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7. Meine »Mission«

Mai 2016. Der Ginster blühte noch, auch der Perückenstrauch. Auf einer Fete in Breil-sur-Roya traf ich Lucile: Mitte zwanzig, gepflegte blonde Dreadlocks, Bauchtasche und grobe Wanderschuhe, lebhaft und spontan, starker ostfranzösischer Akzent. Sie suchte eine Möglichkeit, als Freiwillige an der Grenze festsitzenden Menschen zu helfen. Ich lud sie ein, ihr Zelt ein paar Tage bei mir aufzuschlagen. Bei der Gelegenheit könne sie mir auch beim Ausmisten des Hühnerstalls helfen. Sie war unabhängig, eine Einzelgängerin, aber sehr gesellig. Sie blieb ein paar Tage, und ich vertraute ihr meine Bedrängnis an. Sie sagte, sie würde mir helfen, wenn ich mich dazu entschlösse, Leute aufzunehmen. Dann verschwand sie, um jugendliche No-Borders-Aktivisten zu unterstützen, die in Ventimiglia ein Haus besetzt hatten. Ich war wieder allein mit meinen Zweifeln.

Ich beteiligte mich an einigen Aktionen von Roya citoyenne, die mehr denn je Hilfe brauchten. Wir fuhren nach Ventimiglia und verteilten Lebensmittel, aber die Polizei vertrieb uns – wir mussten an die hundert Kilo Reissalat wegwerfen. Ein paar Monate später, im August 2016, verbot der Bürgermeister von Ventimiglia die Verteilung ganz, angeblich wegen mangelnder Hygiene und weil das Rotkreuz-Camp ausreiche, um all diese Menschen in Not zu ernähren. Doch das hatte nur Platz für 360 Menschen, und unter der Autobahnbrücke hausten Tausende … Dort verteilten die Bürgerinitiativen Snacks in Plastiktüten, heimlich wie Dealer, die Shit verticken.

Selbst wenn ich Bock darauf gehabt hätte, ich sah nicht, wie ich besser helfen konnte. Doch wie ich es jetzt tat, gefiel mir nicht. Konnte ich nicht dauerhafte Lösungen finden? Da ich weiter meine Zweifel hatte, kehrte ich zu deren Ursprung zurück, zur Kirche Sant’Antonio.

Dort verging die Zeit langsam. Draußen hatten es alle eilig, drinnen war es ruhig, die hier untergekommenen Menschen hatten zu essen und waren geschützt. Von weitem sah ich Don Rito, den Gemeindepfarrer. Er flößte mir kein Vertrauen ein, ich weiß nicht, warum – vielleicht war es seine Ausstrahlung, vielleicht einfach mein generelles Misstrauen gegenüber Geistlichen. Damals glaubte ich, dass er nur aus Christenpflicht so handelte, um ein reines Gewissen zu haben, aber womöglich der perfekte Spitzel für die Bullen war, die die Aktivisten jagten. Ich täuschte mich, das merkte ich später.

Ich schlug einer eritreischen Familie vor, mit zu mir zu kommen, dann würden wir eine Lösung suchen. Meine Entscheidung war gefallen, meine »Mission« war die wirkungsvollste, aber auch riskanteste: ihnen über die Grenze zu helfen. Ich würde die Verletzlichsten – Kinder, Jugendliche, Familien, Behinderte – aufnehmen. Und ich würde Bürgerinitiativen in Frankreich, in der Schweiz, Deutschland oder Belgien kontaktieren, die ihnen weiterhelfen konnten. Mein eigentliches Ziel war dabei nicht, ihnen über die Grenze zu helfen, sondern ihnen Risiken zu ersparen.

Einfach wie Hubert

Hubert Jourdan war damals der Einzige in den Alpes Maritimes, der sich öffentlich dazu bekannte, Migranten bei sich aufzunehmen, seit vielen Jahren. Die Wenigen im Royatal, die es ebenfalls taten, taten es diskret, hinter zugezogenen Vorhängen, und sie vermieden es, am Telefon darüber zu reden. Hubert hingegen war das Risiko egal.

Ich fragte ihn: »Wie muss man sich organisieren, um Leute aufzunehmen?«

»Wenn deine Cousine, deine Nichte, dein Kumpel oder dein Nachbar dich besuchen kommt, was tust du dann? Eben, genau so machst du’s!«, antwortete er.

Bei weitem die beste Antwort, die ich zur Organisation der Aufnahme bekommen konnte.

Hubert war über sechzig, er hatte vor mehr als vierzig Jahren zwei Jahre lang bei Abbé Pierre gearbeitet, aber das erfuhr ich erst viel später. Er war auch für große NGOs in humanitären Camps im Ausland gewesen, vor allem in Afghanistan. Jetzt besetzte er mit anderen zusammen Gebäude in Nizza, richtete Anfragen an die Präfektur, organisierte Unterkünfte bei den Bürgern. Er war schließlich daran verzweifelt, dass er sein ganzes Adressbuch abtelefonieren musste, um in Nizza jemanden zu finden, der bereit war, »eine junge Frau und ihr sechs Monate altes Baby« aufzunehmen. Statt sich weiter rumzustreiten, hatte er seine Baracke in La Colle-sur-Loup aufgemacht, um alle aufzunehmen, die sonst niemand haben wollte. Als Sohn eines Staatsanwalts war er zur Achtung vor Recht und Gesetz erzogen worden. Für ihn war sein Handeln ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit, für die Moral, die sein Vater ihm beigebracht hatte, und für die elementarste Gerechtigkeit, auch wenn das nicht immer die des geltenden Rechts ist.

Ich fragte ihn im Frühjahr 2016 öfter um Rat. Damals beherbergte er täglich zwischen zehn und dreißig Personen, und daneben arbeitete er für Habitat et Citoyenneté, eine Initiative, die nach Lösungen für obdachlose Familien sucht. Sie übernimmt den Kontakt zu den Behörden für sie und betreibt einen solidarischen Lebensmittelladen. Hubert lebt Tag und Nacht für den Kampf gegen die Prekarität. Ich verbringe meine Zeit gern mit ihm; bei ihm wird alles einfach, er ist, wie ich auch, ein Pragmatiker.

Zufällig traf ich Lucile in Menton wieder. Das besetzte Haus in Ventimiglia war geräumt worden, sie wartete auf ihren Prozess und hatte dort Aufenthaltsverbot. Ich schlug ihr vor, mitzukommen und den ersten »Internationalen Campingplatz im Royatal« mit mir aufzumachen. Sie war einverstanden. Ich ahnte, dass es nicht lange dauern würde – früher oder später würde man mich in flagranti erwischen und als »Schleuser« verhaften, und dann würde ich vielleicht im Gefängnis landen.

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