Читать книгу Konzert der Mörder: 11 Strand Krimis - Cedric Balmore - Страница 34
Die tote Tochter
ОглавлениеEin Jack Braden Thriller
von Cedric Balmore
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Der Umfang dieses Buchs entspricht 113 Taschenbuchseiten.
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Die Tochter des Versicherungsdirektors Schindler wird tot aufgefunden, die Obduktion ergibt, dass sie vor ihrem Tod eine größere Menge Rauschgift genommen hatte. Schindler engagiert den Privatdetektiv Jack Braden, um den Mörder und Dealer ausfindig zu machen. Doch schnell stellt sich heraus, dass es sich um eine ganze Organisation handelt – rücksichtslos, gewissenlos, gnadenlos und brutal.
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© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Die Hauptpersonen des Romans:
Julian Schindler – ein tüchtiger Manager, als Vater weniger erfolgreich.
Petra – ein Teenager, der alles probieren will, aber „Khif“ ist zu viel.
Claire – Schindlers Sekretärin, aber was noch?
Claude – ein Mann, der REEFERS verkauft. Beiname: „Der Schläger“
Paolo Finote, Guilio Balito, Arturo Polento – Fruchtimporteur. Spezialität: „Trüffel“
Louis Thrillbroker – Reporter der MORNING NEWS. Will es wieder mal ganz genau wissen.
Jack Braden und sein Team – einen Kopf schlagen sie der Hydra immerhin ab.
1
Staatshospital New York, Nervenabteilung, Haus 37.
Sie liegen apathisch, oder vom Morphium betäubt, auf den Betten. Sie sitzen herum und starren ins Leere. Sie plappern und lachen hysterisch. Sie toben.
Sie sind alle jung, keiner älter als fünfundzwanzig. Sie haben keine Hoffnung mehr. Es ist das Haus des schleichenden Todes.
Selbst Ärzte und Schwestern graust es, wenn sie diese ausgemergelten Elendsgestalten ansehen, die gelben Gesichter, die blicklosen Augen und die zitternden Hände.
Rauschgift!
Dicht daneben liegt das Frauenhaus, in dem es nicht besser aussieht. Mädchen, oft halbe Kinder, die aussehen wie uralte Weiblein, warten auf den Tod. Sie wissen von nichts, ihr Hirn ist eben so krank wie ihre Körper.
Rauschgift!
Mord nennt es der Chefarzt, grausamer, heimtückischer Mord, Mord um des Geldes, um des Gewinns wegen.
2
Der Privatdetektiv Jack Braden saß in seinem Office in der 74. Straße. Nebenan klapperte die Schreibmaschine seiner Sekretärin, der bildhübschen, blondgelockten Dawn Barris.
Es war August, in den Bäumen zirpten die Vögel. Hoch droben über Manhattan jagte ein Düsenclipper seinem Bestimmungsort zu. Kraftwagen surrten, die Untergrundbahn ließ den Boden vibrieren, Menschen jagten ihrem Verdienst nach oder flanierten lässig durch die Straßen.
Es war ein Sommertag über Manhattan, ein Tag wie jeder andere.
Ein junger Mann wurde tot aus dem Hafenwasser gezogen, ein junges Mädchen warf sich vor einen Trolley-Bus ... Auch das geschah jeden Tag in der Millionenstadt New York.
Jack Braden war ans Fenster getreten und blickte hinunter auf den brausenden Verkehr, auf das im Sonnenlicht blitzende Chrom der Straßenkreuzer, und hinauf zum lichtblauen Himmel.
Der Summer der Eingangstür brummte.
Dawn Barris steckte den Kopf durch die Tür.
„Eine Dame möchte Sie sprechen. Sie heißt Elsa Schindler und ist sehr aufgeregt.“
„Schicken Sie sie herein.“
Die meisten Leute, die hilfesuchend zu Jack Braden kamen, waren mehr oder weniger aufgeregt. Dem einen sah man es an, dem anderen nicht. Bei Mrs. Schindler konnte nicht der geringste Zweifel darüber bestehen.
Sie war eine ungefähr 40-jährige Frau, die sicherlich gut ausgesehen hätte, wenn ihr Gesicht nicht vom Weinen verquollen gewesen wäre. Sie war eine Naturblonde mit guter Figur in geschmackvoller Kleidung. An den Fingern, die an einem Taschentuch zerrten und es unbewusst zerfetzten, blitzten ein paar kostbare Ringe.
„Nehmen Sie Platz, Mrs. Schindler“, lud Jack Braden sie ein. „Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.“
„Es ist furchtbar!“, stöhnte sie. „Es ist unfassbar. Mein Mann weiß noch gar nichts. Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll.“
„Was weiß Ihr Gatte noch nicht? Wenn Sie einen Rat und Hilfe von mir wollen, so müssen Sie sich deutlicher ausdrücken.“ Jack Braden holte die Flasche mit Brandy, die er für derartige Klienten im Schrank stehen hatte, und goss ein Glas ein. „Trinken Sie, Mrs. Schindler. Es wird Ihnen gut tun und Sie beruhigen.“
Sie stürzte den Inhalt hinunter, hustete, und dann machte sie den Versuch, sich zusammenzunehmen.
„Es geht um Petra ... Petra ist meine Tochter ... sechzehn Jahre alt.“ Sie wischte ein paar Tränen ab, die ihr über die Wangen rannten. „Petra ist seit zwei Tagen und drei Nächten nicht nach Hause, gekommen.“
„Hat sie einen Boyfriend?“, fragte Braden. Es wäre nicht der erste Fall gewesen, in dem ein junges Ding eines Mannes wegen alles vergisst, um dann meistens nach kurzer Zeit reumütig und geheilt ins elterliche Nest zurückzukehren.
„Selbstverständlich hatte Petra Freunde, Jungen, die sie vom College her kennt, Söhne von Geschäftsfreunden meines Mannes und Kameraden aus dem Tennisclub ... Aber das ist es nicht. Petra war auf einer Party. Sie betonte ausdrücklich, es sei die Party einer Freundin. Sie wollte spätestens um elf Uhr wieder zu Hause sein, aber sie kam nicht.“
„Wie heißt die Freundin?“
„Ich weiß es nicht. Ich hatte Vertrauen zu meinem Kind und habe Petra nicht gefragt. Ich rief alle Bekannten an, aber niemand wusste etwas davon. Ich kann mir nicht denken, wo das Kind geblieben ist.“ Sie brach in lautes Schluchzen aus. „Beruhigen Sie sich, Mrs. Schindler. Wahrscheinlich findet sich eine ganz harmlose Lösung“, versuchte Braden sie zu trösten, obwohl er selbst an diese harmlose Lösung nicht mehr glaubte.
„Man hat Petra entführt! Ich bin sicher! Freiwillig wäre sie nicht weggeblieben“, behauptete die Frau.
„Wenn das so wäre, so hätten sich die Entführer bestimmt schon gemeldet. Derartigen Leuten geht es darum, möglichst schnell Lösegeld zu erpressen.“
„Oder man hat sie verschleppt, nach Mexiko! Gestern erst stand so ein Fall in der Zeitung.“
„Haben Sie ein Bild von Ihrer Tochter?“
Sie kramte in ihrem Täschchen, warf nacheinander Lippenstift, Spiegel und einen Schlüsselbund auf die Erde und legte endlich eine Fotografie in Postkartengröße auf den Schreibtisch.
Das Mädchen auf dem Bild war durchaus kein Kind mehr. Es war bildschön, mit schwarzem, bis auf die Schulter fallendem Haar, mandelförmigen, etwas geschlitzten Augen, die dem feinen Gesicht mit den vollen Lippen einen exotischen Ausdruck gaben, und der Figur einer Zwanzigjährigen. Sie trug einen Bikini und saß in herausfordernder Pose auf dem Geländer eines Schwimmbeckens.
„Hm!“, brummte der Privatdetektiv.
Er wollte der harmlosen Mutter nicht sagen, dass er ihr 16-jähriges Töchterchen für einen kleinen Satan hielt.
„Lassen Sie mir dieses Foto hier, und geben Sie mir eine Liste der besten Freundinnen Ihrer Tochter. Drei oder vier genügen. Im Übrigen würde ich Ihnen raten, vernünftig mit Ihrem Mann zu reden. Sagen Sie ihm, er solle sich mit mir in Verbindung setzen. Inzwischen werde ich alles Erdenkliche tun, um Petra aufzustöbern.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mister Braden!“ Sie streckte ihm beide Hände entgegen, die er mit besänftigendem Druck ergriff.
„Es wird schon alles gut gehen, Mrs. Schindler!“, sagte er im Brustton einer Überzeugung, die er durchaus nicht hatte.
Die Frau wollte aufstehen, besann sich anders und zog ein Scheckbuch aus der Tasche.
„Lassen Sie das vorläufig, Mrs. Schindler. Die Honorarfrage erledige ich dann mit Ihrem Gatten.“
„Aber Sie werden doch Unkosten haben. Ich möchte nicht, dass nur des Geldes wegen etwas versäumt wird.“
„Es wird nichts versäumt werden. Schicken Sie mir Ihren Gatten.“
„O Gott, Julian! Ich weiß wirklich nicht, wie ich es ihm beibringen soll. Er ist so korrekt und so streng. Er wird es nie begreifen!“
„Dann werde ich ihn anrufen und zu mir bestellen. Geben Sie mir seine Telefonnummer.“
„Ach, wenn Sie das tun wollten! Bitte legen Sie ein gutes Wort für Petra ein. Er wird rasend sein. Er wird seine Drohung wahrmachen und Sie in ein strenges Internat stecken. Das arme Kind!“
„Ich werde vernünftig mit Ihrem Gatten reden. Verlassen Sie sich darauf.“
Mrs. Schindler zog eine Visitenkarte heraus und kritzelte ein paar Worte darauf.
