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6. Das aufgegebene Royatal

Damals wusste ich weder etwas über Asylrecht noch über Eritrea oder den Sudan. Von Libyen hatte ich dank Sarkozy und seinem Freund Gaddafi schon gehört, aber mehr auch nicht. Ich bin weder Historiker noch Geograf und schon gar kein Politiker, aber ich lebte seit dreizehn Jahren in diesem Tal, und zu sehen, wie diese Grenzen aus ihrer Asche wiederauferstanden, stellte mich vor Fragen. Wie konnte im Schengenraum die Personenfreizügigkeit derart eingeschränkt werden? Warum blieb Frankreich gegenüber dem Los dieser Menschen gleichgültig? Die Art und Weise, wie der Staat mit dieser Situation umging, erschien mir verantwortungslos. Wie konnten sie von Paris aus entscheiden, das Royatal aufzugeben und diese Migranten im Stich zu lassen?

Für unser Tal war die plötzliche Grenzschließung ein Schock, ein Angriff. Das Royatal war seit jeher eine Durchgangsstation, in der man auf Grenzen pfiff. Bestimmten Personen, die aus Südeuropa kamen und im Allgemeinen dunkelhäutig waren, war das auf einmal nicht mehr möglich.

Das Verrückteste war, dass die Grenzkontrollen im Westen des Royatals wieder eingeführt wurden, als läge es nicht in Frankreich. Das Ergebnis: Es war sehr leicht, von Ventimiglia nach Breil zu kommen, ohne kontrolliert zu werden. Doch wenn man von Breil nach Nizza wollte, sah die Sache ganz anders aus. War man erst mal drin, erwies sich das Royatal als Fischreuse, aus der man praktisch nicht mehr entkommen konnte.

Ich konnte den Blick der Kinder in der Kirche nicht vergessen. Die Worte des Italieners klangen mir noch in den Ohren: auseinandergerissene Familien, Kinder auf der Autobahn, Mädchen in den Autos ihrer Schleuser vergewaltigt. Mein Kopf brannte. Wie ließ sich verhindern, dass diese Kids ihr Leben riskierten? Es ging nicht mehr an, sich zu sagen, alles sei in Ordnung, während fünfzehnjährige Mädchen »in Kauf nahmen«, vergewaltigt zu werden, um es nach Nizza oder Marseille zu schaffen. Kinder konnte man unmöglich so behandeln.

Die Wochen vergingen, mir brannte immer noch der Kopf. Wie weit sollte ich mich engagieren? Welche Risiken eingehen? Im Allgemeinen verfahre ich mit meinen Wünschen und Plänen wie mit allem, was mir lieb ist, mit Leidenschaft und Beharrlichkeit, was eine Stärke und zugleich eine Schwäche ist. Wenn ich etwas mache, mache ich es ganz. Und jetzt, ganz und gar unentschlossen, war ich außerstande, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Wenn ich gewusst hätte, dass das Beherbergen dieser beiden kleinen Familien mich derart verstören würde …

Ungehorsam sein

Ursprünglich bin ich alles andere als ein Aktivist. Ich gehe nie auf Demos, Menschenmengen machen mir Angst. Meine einzige Demo war die 2002 gegen die Kandidatur von Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl um die Präsidentschaft. 2015 hatte mich Suzel Prio von der Bürgerinitiative Roya Citoyenne gebeten, ein paar geflüchtete junge Männer aufzunehmen, aber ich wollte nicht. Ich hatte schon einmal Tunesiern geholfen, die es infolge des Arabischen Frühlings nach Europa verschlagen hatte, aber nicht aus politischen Gründen. Ich fand es mühsam und nicht sehr spaßig, sich politisch zu engagieren. Ich zog die heiteren Aspekte des Lebens vor und liebte die Menschheit nicht genug, um sie retten zu wollen.

Trotz meiner anarchistischen Seite vertraute ich in gewisser Weise auf den Staat, wie so viele Leute. Der aber hatte ein zynisches Spiel eingeführt, das Menschen zwingt, sich in Gefahr zu begeben. Die Spielregel: Man muss leiden, um nach Frankreich einzureisen, sogar sein Leben riskieren. Dieses morbide Kalkül zwingt aus Respekt vor dem Leben geradezu zum Ungehorsam. Solange man die Exilierten nicht kennt, erschrickt man vielleicht wie ich, als ich sie in Menton auf den Felsen sah und beunruhigt war. In dieser Situation hat man mehrere Möglichkeiten. Man wird aktiv und fühlt sich besser; man setzt Scheuklappen auf, wie ich es anfangs noch konnte; oder man weist diese Menschen zurück wie Feinde, Eindringlinge, eine Gefahr.

Sähen diese Menschen aus wie wir, gäbe es mehr Empathie. Im vorliegenden Fall jedoch fällt sie uns schwer. Die Geflüchteten teilen weder Sprache noch Kultur mit uns. Man kann sich nicht mit ihnen identifizieren, solange man sie nicht kennengelernt hat. Es ist wie mit den Obdachlosen. Wer spricht schon mit ihnen? Sehr wenige. Aber angenommen, blonde Mädchen mit blauen Augen würden ohne ihre Eltern durchs Royatal irren – wie könnte die Justiz jemanden verurteilen, der diesen Goldlöckchen Beistand leistet? Eher noch würde sie den Schuft anklagen, der einfach weiterfährt.

Wenn das Recht mit Füßen getreten wird, müssen die Bürger sich dagegen wehren. Demokratie besteht nicht nur darin, die Macht an Volksvertreter zu delegieren. Die Intuition, die mich seit meiner Kindheit leitet und mich dazu bewogen hat, einen Teil von Afrika zu durchqueren und in einem Olivenhain zu leben, sagte mir schließlich: Augen zu und durch! Mehr noch, es war Überzeugung. Es würde schwierig werden, aber mir wurde immer klarer: Die Angst, die mich bis jetzt vom Hinschauen abgehalten hatte, wurde jetzt mein Antrieb.

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