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1. Primavera

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Das Motorrad rast die Talstraße hinab, legt sich in die Kurven. Es röhrt auf Hochtouren wie ein alter Traktor, und das Echo hallt von den mit jungen Flaumeichen- und Pinienwäldern, Olivenbäumen und Ginster bewachsenen Felsen wider. Dann, an der Fassade baufälliger Gebäude, so grau wie der Fels im Bett der Roya, sind ein paar fast unleserliche Buchstaben zu erkennen, »Zoll«. Der Mann auf dem Rücksitz klammert sich an die Jacke des Fahrers. Sie kommen aus dem Royatal in den Alpes Maritimes mit ihren schneebedeckten, fast dreitausend Meter hohen Gipfeln.

Sie haben Breil-sur-Roya durchquert, wo an den Ästen der Olivenbäume, im Widerspruch zu den verschneiten Gipfeln, schon kleine Trauben weißer Blüten hängen. Manche beginnen sich bereits zu öffnen und einen milden, süßen Duft zu verströmen, der ein nach Mandeln, Artischocken, frisch gemähtem Gras oder, je nach Reife, nach Heu schmeckendes Öl verspricht. Dieses schöne Tal verbindet die verschneiten Berge im südlichen Piemont mit dem Mittelmeer, Frankreich mit Italien. Zwei Staatsgebiete, die sich dieselbe Landschaft teilen, dieselben Wege benutzen, dasselbe Wasser trinken, denselben Boden nach denselben Riten kultivieren. Der Mond, der Herrscher über die Kulturen, hat dort mehr Macht als die Schrift.

Das Motorrad hat seit ein paar Kilometern die Grenze passiert und befindet sich im Niemandsland, wo alte Gebäude, italienische wie französische, von einer vergangenen Epoche zeugen. Es fährt weiter die Roya entlang bis zu ihrer Mündung in Ventimiglia, einem Touristenstädtchen an der Küste, das für seinen Schmugglermarkt bekannt ist, und wendet sich dann nach Westen in Richtung Menton. Etwa hundert Meter vor der Grenze an der Küste ertönt plötzlich die schrille Stimme des Mitfahrers: »Pass auf, da sind Bullen!«

Auf den Buhnen, Felsblöcken, die die Wellen brechen sollen, stehen etwa hundert ebenholzschwarze Menschen und auf beiden Seiten der vorbeiführenden Straße italienische und französische Polizisten, reglos wie Statuen, die diese Menschen blockieren. Die Atmosphäre ist bedrückend. Der Motorradfahrer meint die sich mischenden Sprachen zu erkennen: Französisch, Italienisch, Englisch, Arabisch. Er erkennt auch Gesichter aus seinem Tal, fragt sie, was los ist, und erfährt, die Menschen mit ebenholzschwarzer Haut sind »Migranten«, die weder Italien noch Frankreich haben will. Sie haben sich auf die Felsen im Meer gestellt und drohen, sich ins Wasser zu stürzen, wenn die Polizei versucht, sie abzutransportieren, und sie können nicht schwimmen. Auf dem Trottoir türmen sich Wasserflaschen und die allernötigsten Dinge zum Leben. Ein Stromaggregat speist eine ganze Reihe von Steckerleisten, an denen dutzende Mobiltelefone aufgeladen werden.

Etwas Derartiges sieht der Motorradfahrer zum ersten Mal in Europa. Er begegnet dem Blick eines etwa zwanzigjährigen Mannes. Eine Narbe unter dem rechten Auge, das etwas gelbliche Weiß der Augen, er flößt ihm kein großes Vertrauen ein. Der junge Mann lächelt ihn an. Verlegen deutet der Motorradfahrer ein leichtes Nicken an und setzt seinen Helm wieder auf. Nach ein paar Metern wird er von italienischen Polizisten kontrolliert, die seine Papiere fotografieren und fragen, was er hier tue.

»Nichts.«

»Ok, buona giornata.«

Als der Motorradfahrer weiterfährt, fühlt er sich unwohl. Der Mann auf dem Rücksitz scheint eine Tonne zu wiegen. Widersprüchliche Gefühle beherrschen ihn, eine Mischung aus Empathie und Verständnislosigkeit. Wer sind diese Leute? Woher kommen sie, wovor fliehen sie? Warum haben sie eine so gefährliche Reise gemacht, um dann auf diesen Felsen zu stranden? Was wollen sie, was erwarten sie? Was für Pläne haben sie, haben sie überhaupt welche?

So, wie sie da standen, so viele auf einmal, sieht er keine Einzelnen mehr, er sieht eine Gruppe – und eine Gruppe macht Angst. Er schafft es nicht, diese Menschen als Einzelne zu sehen, er sieht eine Masse unter dem Oberbegriff »Migranten«. Wie kann man gegenüber einer solchen Menschenmenge Empathie empfinden? All diese Fragen erschrecken ihn. Er fährt nach Hause; dann vergisst er sie.

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