„Hier! Julian ist Managing Director der Concordia Life Insurance Cy. Ich habe die Telefonnummer dazu geschrieben. Ich fürchte nur, dass er überhaupt nicht kommen wird. Er wird Sie ausfragen, nach Hause fahren und mir eine Szene machen. Er wird die Polizei benachrichtigen, und das ist es gerade, was ich vermeiden will.“
„Dann werde ich eben zu Ihrem Mann gehen.“
Mrs. Schindler überbot sich in Danksagungen und verabschiedete sich.
Jack Braden drückte auf den Knopf auf seinem Schreibtisch, und Dawn Barris kam hinübergeeilt.
„Seien Sie so gut, Mrs. Schindler hinunter zu ihrem Wagen zu begleiten. Sie steuern doch hoffentlich nicht selbst?“
„Nein. Ich habe den Fahrer mit.“
Noch bevor die Sekretärin zurückkam, rief Jack Braden die Stadtpolizei an. Er ließ sich mit dem Unfalldezernat, der Kartei für vermisste Personen, der Meldestelle für Krankenhäuser und mit der Sittenpolizei verbinden.
Nirgends war etwas von einem Mädchen namens Petra Schindler bekannt. Das aber sagte noch nichts; er würde den betreffenden Stellen das Bild vorlegen müssen.
Dawn Barris kam zurück.
„Ich habe durchs Mikrophon zugehört“, sagte sie. „Die Frau scheint mir reichlich naiv zu sein. Übrigens fährt sie den neuesten Cadillac und hat einen hochherrschaftlichen Chauffeur. Die Leute müssen vor Geld stinken.“
„Das dachte ich auch schon. Es ist das übliche Lied; ein Backfisch, und dazu noch ein bildschöner Backfisch, aus reicher Familie. Der Vater ist ein Haustyrann und die Mutter zu weich und blindlings verliebt in ihr Töchterchen. Natürlich hat die Kleine das ausgenutzt und zugleich gegen die Sturheit des Vaters, der ihr bei jeder Gelegenheit drohte, er werde sie in ein Internat stecken, rebelliert. Ich möchte darauf schwören, dass sie zu viel Geld in den Fingern hatte und über die Stränge schlug. Es würde mir leid tun, wenn dem Mädel etwas zugestoßen wäre.“
Dawn Barris hatte das Bild in die Hand genommen. Sie betrachtete es leicht amüsiert und dann nachdenklich.
„Ein süßer Käfer!“, meinte sie. „Und ein kleiner Teufel, dem ich einen dummen Streich zutraue.“
„Wenn es nur ein dummer Streich ist, so bin ich zufrieden“, antwortete Jack Braden.“ Jetzt werde ich mir zuallererst den gestrengen Herrn Vater kaufen. Verbinden Sie mich mit der Concordia Life Insurance. Hier ist die Nummer.“
3
„Ich möchte Mister Schindler, Ihren Generaldirektor sprechen“, sagte Jack Braden.
„Wer sind Sie, und in welcher Angelegenheit?“, kam es zurück.
„Ich bin Jack Braden von der Braden Investigation. Mein Anliegen ist privat und persönlich.“
„Ich verbinde.“
Wieder eine Mädchenstimme, kurz und energisch: „Hier Sekretariat der Geschäftsleitung. Was wünschen Sie?“
„Ich wünsche Mister Schindler, und zwar schnell. Sagen Sie dem Herrn, es sei dringend.“
„Ich bedaure, Mister Schindler ist in einer Konferenz. Vielleicht nennen Sie mir Ihren Namen und Ihr Anliegen. Dann werde ich Sie vornotieren, und Sie erhalten von uns schriftlich einen Termin.“
„Ich pfeife auf Ihre Konferenz!“ Braden begann, die Geduld zu verlieren. „Melden Sie Mister Schindler, ich müsse ihn in seinem eigenen Interesse sofort sprechen ... Es handelt sich um seine Tochter.“
„Ich werde es versuchen. Bitte warten Sie.“
Es vergingen unendlich lange Minuten. Dann ertönte eine befehlsgewohnte Stimme: „Hier Generaldirektor Schindler. Was wollen Sie? Machen Sie es kurz.“
„Wie Sie wollen, Mister Schindler. Ich hätte Ihnen die Nachricht gerne schonend beigebracht. Ihre Tochter Petra ist verschwunden. Ihre Frau macht sich große Sorgen. Ich befürchte, dass diese Sorgen nicht unberechtigt sind. Soll ich zu einer Rücksprache zu Ihnen kommen, oder wollen Sie mich aufsuchen?“
Einen Augenblick hörte man nur schnellen Atem, und dann: „Wenn Sie mich erpressen oder schröpfen wollen, so sind Sie an die falsche Adresse gekommen. Was ist mit meiner Tochter?“
„Es tut mir leid, dass ich auf diesen Ton nicht eingehen kann. Ich habe Ihnen helfen wollen. Wenn Sie jedoch meiner guten Absicht unlautere Motive unterschieben wollen, so verzichte ich auf eine Besprechung mit Ihnen, bin aber nach Lage der Dinge verpflichtet, der Polizei Meldung zu machen.“
„Was soll das heißen? Was hat die Polizei mit meinen Familienangelegenheiten zu tun?“
„Eine ganze Menge, Mister Schindler. Ihre Tochter ist seit zweiundsiebzig Stunden verschwunden. Sie hatte ihrer Mutter gesagt, sie gehe zur Party einer Freundin und ist nicht wieder nach Hause gekommen. Ich kann ein Verbrechen nicht ausschließen, und darum ist es meine Pflicht, die Stadtpolizei zu benachrichtigen.“
Eine lange Zeit blieb es still. Dann sagte Mr. Schindler: „Kommen Sie sofort zu mir. Wie lange kann das dauern?“
„Eine Viertelstunde.“
„Also um halb elf. Ich bitte mir Pünktlichkeit aus.“
Jack Braden legte auf. Dieser Mr. Schindler war ihm alles andere als sympathisch. Nun, er war schon mit anderen Leuten fertig geworden.
4
Im Hunter College in der Lexington Avenue standen in einer Ecke ein Mädchen und zwei Jungen von ungefähr 16 oder 17 Jahren zusammen. Ihre Gesichter waren blass und übernächtigt. Das Mädchen trug Blue Jeans und einen viel zu weiten, hellgrauen Pullover. Ihre dunklen Haare fielen ihr lang und strähnig bis auf die Schultern.
Die beiden Jungen trugen dieselbe Kleidung – nur die Farben waren verschieden –, und auch ihre Frisuren schrien nach der Schere.
„Was ist heute Nacht eigentlich passiert? Sag‘s schon, Mildred“, flüsterte einer der Bengels und sah sich dabei ängstlich um.
„Ich weiß es nicht, Jesse“, antwortete das Mädchen. „Petra und ich waren high. Wir hatten zu viel Khif im Blut. Vor allem Petra, die noch nicht daran gewöhnt war, spielte verrückt. So nahm ich sie mit nach der kleinen Grünfläche an der fünfundvierzigsten Straße, damit sie etwas zu sich komme. In diesem Zustand konnte sie ja nicht nach Hause gehen. Mit der Zeit wurde ihr besser, und dann bekam sie den Moralischen. Sie heulte und sagte, sie werde ihrem Vater alles beichten, auch wenn er sie dann in ein Internat stecke. Sie war laut, viel zu laut, und in dem kleinen Park war es dunkel. Wir merkten erst, dass jemand uns zuhörte, als er vor uns stand. Ich konnte ihn nicht genau erkennen – es war ja stockfinster, aber der Stimme nach war es Claude.
Was, du willst mich verpfeifen, du Kröte!, zischte er. Das werde ich dir eintränken! Allen beiden werde ich es euch eintränken! Ich erschrak tödlich und rannte weg. Ich hörte noch, wie Petra schrie, und dann war alles still.“
„Meinst du, er hätte ihr etwas getan?“
„Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist sie nicht hier. Heute morgen ganz früh hat ihre Mutter bei uns angerufen und wollte wissen, ob ich sie gesehen habe. Ich sagte natürlich Nein.“
„Dann halte den Schnabel, Mildred. Du kannst nichts mehr daran ändern. Wahrscheinlich hat er Petra verprügelt. Wenn wir gefragt werden, so wissen wir von nichts.“
5
Jack Braden nahm sich Zeit. Kurz nach halb elf stoppte er vor dem viereckigen Kasten aus Glas und Beton, der die Concordia Life Insurance beherbergte.
Alles ging wie am Schnürchen. Der Portier winkte einem Pagen, und der begleitete Braden in den Expresslift und dann in der 22. Etage einen Gang hinunter, von dem auf beiden Seiten unzählige Türen abgingen. An einer dieser Türen stand „Sekretariat General Manager.“
„Hier ist es.“
Jack Braden trat ein. Es war das übliche Bild. Ein paar sehr kompetent aussehende, bebrillte Mädchen schrieben und tippten. Als er seinen Namen nannte, sagte eine davon mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Uhr:
„Sie werden bereits erwartet, Mister Braden.“
Das Office des Mr. Schindler war ein kleiner Tanzsaal, mit Teppichen ausgelegt, und hinter einem Schreibtisch, an dem drei Leute Platz gehabt hätten, saß Mr. Julian Schindler.
