese langsam, in zunehmender Autonomie, zu entwickeln.
Eine in ihrer Persönlichkeit positiv verankerte und selbstbewusste Frau wird damit wenig Schwierigkeiten haben. Sie wird nach und nach ihre Tochter in die Eigenständigkeit entlassen können. Alleine schon durch ihre Ausstrahlung wird sie die Botschaft vermitteln können: Es ist schön, Frau zu sein! Pack dein Leben an, meine Tochter, und gestalte es auch du zu deiner Zufriedenheit.
Wobei eine mit sich und ihrem Leben unzufriedene, sexuell frustrierte Frau einen Teil ihrer Bitterkeit allmählich und teilweise auf ihre Tochter übertragen wird, ob nun von ihr beabsichtigt oder nicht. Hier lautet die unterschwellige Botschaft: »Es ist mühsam und enttäuschend, Frau zu sein! Ich hätte wesentlich Besseres verdient. Aber leider waren die Umstände nicht günstig. Mein Leben ist schwierig genug, aber ich beiße die Zähne zusammen. Immerhin habe ich ja jetzt dich und erwarte für meine Aufopferung Verständnis und eine entsprechende Dankbarkeit von dir ...«
Noch verschlimmert wird eine solche emotionale Anspruchshaltung, wenn eine unreife, wenig selbstsichere Frau sich bereits durch die Geburt ihrer Tochter eingeengt fühlt, diese also dafür verantwortlich macht, dass ihr Leben nun eingeschränkt und mit Verantwortung belastet ist. Denn dann schwingt auch noch eine Schuldzuweisung mit. Die Schuld, überhaupt geboren zu sein.
Man stelle sich nun ein Kleinkind vor, das weder Abstraktionsvermögen noch Abgrenzungsmöglichkeiten besitzt – es nimmt die geringste Unstimmigkeit in seiner Umgebung ganz unmittelbar wahr. Selbst wenn die familiale Fassade zufrieden und harmonisch wirken mag – ein unstimmiger Hinter- beziehungsweise Untergrund bei seiner nächsten Bezugsperson ist für das Kleinkind beunruhigend und für die weitere Entwicklung seiner Persönlichkeit verunsichernd prägend. Dieser Zustand ist am ehesten mit dem Bild eines schönen Hauses vergleichbar, dessen Fundamente aber morsch sind. Erste Risse und ein möglicher Einsturz sind vorprogrammiert.
Was geschieht nun, wenn eine Mutter morsche Fundamente in ihrem Ego, in ihrem Selbstbewusstsein, in ihrem Lebenskonzept hat und diese schmerzhaft an die Oberfläche drängen? Aus der Tiefe ihres Ichs hervorgeholt durch die Geburt, durch die Gegenwart ihres Kindes? Hat sie den Mut und die Einsicht, sich der Herausforderung zu stellen, ihre latente Unsicherheit, den teilweise mangelnden Selbstwert und die damit verbundene Selbstbezogenheit aufzuarbeiten?
Wenn ja, dann können narzisstische Defizite, sprich Minderwertigkeitsgefühle, rechtzeitig aufgefangen, verarbeitet und konstruktiv umgesetzt werden. Und dann wäre das Risiko einer Übertragung unterschwelliger Ich-Verunsicherungen wie Eifersucht, Rivalität und Missgunst auf das Kind aus der Welt geschafft.
Sollte aber eine narzisstisch defizitäre Mutter sich weigern, sich kritisch zu hinterfragen, ihre Selbstwahrnehmung zu überprüfen, dann ist speziell für eine Tochter Unheil angesagt. Als angehende Frau wird sie unwissentlich zur Projektionsfläche der verdrängten Gefühle ihrer Mutter, analog einer lebendigen Leinwand.
Eine derartige Mutter (miss)braucht ihre noch unreife, anhängliche und willige Tochter, um sich ihren eigenen Minderwertigkeitsgefühlen zum Trotz immer wieder die Bestätigung zu holen, dass sie eigentlich gut funktioniert, kaum je Fehler macht, dass in ihrem Leben eigentlich alles in bester Ordnung und keinesfalls verbesserungswürdig sei. Dadurch stempelt sie ihre Tochter ungewollt zur Mitwisserin und damit Komplizin ihrer komplizierten Lebenslügen ...