Trotz der warmen Witterung trug er einen tadellosen Börsenanzug und auf dem blendend weißen Hemd einen hellgrauen Schlips. Trotzdem er saß, stellte Braden fest, dass er über den Durchschnitt groß sein musste. Sein strenges Gesicht mit den dunklen, etwas zusammengekniffenen Augen und der mächtigen Nase erinnerte an einen Staatsmann, dessen Bild man häufig in der Presse bewundern kann.
„Good morning, Mister Schindler“, grüßte der Privatdetektiv.
Der Versicherungsboss warf, genau wie seine Sekretärin, einen Blick auf die Armbanduhr und knurrte: „Sie sind fünf Minuten zu spät.“
Er erhielt keine Antwort. Jack Braden setzte sich und wartete.
„Und nun erzählen Sie mir Ihren Roman noch einmal! Ich habe inzwischen mit meiner Frau gesprochen, konnte aber am Telefon nichts von ihr erfahren. Der Teufel hole die Weiber!“
Auf diesen Wunsch ging Braden nicht ein. Er berichtete mit kurzen Worten, was Mrs. Schindler ihm gesagt hatte, und ebenso, dass die Stadtpolizei nichts von Petra wusste.
„Sie hat weder einen Unfall gehabt, noch ist sie plötzlich erkrankt“, sagte er.
„Wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, die Polizei zu fragen?“, fragte Schindler und trommelte auf dem Schreibtisch.
„Ihre Gattin hat mich beauftragt, nach Petra zu forschen. Natürlich war mein erster Gedanke, sie könne einen Unfall gehabt haben. Aber, ich möchte fast sagen, leider trifft das nicht zu.“
„Wahrscheinlich hat sie etwas angestellt und fürchtet sich, nach Hause zu gehen. Ich kenne das“, war die Antwort.
Bevor Jack Braden darauf erwidern konnte, klingelte es. Ein junges Mädchen zwischen 17 und 18 Jahren kam mit einer Unterschriftenmappe herein. Als sie Braden sah, wurde sie rot und wollte wieder verschwinden, aber Schindler hielt sie zurück.
„Kommen Sie nur her, Claire. Der Herr beißt nicht.“
Sie legte die Mappe hin und ging.
Es schien wirklich so, als ob der so korrekte Mr. Schindler Erfahrung mit 17-jährigen hatte und wusste, wie es ihnen zumute war, wenn sie „etwas angestellt“ hatten.
Braden ließ sich nichts anmerken, und Mr. Schindler schien die Beobachtungsgabe eines Privatdetektivs sehr gering einzuschätzen.
„Und was wollen Sie nun eigentlich?“, fragte der Manager.
„Ich will gar nichts. Ihre Gattin hat mich flehentlich gebeten, nach Ihrer Tochter zu suchen. Ich wollte das natürlich nicht ohne Ihre Einwilligung tun.“
„Und ohne mein Geld! Privatdetektive sind im Allgemeinen nicht gerade billig.“
„Auch Versicherungen sind nicht gerade billig, Mister Schindler. Selbstverständlich werde ich Ihnen meine Spesen berechnen. Mein Honorar richtet sich nach der finanziellen Lage des Klienten.“
„Aha!“
„Ich will mich Ihnen absolut nicht aufdrängen, Mister Schindler. Sie können eine andere Agentur beauftragen oder auch gar nichts tun. Das bleibt Ihnen überlassen.“
Mr. Schindler schien unschlüssig zu sein. „Sie haben selbstverständlich eine Lizenz?“
„Hier ist sie. Außerdem können Sie sich beim High Commissioner der Stadtpolizei und, wenn Sie wollen, beim First Agent des Federal Bureau of Investigation, Mister Gilford, nach mir erkundigen.“
„Hm.“
Das Telefon klingelte.
„Für Sie“, sagte der Generaldirektor und reichte den Hörer hinüber.
Es war die Citizen Police, Leutnant Bob Temper von der Mordkommission II.
„Hello, Jack! Miss Barris hat mir gesagt, wo ich Sie erwischen könnte. Ich erfahre, dass Sie sich vorhin nach einem Mädchen namens Petra Schindler erkundigt haben. Ich weiß nicht, ob sie es ist, aber sowohl ihr Taschentuch als auch ihre Wäsche ist mit den Buchstaben P.S. gezeichnet.“
„Was ist mit ihr?“
„Sie wurde ermordet. Man hat sie vor einer halben Stunde in einem kleinen Park an der sechsundvierzigsten Straße, das heißt mitten in Teufels Küche, unter einem Busch erwürgt aufgefunden.“
„Wie sieht sie aus?“
„Wie eine achtzehn- oder neunzehnjährige. Sie hat langes, schwarzes Haar und muss im Leben sehr hübsch gewesen sein.“
„Ich komme sofort hin, um sie mir anzusehen.“ Jack Braden legte auf.
„Nun, Sie scheinen ja ein recht munteres Geschäft zu haben!“, grinste Mr. Schindler.
„Der Anruf betraf Ihre Tochter Petra.“
„Tatsächlich! Wo hat sie sich herumgetrieben?“
„Mister Schindler, es tut mir aufrichtig leid, dass meine Ahnung mich nicht getrogen hat. Ihre Tochter ...“ Braden suchte nach Worten.
„Was ist mit Petra? Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“
„Petra ist tot. Sie wurde wahrscheinlich heute Nacht ermordet.“
Der Ausdruck im Gesicht des allmächtigen Managing Directors veränderte sich schlagartig. Er wurde blass. Sein Mund sackte, seine Fäuste ballten sich.
„Sie lügen!“, schrie er.
„Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber ich glaube es nicht. Trägt die Wäsche Ihrer Tochter das Monogramm P.S.?“
„Das weiß ich nicht.“
„Nun, man hat ein junges Mädchen, in dessen Taschentuch und Wäsche dieses Monogramm eingestickt ist, tot an der sechsundvierzigsten Straße gefunden. Die Beschreibung passt auf Ihre Tochter.“
„Wo ist sie?“
„Im Polizeihauptquartier im Leichenschauhaus.“
Mr. Schindler sprang auf und stürmte hinaus. Braden konnte ihm kaum folgen. Im Vorzimmer rief Schindler den Mädchen zu: „Meinen Wagen! Es eilt!“
Die große Luxuslimousine mit dem livrierten Fahrer am Steuer stand bereits mit laufendem Motor. Schindler sprang hinein.
Braden musste sich beeilen, damit er ihn nicht aus den Augen verlor. Knapp zehn Minuten später stoppten sie dicht hintereinander vor dem Polizeigebäude.
Detektiv-Leutnant Temper, der Chef der Mordkommission II, sah aus wie ein neugeborenes Kind, mit rosigen Bäckchen und seidenweichem Haar. Niemand hätte in ihm einen der tüchtigsten Polizeidetektive New Yorks vermutet.
Auf seinem Schreibtisch zwischen Akten und Schriftstücken lag eine Handtasche. Es war eine kleine Handtasche aus rotem Lackleder.
Schindler war stehen geblieben. Er starrte auf das kleine, glänzende Täschchen, als ob es sonst nichts in dem Raum gäbe.
„Woher haben Sie das?“, fragte er gepresst.
Braden gab dem Leutnant einen Wink, und der begriff.
„Wir haben es gefunden?“
„Wo haben Sie es gefunden? Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort abkaufen!“, brauste der Direktor auf.
„In einem Gebüsch im Park der sechsundvierzigsten Straße, dicht neben dem Körper eines ermordeten Mädchens.“
Der große, kräftige Mann schwankte. Er hielt sich am Schreibtisch fest. Als Braden ihm einen Stuhl hinschob, brach er darauf zusammen und vergrub das Gesicht in beiden Händen.
Braden nahm Petras Bild heraus und reichte es dem Leutnant hinüber. Temper warf einen Blick darauf und nickte.
Es dauerte lange, bis Mr. Schindler die Hände vom Gesicht nahm und sich aufrichtete.
„Wo ist sie? Ich will sie sehen.“
„Wäre es nicht besser, wenn Sie damit noch etwas warten würden? – Sie müssen verstehen, es ist kein schöner Anblick.“
„Ich will sie sehen!“, forderte Schindler stur. „Ich will ganz sicher sein.“
Sie gingen über den Gang zum Paternoster und fuhren hinunter in den Keller. Die Luft hier unten war feuchtkalt. Sie gingen durch den weißgetünchten Korridor bis zu der grün gestrichenen, eisernen Tür und durch sie in den Vorraum des Leichenkellers.
Braden fröstelte.
„Einen Augenblick.“ Leutnant Temper verschwand in dem kleinen Büro des Wärters.
„Hier drüben.“
Es war ein Raum mit weißen Wänden, weißem Fußboden und weißen Möbeln.
Auf einem Tisch lagen Wäsche und Kleidungsstücke. Die Wäsche war mit P.S. gezeichnet.
„Kennen Sie die Sachen?“, fragte Leutnant Temper.
Schindler schüttelte den Kopf. „Wo ist sie?“, drängte er.
Als der Leutnant eine weitere Tür öffnete, schob Schindler ihn beiseite und ging als erster hinein.
Der Polizeiarzt, Doc Turner, zog ein Leinentuch über etwas, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte, und drehte sich um. Bevor jemand den Direktor der Concordia daran hindern konnte, stand Schindler an dem Seziertisch und riss die Hülle von dem Gesicht der Toten.
Er warf nur einen langen Blick auf die entstellten Züge, zog das Tuch leise und zärtlich wieder darüber und ging nach draußen.
Als die drei Männer im Office des Leutnants ankamen, war Schindlers Gesicht eine starre Maske. Er setzte sich. Er nahm eine Zigarre aus dem Etui, duldete es, dass Braden ihm Feuer gab, aber er dankte nicht. Er sog den Rauch in die Lungen und stieß ihn wieder aus.
„Was haben Sie bis jetzt getan, und was gedenken Sie noch zu tun, um den Mörder meiner Tochter zu fassen und zur Verantwortung zu ziehen?“, fragte er mit derselben beherrscht kalten Stimme, mit der er in seinem Betrieb Befehle gab oder Rügen erteilte.
„Bis jetzt kann ich noch nichts sagen, Mister Schindler“, erklärte der Leutnant. „Meine Leute sind noch dabei, am Tatort nach Spuren zu suchen und sicherzustellen. Der Arzt ist der Ansicht, dass der Mord gestern Abend zwischen elf und zwölf Uhr begangen wurde. Das ist so ziemlich alles, was wir bis jetzt wissen.
Ich weiß nicht, ob Ihnen die Gegend zwischen der neunten und zehnten Avenue und der sechsundvierzigsten bis vierundvierzigsten Straße bekannt ist. Man nennt sie die Teufelsküche. Sie wird beherrscht von Banden von Jugendlichen, die dort allen möglichen Unfug anstellen und mitunter auch Verbrechen begehen. Es gibt dort eine Unmenge von Kellerkneipen, in denen getanzt, getrunken und Haschisch geraucht wird. Wir sind gerade dabei, alle diese Lokale durchzukämmen. Ob wir dabei ein Resultat erzielen, ist sehr zweifelhaft. Die Leute in dieser Gegend halten zusammen. Selbst wenn jemand Ihre Tochter kennt oder etwas über den Mord weiß, so wird er den Mund halten. Es ist lebensgefährlich, über dergleichen zu reden.“
„Das sind Redensarten. Ich verlange, dass der Mörder schnellstens gefunden wird! Verstehen Sie mich, Leutnant, ich verlange! Es kann nicht schwer sein, fest zustellen, wer meine Tochter in diese scheußliche Gegend verschleppt hat. Freiwillig ist sie niemals hingegangen. Ich will Sie jetzt nicht mehr in Ihren Bemühungen aufhalten. Ich erwarte schnellstens eine Erfolgsmeldung.“
Er stand auf, nickte kurz und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke, drehte er sich nochmals um.
„Wann ... Wann kann ich sie haben?“, fragte er.
„Sowie der Arzt die unbedingt nötige Untersuchung beendet hat. Ich werde Ihnen Bescheid geben.“
Direktor Schindler ging wortlos hinaus. Braden folgte ihm. Schindler drehte sich nach ihm um.
„Ich möchte Sie noch sprechen, Mister Braden. Kommen Sie in mein Büro.“
Die Unterredung im Gebäude der Concordia Life Insurance war kurz. Schindler schrieb einen Scheck über fünftausend Dollar aus.
„Hier, damit Sie nicht glauben, Sie müssten sparen. Ich verzichte auf Abrechnung. Die Polizei mag tüchtig sein, aber zu schwer beweglich. Tun Sie, was Sie können. Wenn Sie auf Schwierigkeiten stoßen, so wenden Sie sich an mich. Mein Vetter sitzt im Stadtrat und ein entfernter Verwandter im Repräsentantenhaus. Ich kann Ihnen jederzeit den Rücken decken.“
„Ich brauche noch verschiedene Angaben über Freundinnen, Bekannte und so weiter“, erinnerte Braden.
„Wenden Sie sich an meine Frau. Ich weiß davon nichts. Sagen Sie einmal, kann man irgendwie vermeiden, dass die Sache in die Zeitung kommt?“
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Die Reporter im Presseraum des Hauptquartiers wissen sicherlich bereits Bescheid. Die Nachricht von einem derartigen Mord lässt sich nicht unterdrücken.“
„Auch das noch!“
Braden hob die Schultern, grüßte noch einmal und ging.
6
Am Pier 59 im Hudson, da wo die 18. Straße auf den Express-Highway mündete, lag der Dampfer ALICANTE der Panama Pacific Line mit einer Ladung Bananen. Die noch unreifen Früchte wurden in Netzen an Land befördert. Dabei brachen von den Stauden einzelne Früchte ab, die in Säcke gestopft und so auf die bereit stehenden Lastkraftwagen verladen wurden. Es konnte nicht auffallen, dass einige Säcke bereits gefüllt von Bord gebracht wurden.
Eine Reihe von Fahrzeugen verließ das Hafengelände. Es waren im ganzen 27 mit Bananen beladene Wagen. Sie fuhren den Express-Highway entlang über den Lincoln-Tunnel hinweg, bis zu den Fruchtschuppen am Lincoln Square.
Niemand kümmerte sich darum, dass in der 46. Straße einer der Laster ausscherte, die Elevenths Avenue kreuzte und durch einen Torbogen verschwand. Im Hof standen bereits zehn oder zwölf Arbeiter bereit. Im Nu war das Fahrzeug entladen und die Säcke in einem kleinen Schuppen gestapelt.
Es waren merkwürdige Bananen, die sich in diesen Säcken befinden mussten. Sie rochen nicht wie Früchte, sondern ähnlich wie Heu, nur viel strenger.
Dieser fremdartige Geruch fiel auch einem ungefähr 16-jährigen Jungen auf, der neugierig in dem Hof herumschnüffelte. Schnuppernd ging er auf den kleinen Schuppen zu und stieß einen der Arbeiter vertraulich in die Seite.
„Hör mal! Kannst du mir davon nicht eine Handvoll abgeben?“, grinste er. „Habe lange nichts mehr davon gehabt. Der Stoff ist zu teuer für mich.“
Der Angeredete starrte dem Bengel ins Gesicht, und dann packte er ihn mit hartem Griff am Kragen und riss ihn in den Schuppen. Der Junge wollte schreien, aber eine Hand legte sich über seinen Mund. Er brachte nur ein Gurgeln heraus.
Die Tür des Schuppens knallte zu.
Am nächsten Morgen wurde Bill Moses aus dem Hudson gefischt. Wie der als gutmütig bekannte Junge dahin geraten war, blieb ein Rätsel.
7
Jack Braden war gerade in seinem Office angekommen, als Dawn Barris, seine Sekretärin und Vertraute, den Hörer des Fernsprechers abnahm.
„Braden Investigation“, meldete sie sich, und dann: „Für Sie, Jack.“
Es war Detektiv Leutnant Temper von der Citizen Police.
„In der Mordsache Petra Schindler hat sich etwas Überraschendes ergeben“, sagte er. „Beschäftigen Sie sich noch damit?“
„Ja. Ich habe den offiziellen Auftrag und einen großzügigen Vorschuss bekommen.“
„Petra Schindler hat Haschisch im Blut. Sie muss kurze Zeit, bevor sie ermordet wurde, geraucht haben, und zwar mehr, als sie vertragen konnte.“
„Das wäre eine Erklärung, auch für ihr Ausbleiben. Man hat sie zu einer Party eingeladen, und wahrscheinlich war es eine Reefer-Party. Was sie tat, als sie berauscht war, kann man nur ahnen.“
„Sie war übrigens nicht allein. Unter der Bank, die vor dem Gebüsch stand, wurde ein hellgrauer Perlonhandschuh gefunden, während die Tasche der Ermordeten ein Paar weiße Handschuhe enthielt.“
„Sie müsste also in Gesellschaft eines anderen Mädchens gewesen sein. Das passt eigentlich gar nicht ins Bild. Ich kann mir nicht denken, dass ein Girl das andere erwürgt hat.“
„Im Marihuana-Rausch geschehen noch ganz andere Dinge“, meinte der Leutnant. „Aber in diesem Falle glaube auch ich nicht daran. Doktor Turner behauptet, an Hand der Würgemale zu der Überzeugung gekommen zu sein, der Täter sei ein Mann gewesen.“
Braden bedankte sich und legte auf.
„Eine scheußliche Geschichte“, sagte er zu Sunny. „Wenn diese Gören wüssten, was sie damit anrichten, so würden sie die Finger davon lassen.“
„Ich jedenfalls würde so etwas niemals tun“, sagte Miss Barris. „Ich habe einmal gerochen, als jemand eine Reefer rauchte. Das Zeug stinkt so gemein, dass ich mich nie daran wagen würde.“
„Dann schon lieber ein paar Schnäpse, wenn es unbedingt sein muss! Dabei fällt mir ein, dass ich etwas vorhabe, wozu ich mich am liebsten mit einem Scotch oder Brandy stärken möchte. Ich muss zu Mrs. Schindler. Ich hoffe, dass ihr Mann sie wenigstens inzwischen unterrichtet hat.“
„Können Sie das nicht bis morgen verschieben, Jack?“
„Es geht nicht. Petra hat sich bestimmt nicht von einem Fremden zum Rauchen verführen lassen. Es muss eine Freundin oder ein Freund gewesen sein, und dann muss Mrs. Schindler den Namen kennen.“
„Vielleicht wäre es gut, wenn ich Sie begleite, Jack?“
„Bleiben Sie lieber weg, Sunny. Helfen können Sie doch nichts.“
Jack Braden fuhr hinüber nach Staten Island, wo die Familie Schindler in der vornehmsten Gegend von Richmond ein Haus besaß. Als er nach mehr als zwei Stunden zurückkam, fühlte er sich vollkommen erledigt. Aber er hatte eine lange Liste mit Namen und wusste, dass Petra das Hunter College in der Lexington Avenue besucht hatte.
Dieses College wollte er zuerst besuchen, aber am selben Tag war das nicht mehr möglich. Es war bereits drei Uhr. Er würde dort niemand mehr antreffen.