Bedingung für diese unheilige Komplizenschaft ist allerdings, dass die Tochter unter der mütterlichen Kontrolle und Herrschaft bleibt und ihre Statistenrolle nicht hinterfragt. Nur so besteht die Gewähr, dass keine kritische Sicht und Distanz aufkommen kann beziehungsweise dass die Tochter sich von der Mutter abnabeln könnte.
Diese Sicherstellung der Lebenslügen der Mutter benötigt eine manipulierte Sichtweise der Tochter, eine angelegte partielle »Blindheit«, welche nur über die frühe Einschränkung ihrer Wahrnehmung zu erreichen ist. Kurz: Die Tochter darf in ihrer Persönlichkeit so wenig wie möglich selbstbestimmt werden. Sie wird zur Statistenrolle degradiert im Lebenskonzept ihrer Mutter.
Frei umgesetzt in die Sprache der Transaktionsanalyse würde dies bedeuten: »Ich bin nicht o. k. – also darfst auch du nie o. k. sein! Denn sonst stellst du mich infrage und ich werde gegen meinen Willen mit meinen verdrängten Defiziten und Problemen konfrontiert.« Hier liegt das tragende, wenn auch unbewusste Motiv für die (ebenfalls unbewusste) Kastration der Tochter durch eine narzisstisch gestörte Mutter.
In all meinen therapeutischen Untersuchungen zeigte es sich, dass nur den wenigsten kastrierten Frauen ansatzweise bewusst war, dass auch ihre Mütter ein mehr oder weniger beschnittenes Leben als Frau führen, also nicht nur »Täterinnen«, sondern ihrerseits ebenfalls Opfer abwertender Prägungen und Botschaften sind.
Stets aber fehlte die nötige Distanz und die Fähigkeit zu einer rechtzeitigen kritischen Würdigung der »echten« Persönlichkeit und Befindlichkeit der Mutter – und damit die Erkenntnis, wie wichtig, da heilsam, eine rechtzeitige Abnabelung gewesen wäre. Und wie dieselbe von der Mutter boykottiert, verhindert wurde.
Dazu bedarf es nicht mal einer deutlich ersichtlich negativen Handlung. Es ist eine Sache der Atmosphäre, einer wie auch immer unterschwellig vermittelten Wahrnehmung und Befindlichkeit. Jeder Mensch wird nun mal in frühester Kindheit psychosozial geprägt und bleibt in seinem Wesen von seinen ersten Bezugspersonen nachhaltig beeinflusst.
Mutterschaft ist da unantastbar wie eine heilige Kuh und setzt so schon mal einen großen Stolperstein im Erkennen wesentlicher und persönlichkeitsschädigender Zusammenhänge. Dass eine Mutter auf ihre Kinder destruktiv einwirken könnte, scheint uns noch immer ein profaner, ja fast sündiger Gedanke.
Meistens setzt da entsetztes Kopfschütteln und empörte Abwehr ein. Natürlich gibt es immer wieder Verbrecherinnen unter den Frauen – aber eine »normale« Mutter, die ihre Tochter in deren Persönlichkeitsentwicklung behindert, abwertet, sie psychisch abhängig macht, sie zur Sucht, zum Sich-zu-Tode-Mästen treibt?! Das kann, nein, darf wohl nicht wahr sein.
Und doch, auch »normale« Mütter können, wenn auch unbewusst, sehr wohl schaden. Die Millionen durch Übergewicht verunstalteten, in ihrer Körperautonomie und ihrem Selbstverständnis buchstäblich beschädigten Töchter beweisen es leider zur Genüge.
Natürlich gibt es eine nachsichtige Betrachtungsweise für die »bösen« Auswirkungen einer Frau und Mutter, welche selbst immer wieder von Minderwertigkeitsgefühlen befallen wird, entsprechend verunsichert ist, folglich von ihrem Leben und ihrer partnerschaftlichen Beziehung konsequent enttäuscht wird, aber sich keinesfalls konstruktiv-kritisch hinterfragen mag – und diese Möglichkeit auch niemandem zugestehen will.