Also erledigte er vorläufig zwei Telefonanrufe. Er sprach mit George Patterson, einem ehemaligen Sergeanten der Stadtpolizei, der jetzt in der 21. Straße West ein kleines Waffengeschäft betrieb und des öfteren und mit viel Vergnügen Aufträge von Jack Braden entgegennahm und sie schnell und gewissenhaft erledigte.
„Hören Sie, George!“, sagte er. „Seien Sie so gut und bringen Sie heraus, was sich so auf dem Haschischmarkt tut. Besonders interessiert mich die Gegend von Hells Kitchen. Sie haben wahrscheinlich in der Mittagszeitung gelesen, dass dort ein Mädchen aus guter Familie – ein Name wurde nicht genannt –, ermordet aufgefunden wurde. Das Mädchen ist, vertraulich gesagt, die Tochter des Managing Director der Concordia Life Insurance. Sie wurde irgendwie dorthin verschleppt und mit Haschisch vollgepumpt. Was danach geschah, weiß ich nicht. Vielleicht gelingt es Ihnen, etwas aufzuschnappen. Ich kann mir nicht denken, dass nicht davon geredet wird.“
Der zweite Anruf galt Mr. Anthony Gilford, First Agent der New Yorker Filiale des FBI in der 69. Straße, und ihm stellte er dieselbe Frage.
„Selbstverständlich beschäftigen wir uns laufend mit den überhand nehmenden Importen von Haschisch“, sagte Gilford. „Wir haben vor einigen Wochen ein paar Großhändler, die das Zeug teilweise aus Paris, teilweise direkt aus dem Orient, hierher schmuggelten, unschädlich gemacht und glaubten, die Quellen verstopft zu haben. Dem ist aber leider nicht so. Unsere Boys sind fieberhaft tätig, und ich hoffe, dass wir in absehbarer Zeit Erfolg haben werden. Aber Sie wissen, wie es ist, Jack. Der Rauschgifthandel ist wie eine Hydra. Wenn man einen Kopf abschlägt, so wachsen ein paar neue nach.“
„Das ist ein altes Lied, Tony. Wenn Sie etwas Positives erfahren, so würde ich mich freuen, wenn Sie mir Bescheid gäben.“
8
Es war Abends nach zehn Uhr, als Jack Braden am Haus Nummer 132 der 66. Straße East vorfuhr.
Ein paar Minuten später kam Dawn Barris aus der Tür. Wäre Braden nicht darauf vorbereitet gewesen, er hätte Sunny nicht erkannt. Ihre blonden Haare waren glatt gekämmt und reichten ihr bis fast auf die Schultern. Sie hatte sich Lidschatten und einen brennend roten Mund geschminkt, im Übrigen war ihr Gesicht blass. Sie trug Bluejeans und einen Pullover wie die Mädchen in den Künstlerkneipen und Jazzkellern.
Auch Braden selbst hatte sich entsprechend zurechtgemacht. Seine spitzen Schuhe, Röhrenhosen und der Rollkragenpullover ließen ihn echt erscheinen, so lange man nicht allzu genau hinsah. Sein Gesicht hatte er nicht verändern können, aber er hatte auf eine zweite Rasur verzichtet.
„Ich lasse meinen Porsche hier stehen“, sagte er. „Der wäre zu auffallend. Wir nehmen Ihren Plymouth.“
Es ging Madison Avenue entlang und dann die 42. West hinauf.
„Waren Sie schon einmal in Hells Kitchen, Sunny?“, fragte Jack Braden.
„Wo denken Sie hin, Jack! Ich bin doch ein anständiges Mädchen.“
„Dann werden Sie heute Abend Ihr blaues Wunder erleben. In Teufelsküche hatten noch vor dreißig Jahren die Gangster ihre Hauptquartiere. Dann wohnten arme Schlucker aus Irland, Italien, Griechenland und Polen dort. Und seit zehn Jahren sind die Puertoricaner eingezogen. Seitdem herrscht Krieg dort.“
„Wie soll ich das verstehen, Jack?“
„Man macht Klamauk, man amüsiert sich, man prügelt sich, und man rammt sich gegenseitig Messer in den Bauch, wenn man nicht zufällig über eine Kanone verfügt.“
„Das sind ja herrliche Aussichten!“, lachte Sunny, aber das Lachen klang etwas gezwungen.
Je weiter sie nach Westen kamen, um so grauer und trostloser wurde die Gegend, um so mehr häuften sich Kneipen, Bars, Tanzlokale und Music-Halls.
Trupps von Jugendlichen sangen, unterhielten sich und randalierten. Es waren Weiße und Puertoricaner, die einander aber tunlichst aus dem Weg gingen.
„Augenblicklich scheint Waffenstillstand zu herrschen. Aber wehe, wenn es irgendwo Krach gibt“, sagte Jack Braden.
Vor einer Bar, auf deren Schild der Name BARCELONA prangte, stoppte Jack Braden.
„Haben Sie Angst, Sunny? Wären Sie nicht vielleicht doch lieber zu Hause geblieben?“
„Nonsens! Außerdem habe ich meine kleine Pistole eingesteckt.“
„Dann waren Sie fürsorglicher und vielleicht sogar klüger als ich“, lachte er. „Die meine liegt im Office im Schreibtisch.“
Die Straße war schmal und schlecht beleuchtet. Ein braunes, junges Ding in grellbuntem Fähnchen flanierte vorbei, drehte sich nach Braden um und lockte: „Na, Süßer!“
Ein junger Bursche kam aus der Tür der Bar getorkelt, blieb einen Augenblick stehen und starrte Dawn Barris ins Gesicht.
„Hello, Darling! Komm, lass den Affen sausen. Wir machen einen Bummel.“
Schimpfend stand er an die Hauswand gelehnt, als die beiden im Lokal verschwanden.
Drinnen lagen dicke Tabakrauchschwaden über den vollbesetzten Tischen. Auf den Barhockern hingen Gäste beiderlei Geschlechts. Einzelne schliefen, während andere mehr oder weniger angetrunken waren. Die meisten waren jung, zwischen sechzehn und Mitte der Zwanzig. Die meisten waren schäbig gekleidet, aber es gab auch eine Anzahl, denen man ansah, dass sie eigentlich nicht hierher gehörten. Man trank billigen Gin, undefinierbare Cocktails, Bier und süße Limonaden.
Mit Mühe fanden die beiden Plätze an einem großen, runden Tisch, der von jugendlichen Gästen mit Beschlag belegt war.
„Danke schön“, lächelte Sunny, als ein junger Bursche beiseite rückte, um ihr Platz zu machen.
Das war in dieser Umgebung ungewöhnlich. Im BARCELONA legte man keinen Wert auf Formen. Der Junge fühlte sich geschmeichelt. Er warf einen misstrauischen Blick auf Jack Braden, aber der war bereits in eine angeregte Unterhaltung mit seiner Nachbarin zur Linken verwickelt.
Dieses Mädchen sah aus wie eine Siebzehnjährige, hatte feuerrote Haare, die sie in einem Pferdeschwanz trug, ein blasses Gesicht, dunkelrot geschminkte Lippen und übergroße, graublaue Augen, in denen das Weiße von auffallend vielen roten Äderchen durchzogen war. Jack Braden wusste genau, was das zu bedeuten hatte.
„Was trinken wir?“, fragte er Sunny.
„Für mich einen Lemon Squash.“
Er selbst entschied sich für Bier. Dann zog er eine Packung schwarzer, mexikanischer Zigaretten, die er sich besonders für diesen Abend beschafft hatte, heraus und steckte eine an.
„Stoff?“, fragte das rothaarige Mädchen mit gierigem Lächeln.
„Leider nicht. Es sind Mexikaner“, antwortete er.
„Bitte, gib mir eine. Sie riechen so ähnlich.“
Braden reichte die Packung hin, gab Feuer und beobachtete, wie das Mädel den scharfen Rauch tief in die Lungen zog.
„Es ist nicht das richtige, aber es hilft“, meinte sie.
Inzwischen hatte Sunnys Kavalier ein Kästchen aus der Tasche gezogen. Darin befanden sich zwei mit der Hand gedrehte Zigaretten.
„Hier!“, sagte er. „Es sind meine beiden letzten, aber ich gebe Ihnen gerne eine davon. Wissen Sie, Sie sind ‘ne Bombe!“
Dawn Barris kam in tödliche Verlegenheit. Jack konnte ihr nicht helfen, und sie wagte nicht abzulehnen.
Mitgefangen – mitgehangen, dachte sie, bemühte sich ein strahlendes Gesicht aufzusetzen und akzeptierte das angebotene Stäbchen. Nur sehr vorsichtig nahm sie einen Zug. Das Zeug schmeckte wie Heu. Der Rauch biss auf der Zunge und am Gaumen. Nur mit Mühe bekämpfte sie einen Hustenanfall.
„Das musst du anders machen, Darling!“, belehrte sie der Jüngling, der nicht einmal schlecht aussah, wie sie jetzt feststellte.
„Du darfst den Rauch nicht so lange im Mund behalten. Schnell und tief einatmen. Sieh einmal, wie ich das mache.“
Sunny wäre am liebsten geflüchtet, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit zumachen.
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, dachte sie.
Sie befolgte also den Rat und war erstaunt, dass sie nicht die geringste Wirkung verspürte.
Plötzlich ging eine deutliche Bewegung durch die Gäste. Einen Augenblick wurde es still, und aller Augen hingen an einem kleinen, mausgesichtigen Mann, der mit einem Köfferchen in der Hand hereinkam.
Jack Braden ahnte sofort, was dieses Köfferchen enthielt. Fast war er enttäuscht, als der Neuankömmling es aufklappte. Es war angefüllt mit Streichhölzern, wenigstens sah es so aus. Mindestens hundert Schachteln lagen darin.
„Zündhölzer gefällig?“, quakte der Kleine und ging von Tisch zu Tisch.
Der Absatz war reißend. Braden stellte fest, dass diese „Zündhölzer“ je Schachtel einen Dollar kosteten. Auch er kaufte eine und steckte sie unbesehen ein.
Sunny war inzwischen mit ihrer Zigarette fertig geworden. Sie merkte immer noch nichts, wenn man davon absah, dass sie glaubte, ihr Hals sei mit Glaspapier aufgerieben worden.
Am Nebentisch saßen drei Jungen und drei Mädels, die zwar milieugerecht, aber teuer gekleidet waren. Sie lachten übermütig, flirteten und waren bester Laune, wofür zum Teil wenigstens die Haschischzigaretten verantwortlich waren.
Eines der Mädchen fiel Jack Braden besonders auf. Sie hatte ein feines und intelligentes Gesicht. Die dunklen Haare fielen ihr glatt gekämmt und strähnig bis auf die Schultern. Sie war die einzige, die nicht mit den anderen lachte.
Sie war schon bei ihrer zweiten Zigarette, aber das Gift schien bei ihr die entgegengesetzte Wirkung wie bei der übrigen Gesellschaft zu haben. Sie starrte mit großen Augen ins Leere. Dann machte sie eine Bewegung, als wolle sie etwas abschütteln und flüsterte mit einem der jungen Leute, der ihr unter dem Tisch eine neue Zigarette zusteckte.
Der kleine Mann mit dem Mausgesicht hatte inzwischen seine „Streichhölzer“ ausverkauft. Er klappte das Köfferchen zu, setzte sich an die Bar und bestellte einen doppelten Bourbon.
Braden bezahlte. Er hatte nichts weiter als Milieustudien machen wollen. Er hatte bereits vorher gewusst, was ihn erwartete. Jetzt allerdings kam ihm die Idee, Mausgesicht zu folgen. Vielleicht würde dieser ihn zu seinem Lieferanten führen.
Trotz des Protestes der Tafelrunde stand er auf. Dawn Barris tat es ihm nach. Ihr wurde schwindlig, sie hielt sich am Tisch fest, und Jack Braden, der etwas Ähnliches erwartet hatte, fasste sie unter.
„Ich glaube, ich bin high!“, lachte sie, und dieses Lachen war schrill.
„Immer mit der Ruhe, Sunny!“
Es glückte ihm, sie ohne Aufsehen nach draußen zu dirigieren. Er öffnete den Schlag des Plymouth, schob sie hinein und ging um den Kühler herum.
9
Im Grill-Room des feudalen FIFTH AVENUE HOTEL waren drei gewichtige Herren gerade mit ihrem späten Souper fertig geworden. Es waren Mr. Paolo Finote, Guilio Balito und Arturo Polento. Wie schon aus den Namen hervorgeht, stammten sie oder ihre Vorfahren aus dem sonnigen Süden Europas, in diesem Falle aus Sizilien. Die drei Herren waren Stammgäste und wurden dementsprechend aufmerksam bedient.
Sie achteten nicht auf Mr. Anthony Gilford, der nicht weit davon bei einer ausgesucht edlen Flasche französischen Burgunders saß.
Die drei wohlbeleibten Herren hatten schon lange das Interesse des FBI, und damit auch des First Agent Gilford, erweckt. Alle drei betätigten sich als Fruchtimporteure. Ihre Bananen, Apfelsinen, Grapefruits und Ananas bezogen sie aus verschiedenen Staaten Mittel- und Südamerikas.
Anthony Gilford versuchte vergeblich, etwas zu erlauschen. Zwar war ihm die italienische Sprache durchaus geläufig, aber die Herren sprachen gedämpft und außerdem in dem Dialekt von Palermo, den er nicht verstehen konnte.
Anthony Gilford war ihnen gefolgt. Aber wenn die drei Herren, die er im Stillen „Gangster“ titulierte, in Damengesellschaft waren, so würde es nutzlos sein, sie weiterhin zu beobachten. Derartige Leute erledigen ihre Geschäfte oder, was sie so nennen, nicht in Gegenwart weiblicher Wesen, von denen sie ohne Weiteres voraussetzen, dass sie den Mund nicht halten können.
Hätte er noch eine Stunde gewartet, würde er beobachtet haben, wie ein junger, smarter Mann an den Tisch trat und Finote etwas ins Ohr flüsterte, das die drei Herren zum sofortigen Aufbruch veranlasste.
Die „Damen“ übernahmen es, die beiden kaum angebrochenen Flaschen Vieux Cliquot zu leeren.
10
Zwischen zwölf Uhr dreißig und ein Uhr wurde Hells Kitchen, das Stadtviertel zwischen der 44. und 46. Straße einerseits und Ninth sowie Tenth Avenue andererseits, von uniformierter Polizei abgeriegelt.
Dann begann eine Razzia des Rauschgiftdezernats, verstärkt durch hundert Beamte der Einsatzreserve. Alle Kneipen, Bars und Music-Halls wurden durchkämmt. Man fand, wie nicht anders zu erwarten, eine große Anzahl von Leuten, meist Jugendlichen, die zweifellos von Drogen berauscht waren, und man fand eine Menge Haschischzigaretten unter den Tischen und sogar auf der Straße. Man erwischte auch drei Verteiler, die es versäumt hatten, sich ihrer Ware zu entledigen.
Diese Verteiler wurden im Polizeihauptquartier in der Centerstreet einem peinlichen Verhör unterzogen, das, wie üblich in solchen Fällen, ohne Resultat verlief. Keiner wollte seinen Lieferanten mit Namen kennen. Nicht einmal eine halbwegs genaue Beschreibung war zu erhalten. Die drei wurden eingesperrt und würden am folgenden Morgen dem Stadtgericht vorgeführt werden.
Diese Razzia war der Grund, warum die drei würdigen Herren ihre Freundinnen im Grill-Room so schnöde im Stich gelassen hatten.
11
Um 12 Uhr hatte Jack Braden seine Sekretärin bis vor die Tür ihres Appartements gebracht.
„Kommen Sie noch auf eine Tasse Kaffee herein“, bat sie. „Ich bin zwar müde, aber doch noch zu aufgeregt, um gleich schlafen zu können.“
„Das kommt davon, wenn man Reefers raucht!“, scherzte er, aber er ging mit. Nachdem er eine Tasse des braunen, aromatischen Mokkas getrunken und sich davon überzeugt hatte, dass Sunny alles gut überstehen würde, verabschiedete er sich.
Auch er besuchte das FIFTH AVENUE HOTEL. Er war hungrig geworden. Der Zufall wollte es, dass er sich an den Tisch setzte, den die drei sizilianischen Kavaliere vor kurzer Zeit verlassen hatten. Braden bestellte eine Kleinigkeit zu essen. Während er darauf wartete, dass es serviert würde, fiel sein Blick auf eine Reihe von Zahlen, die jemand auf dünnem Papier über dem Tischtuch notiert haben musste. Sie hatten sich eingedrückt und waren gut zu lesen. Da stand 2 ko., 5 ko. und so weiter. Die Zahlen waren addiert und ergaben zusammen 120 Kilo, dahinter konnte er entziffern: à 100 Dollar.
Was war das für eine merkwürdige Rechnung? Was für ein kostbarer Stoff konnte das sein, der per Kilo hundert Dollar kostete?
Haschisch!, fuhr es ihm durch den Kopf. Hundert Dollar war der Großhandelspreis für dieses Gift.
Unsinn, dachte er. Aber die merkwürdige Rechnung auf dem Tischtuch ließ ihn nicht los.
„Wer hat eigentlich vor mir hier gesessen?“, fragte er den Kellner.
„Vor Ihnen, Sir?“, war die etwas erstaunte Antwort.
„Ja, es interessiert mich zu erfahren, wer hier gerechnet hat. Es hat sich aufs Tischtuch durchgedrückt.“
„Entschuldigen Sie vielmals, Sir! Das Tischtuch wird selbstverständlich sofort ausgewechselt.“
„Darum geht es nicht. Es geht mir um die Person des Mannes, der darübergekritzelt hat.“
„Einen Augenblick, Sir.“
Der Kellner verschwand, um gleich danach mit dem Geschäftsführer des Grill-Rooms zurückzukehren.
Der erging sich in Entschuldigungen, die Braden mit einer Handbewegung beiseite wischte.
„Ich hatte nicht die geringste Absicht, mich zu beschweren“, sagte er. „Ich möchte nur wissen, ob Ihnen die Person des Gastes, der das rechnete, bekannt ist.“
„Nur vom Ansehen, Sir. Es sind drei Herren, die des Öfteren zusammen bei uns speisen.“
„Sie müssen doch eine Ahnung haben, was das für Herren sind“, sagte Braden ungeduldig.
„Es sind ältere, vornehme Leute, und wenn ich mich nicht irre, sprechen sie italienisch, wenigstens untereinander.“
Mehr konnte Jack Braden nicht erfahren. Er kopierte die Zahlenkolonne in sein Notizbuch und nahm sich vor, in nächster Zeit des Öfteren das FIFTH AVENUE HOTEL aufzusuchen. Vielleicht würde er die drei älteren, vornehmen Herren einmal treffen.
12
In dieser Nacht träumte Jack Braden von Rauschgiften aller Art, von Orgien und von Sunny, die eine Giftzigarette nach der anderen rauchte und immer übermütiger wurde.
Am folgenden Vormittag gegen zehn Uhr war Jack Braden im Hunter College. Er hatte eine Unterredung mit dem Leiter, der über den Mord an einer seiner Schülerinnen sehr bestürzt war.
„War Ihnen an Petra Schindler jemals etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Braden.