Irgendwie musste sie doch diese ihr garantiert immer wieder schmerzhafte Selbstsicht verleugnen. Aus Selbstschutzgründen spaltete und lagerte sie die defizitären Seiten ihrer Persönlichkeit ab, analog den viel zitierten Skeletten im Kellergewölbe. Aber, einem Geschwür nicht unähnlich, wuchert es in ihr weiter und möchte sich bemerkbar machen. Unterdrückte psychische Anteile haben nun mal die Tendenz, an die Oberfläche kommen zu wollen, um endlich die nötige Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten.
Trotzdem möchte diese Frau weiterhin verdrängen, meistens gepaart mit immer stärker werdenden Symptomen wie Kopfschmerzen, Migräneanfälle, Sehstörungen, Allergien, Unterleibsbeschwerden etc. Sie missachtet jedoch diese körperlichen Signale, diese Hinweise, und beraubt sich so auch weiterhin jeglicher Chance einer positiven Veränderung. Auf wohlmeinende Kritik und Anregungen reagiert sie überheblich und defensiv. Lieber igelt sie sich weiterhin in einer sorgfältig gehüteten Scheinwelt ab – in ihren sorgfältig aufgebauten Lebenslügen.
Und nun hat diese Frau eine Tochter, aber selbst nur beschränkt weiblich-sichere Ressourcen. Instinktiv will sie sich davor schützen, ausgerechnet der eigenen Tochter eine Möglichkeit zu geben, ihr – der Mutter – später einmal beweisen zu können, dass ein alternatives, ein »besseres« Leben eben doch gestaltbar gewesen wäre. Spätestens dann würde sie ja mit ihren jahrelang verdrängten, »minderwertigen« Persönlichkeitsaspekten konfrontiert und müsste möglicherweise realisieren, dass sie sich selbst ausgewichen ist und damit einen Großteil ihres Lebens buchstäblich verpfuscht hat.
Hieße das dann nicht, alles infrage zu stellen, was bisher ihr Dasein und ihr Denken beinhaltet hat? Lieber also sich schützen vor derart schmerzhaften Erkenntnissen, indem sie (unbewusst) die Tochter kastriert, also deren Autonomiebestrebungen schon früh unmöglich macht. Damit erspart sie sich jegliche Kritik aus den eigenen Reihen – und gewinnt vielleicht für später eine Leidensgenossin.
Nicht selten spielen bei diesem narzisstisch defizitären, aber dominanten Frauen- und Müttertypus rein materielle Erwägungen eine große Rolle: »Ich weiß ja, dass nicht alles zum Besten steht in meiner Ehe – aber allein könnte ich mir nie den Rahmen leisten, den ich jetzt habe.«; »Ich liebe ihn schon lange nicht mehr, aber ich habe Kinder und kein anderer Mann kann mir diese Sicherheit bieten«.
Oder es werden unreflektierte Aussagen gemacht, die ihrerseits deutlich auf ein mangelhaftes Selbstwertgefühl und entsprechende Existenzängste hinweisen: »Ich bin nicht unbedingt glücklich mit ihm, aber ein Mann ist nun mal besser als keiner. Und wo und wie würde ich in meinem Alter einen anderen finden?«; »Ich halte mich lieber still. Als Ehefrau wird man sowieso ausgenützt. Aber falls ich protestiere, werde ich am Ende mit einer Jüngeren ersetzt. Und dann?«.
Ohne die rechtzeitige Abwertung – die Kastration – der Tochter würden die Defizite der Mutter möglicherweise offenbart, sie würde damit allzu schmerzhaft infrage gestellt und so in ihrer Selbstsicht verletzt und in ihrer Bedeutung entmachtet werden. Eine Tochter, die sich ihr gegenüber kritisch äußern, sich gar auflehnen würde, wäre in ihrer eingeschränkten, ausgesprochen selbstbezogenen Wahrnehmung schlichtweg unloyal, lieblos und undankbar.