„Nicht, dass ich wüsste. Sie war ein nettes, intelligentes und lustiges Mädchen und im Übrigen ein Teenager, wie sie heute nun einmal sind.“
„Sie haben also niemals etwas davon gemerkt, dass sie Haschisch rauchte?“
„Ausgeschlossen. Ich hätte ihr das niemals zugetraut. Ist es denn wirklich so?“
„Leider ja. Sie war sicherlich berauscht, als sie ermordet wurde.“
„Unglaublich! Es wurde mir des Öfteren zugetragen, dass Schüler und Schülerinnen bei Partys das Teufelszeug benutzen, und ich habe immer wieder davor gewarnt. Aber Sie wissen ja, wie die jungen Leute sind! Sie sind neugierig und wollen es unbedingt einmal probieren. Aus dem Einmal wird dann leider in zu vielen Fällen eine Gewohnheit.“ Er zuckte die Achseln.
Damit erzählte der Mann Braden nichts Neues.
„Hatte Petra irgendwelche besonderen Freunde?“
„Da kämen nur die Mädchen und Jungen ihrer Klasse in Betracht. Wenn Sie wollen, werde ich fragen.“
Braden war überzeugt, dass die- oder derjenige, der für Petras Zustand verantwortlich gewesen war, dies keinesfalls zugeben würde.
„Nein, das möchte ich nicht“, sagte er. „Es genügt vorläufig, wenn ich mir die jungen Leute dieser Klasse einmal ansehe. Lässt sich das unauffällig machen?“
„Selbstverständlich. In zehn Minuten ist die große Pause. Wir brauchen uns nur auf den Korridor zu stellen und so zu tun, als ob wir uns über irgendetwas intensiv unterhalten.“
Als die Klassentür aufsprang, um den Strom der Schülerinnen und Schüler zur Pause zu entlassen, stand Braden so, dass er die Gesichter betrachten konnte. Es waren verschiedene dabei, eigentlich viel zu viele, bei denen er festzustellen glaubte, dass sie, wenn auch nicht gerade im Übermaß, aber doch gelegentlich Marihuana rauchten.
Plötzlich drehte er sich um und blickte zum Fenster hinaus.
„Wer war das junge Mädchen mit den dunklen, langen Haaren und dem weißen Pullover, das eben vorüberging?“, fragte er den Schulleiter.
„Das war Mildred Frean. Warum fragen Sie?“
„Das kann und will ich Ihnen nicht sagen. Wann hat diese Klasse für heute Schluss?“
„Um ein Uhr.“
„Das wäre also in zwei Stunden. Wissen Sie, ob Mildred ihren eigenen Wagen fährt?“
„Ich glaube ja. Ihr Vater ist ein sehr wohlhabender Mann.“
Braden bedankte sich für die Auskünfte und ging. Aber er ging nur, um Auskünfte über die Familie Frean einzuholen.
Diese Auskünfte bestätigten das, was der Schulleiter gesagt hatte. Mr. Frean war Besitzer einer gutgehenden chemischen Fabrik und allgemein geachtet. Auch über die Tochter war nichts Nachteiliges bekannt.
Kurz vor ein Uhr stoppte Jack Braden in der Nähe des Parkplatzes, auf dem die Schüler des College ihre Wagen abstellten. Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen mit dem langen, dunklen Haar aus dem College kam.
Es war dasselbe Mädel, das ihm vom Vorabend im BARCELONA aufgefallen war. Sie ging langsam, und sie war allein. Als einer der Jungen ihr ein Scherzwort zurief, machte sie eine unwillige Bewegung, gab aber keine Antwort.
Sie bestieg einen kleinen Volkswagen und startete. Braden folgte.
Das Mädchen fuhr bis zur 60. Straße und dann rechts um. An der Grand Army Plaza bog sie in den Central-Park ein. Sie fuhr langsam und stoppte nicht weit von der Straße auf einem Nebenweg.
Jack Braden ließ den Porsche auf dem Hauptweg stehen und schlenderte zu Fuß weiter. Er erreichte den Volkswagen und warf einen schnellen Blick durch das Fenster. Mildred saß vollkommen zusammengesunken auf dem Fahrersitz. Sie weinte. Was Jack Braden aber außerdem beobachtete, veranlasste ihn, den Schlag aufzureißen und sie am Handgelenk zu packen, so dass die Röhre mit Schlaftabletten zu Boden fiel.
„Machen Sie keine Dummheiten, Mildred“, sagte er. „Damit können Sie auch nichts bessern.“
Sie sah ihn aus großen, verweinten Augen an und jammerte: „Warum mussten Sie das tun? Es wäre viel besser für mich, wenn ich tot wäre.“
„Wie alt sind Sie eigentlich, Kind?“
„Siebzehn Jahre“, schluchzte sie.
Braden schob sie zur Seite und setzte sich neben sie.
„Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was Sie bedrückt. In Ihrem Alter ist man immer geneigt, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Es wird schon nicht so schlimm sein.“
„Doch! Es ist noch viel schlimmer. Ich habe meine beste Freundin umgebracht!“
Braden erschrak. Sollte das, was Leutnant Temper vermutet hatte, vielleicht doch wahr sein?
„Es hat keinen Zweck, wenn Sie sich mit Selbstvorwürfen plagen. Sagen Sie mir, was Sie gemacht haben.“
Mildred suchte nach einem Taschentuch, riss das Handschuhfach auf und nahm es heraus. Unter diesem Taschentuch lag ein grauer Perlonhandschuh. Es war ein einzelner Handschuh.
Hatte nicht Leutnant Temper von einem grauen Handschuh gesprochen, den man nicht weit von der Leiche unter einer Bank gefunden hatte?
Sein Verdacht wurde zur Gewissheit, aber er schwieg. Er wusste aus Erfahrung, dass sie ganz von selbst reden würde.
„Wir waren vorgestern im CASABLANCA, genau wie die beiden Abende vorher. Ich hatte meiner Freundin zugeredet, sie solle nach Hause gehen, aber sie wollte nicht. Sie war verrückt auf ein paar Reefers. Sie hatte schon die beiden Abende vorher zu viel davon gehabt und bei mir geschlafen. Sie konnte ja in diesem Zustand ihren Eltern nicht unter die Augen kommen.
Vorgestern wurde es dann ganz schlimm. Sie tobte so, dass ich sie mit nach draußen und in den Park nahm. Da wurde sie langsam wieder nüchtern, und damit kam die Reue. Sie weinte und sagte, sie werde ihrem Vater alles gestehen. Er müsse ihr helfen.“
„Und weiter?“
„Wir hatten nicht gehört oder gesehen, dass Claude in der Nähe war. Er hatte uns belauscht und kam mit wüsten Drohungen auf uns los. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, wohl aber seine Stimme. Ich erschrak und rannte weg. Dann hörte ich Petra schreien, aber ich war zu feige, kehrt zu machen.“
Sie schwieg.
„Wer ist dieser Claude?“, fragte Braden.
„Der Mann, der im CASABLANCA Reefers verkauft und wenn man ihm genügend bezahlt, auch Heroinspritzen macht ... Aber das habe ich niemals probiert.“
„Ich begreife nicht, warum Sie sich Vorwürfe machen. Schließlich musste Ihre Freundin ja wissen, was sie tat.“
„Ich habe sie verführt. Sie wollte nichts von Khif wissen, und da neckte ich sie und nannte sie einen Feigling. Vor drei Tagen waren wir zu einer Party eingeladen. Wir wussten natürlich genau, was für eine Party das war, und darum wollte Petra nicht hin. Dann ging sie doch mit. Wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde, so hätte ich ihr nicht zugeredet.“
„Natürlich haben Sie falsch gehandelt, aber darum haben Sie Ihre Freundin noch nicht umgebracht, wie Sie sagen. Sie werden mir helfen, den Mörder zu finden und noch einiges mehr. Dann werde ich versuchen, Sie aus der Sache herauszuhalten. Vor allem aber versprechen Sie mir, dass Sie die Finger vom Haschisch lassen.“
„Es wird sehr schwer sein, aber ich will es versuchen.“
„Und jetzt: Wie sieht dieser Claude aus?“
„Er ist Franzose, vielleicht auch Kanadier, er spricht Amerikanisch mit einem französischen Akzent. Er ist mittelgroß, untersetzt, hat dunkelblondes Haar und braune Augen. Seine Nase ist schief. Ich habe ihn einmal gefragt, woher das kommt, und da erklärte er mir, er sei früher Boxer gewesen. Sein Spitzname ist Der Schläger. Er ist jähzornig, und alle haben Angst vor ihm.“
„Das genügt. Und wo war die bewusste Party?“
„Im Gesellschaftszimmer des HAITI in der fünfzigsten Straße. Wir gingen gerne zu solchen Partys, weil es dort ein paar Reefers umsonst gab.“
„Also gewissermaßen Warenproben?“
„Man kann es auch so nennen. Im College gingen diese Einladungen von Mund zu Mund, aber es waren auch viele andere da.“
„Und von wem kamen diese Einladungen?“
„Das weiß ich nicht. Es wurde niemals ein Name genannt, aber wir wussten im Voraus, was los war.“
Braden hatte von solchen Partys schon gehört. Sie wurden von Rauschgifthändlern veranstaltet, um neue Kunden zu gewinnen. Wiederholt hatte die Rauschgift-Polizei die ganze Gesellschaft ausgehoben, aber die Veranstalter waren ihr jedes Mal durch die Lappen gegangen.
„Versprechen Sie mir, mich sofort anzurufen, wenn Sie wieder von einer solchen Party erfahren“, forderte er. „Sie scheinen gar nicht zu wissen, welches Unheil diese eiskalten Geschäftemacher anrichten.“
„Ich hielt das alles für harmlos“, weinte sie. „Die meisten meiner Freundinnen und Freunde machen mit. Mir hat es eigentlich noch nie etwas geschadet. Man hat am nächsten Tag einen kleinen Katzenjammer, aber nicht so schlimm, als wenn man getrunken hätte.“
„In Ihrem Alter, mein Kind, sollte man auch nicht trinken, wenigstens nicht mehr, als man vertragen kann.“
Sie nickte. „Jetzt sehe ich das ein, jetzt, das es zu spät ist.“
„Können Sie selbst nach Hause fahren?“, fragte Braden.
„Ja, ich habe ja keinen weiten Weg.“
„Dann tun Sie das, und machen Sie keine Dummheiten. Sprechen Sie auch nicht darüber, dass wir uns unterhalten haben.“
„Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind!“ Plötzlich war sie argwöhnisch. „Um Gottes willen! Wenn Sie ...“
„Ich bin weder Polizist noch Rauschgifthändler. Meine Aufgabe ist es, Petra Schindlers Mörder zu finden, und wenn ich darüber hinaus ein paar Haschischhändler zur Strecke bringen kann, so tue ich das mit Vergnügen.“
Er streckte ihr die Hand hin, und als er in das trostlose Gesichtchen blickte, konnte er nicht anders, als ihr übers Haar streichen.
„Jeder Mensch macht Fehler. Die Hauptsache ist, dass man daraus die richtige Lehre zieht“, sagte er. Nachdem er unauffällig seine Karte zurückgelassen hatte, stieg er aus und ging zurück zum Hauptweg.
Im Begriff seinen Porsche zu besteigen, sah er sich noch einmal um. Ein Mann, der ihm den Rücken zudrehte und den er darum nicht genau erkennen konnte, stand neben Mildreds Wagen und redete durch das herabgelassene Fenster mit ihr. Dann plötzlich riss er den Schlag auf, und es sah aus, als ob er sich mit ausgestreckten Armen nach drinnen werfe.
Jack Braden rannte.
Der Mann, dessen Beine außerhalb und dessen Oberkörper innerhalb des Volkswagens waren, hörte ihn nicht. Er merkte erst etwas, als der Detektiv ihn am Kragen packte und zurück riss.
„Merde!“, fluchte er und ging mit beiden Fäusten auf Braden los.
Jack hatte keine Lust, sich auf einen Boxkampf einzulassen. Ein gekonnter Judogriff genügte. Der Kerl flog im Bogen ins Gebüsch. Braden hatte erwartet, dass er es noch einmal versuchen werde, aber er hörte nur das Brechen der Zweige und die rennenden Schritte.
Dann kümmerte er sich um Mildred. Das Mädchen lag quer über dem Sitz. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht geschwollen und rot. Am Hals sah man die Würgemale.
Jack Braden zog sie heraus und legte sie ins Gras. Der Puls ging leise, aber rasend schnell. Braden kniete nieder und blies ihr seinen Atem in die Lungen. Es dauerte lange, bis sie sich bewegte und leise stöhnte. Er nahm sie auf beide Arme, bettete sie auf den Rücksitz des Porsche und raste nach dem Medical Center, am Roosevelt Drive.
Erst als er wusste, dass sie sich erholen werde, verließ er das Krankenhaus.
13
Detektiv-Leutnant Temper hörte sich Bradens Bericht an. Sein rosiges Gesicht lag in sorgenvollen Falten.
„Das ist nicht der erste Fall, Jack“, sagte er. „Aber diesmal wissen wir wenigstens, wer der Mörder ist.“
Er telefonierte hinauf zum Erkennungsdienst und gab die Beschreibung durch.
„Er heißt mit Vornamen Claude, ist Franzose oder Kanadier und soll früher Boxer gewesen sein.“
Es dauerte nicht lange, bis ein Beamter mit einer Karte aus der Verbrecherkartei herunterkam.
„Der wird es wohl sein“, sagte er. „Claude Galan. Er ist ein eingewanderter Franzose und schon zweimal wegen Besitzes und Handels mit Rauschgift vorbestraft. Beim dritten Mal wird er ausgewiesen.“
„Das wird er wohl nicht“, meinte Leutnant Temper. „Er steht im dringenden Verdacht, vorgestern einen Mord und heute einen Mordversuch begangen zu haben. Er wird also wohl auf den heißen Stuhl kommen.“
„Ich wollte, Sie hätten ihn schon“, meinte Braden. „Er weiß bestimmt, dass er erkannt worden ist und wird in den Untergrund gehen oder die Kulissen wechseln.“
„Das dürfte ihm schwerfallen. Die Fahndung wird sofort anlaufen, und dann bekommen wir ihn früher oder später.“
Braden teilte diesen Optimismus nicht. Claude Galan war ein Gangster, und solche Leute finden immer einen Unterschlupf.
„Kann ich seine Fotografie haben?“, fragte er. „Ich habe immerhin einen erheblichen Vorschuss von Mister Schindler bekommen und möchte diesen auch verdienen.“
„Sofort. Jack. Ich wollte, ich hätte es so gut wie Sie. Ich sitze auf dem kläglichen Gehalt eines Cops, und Sie stecken die dicken Honorare ein.“
„Dafür sind Sie pensionsberechtigt. Wenn mir ein Gangster die Knochen bricht, so muss ich mir die Krücken selber kaufen. Ihnen werden sie geliefert.“
„Das ist auch ein Trost“, lachte der Leutnant.
Braden erhielt das erbetene Bild und ging.
Es blieb noch die unangenehme Aufgabe, Mildreds Eltern zu unterrichten. Braden zog es vor, den Vater in seiner Fabrik aufzusuchen.
Im Gegensatz zu Mr. Schindler war er vernünftig und versprach, seiner Tochter keine unnötigen Vorwürfe zu machen.
„Wenn sie sich einigermaßen erholt hat, schicke ich sie nach Europa, wahrscheinlich in ein Pensionat in der Schweiz. Da ist sie weit vom Schuss und bekommt keine Reefers.“
Hoffentlich!, dachte Braden, aber er hütete sich, es auszusprechen.
In seinem Office wartete George Patterson. Auch er hatte sich in der Gegend, die man „Hells Kitchen“ nannte, herumgetrieben und dieselben Beobachtungen gemacht wie Braden.
„In dieser Gegend um die fünfundvierzigste Straße ist nur so etwas wie ein Filialbetrieb“, sagte er. „Ich kenne das aus der Zeit, in der ich bei der Rauschgift-Squad war. Das Hauptgeschäft wird in Harlem gemacht, aber ich fürchte, dass es zwecklos ist, dort nachzuforschen. Man findet nur ein paar kleine Verteiler, die natürlich eingesperrt werden. Die Großen aber bekommt man auf diese Manier niemals.“
„Und wie bekommt man sie?“, fragte Braden.
„Indem man sich bei ihnen anbiedert. Große Rauschgifthändler sind meistens vornehme Leute. Importeure werden sie genannt. Sie fahren im Cadillac, stiften Gelder für die Politik und schicken ihre Kinder auf die Universität und auf den Debütantinnenball im WALDORF ASTORIA.“
„Können Sie mir sonst noch Ratschläge geben, George?“, frotzelte Braden.
„Im Augenblick nicht, aber man kann nie wissen.“
14
Als nächstes fuhr Jack zu Mr. Schindler.
„Haben Sie den Kerl?“, waren dessen erste Worte.
„Noch nicht, aber ich weiß, wer er ist. Er heißt Claude Galan und hat heute Mittag einen Mordversuch auf Petras Freundin Mildred gemacht, den ich glücklicherweise vereiteln konnte.“
„Und was wird getan, um ihn dingfest zu machen?“ Mr. Schindler wartete die Antwort gar nicht ab. „Ich weiß Bescheid. Die Polizei bearbeitet die Sache wie üblich, auf dem Dienstweg. Und zum Schluss kommt nichts dabei heraus. Haben Sie ein Bild des Kerls?“
„Ja.“ Braden griff in die Tasche.
Aber der Generaldirektor winkte ab: „Ich will den Schuft gar nicht sehen. Machen Sie folgendes: Geben Sie in den fünf größten Zeitungen je ein ganzseitiges Inserat auf, in dem Sie jedem, der Hinweise geben kann, die zur Festnahme des Mörders führen, eine Belohnung von zehntausend Dollar versprechen. Die Abfassung des Textes überlasse ich Ihnen. Ich denke, Sie haben darin mehr Übung als ich ... Halt! Noch etwas. Die Leute sollen sich nicht bei der Polizei, sondern bei Ihnen melden. Ich traue den Cops nicht.“
„Dazu liegt aber wirklich kein Grund vor, Mister Schindler. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass die Stadtpolizei alles tut, was in ihrer Kraft steht.“
„Das ist es ja gerade! Was in ihrer Kraft steht, aber nicht mehr!“
„Ich halte Ihre Idee im Übrigen für gut und werde die Inserate sofort aufgeben. Sie werden in der Morgenausgabe erscheinen.“
„All right, und lassen Sie die Rechnungen an mich,schicken.“
Damit war die Audienz bei Mr. Schindler beendet.
Als Braden das Privatbüro verließ, begegnete ihm die kleine hübsche Claire, die eine allerdings merkwürdig dünne Unterschriftenmappe unter dem Arm geklemmt hielt. Braden hatte die Idee, diese Mappe diene nur der Tarnung.
Dann fuhr er zum Medical Center und erwirkte die Erlaubnis, Mildred für ein paar Minuten sprechen zu dürfen.
Sie war immer noch bleich und sah recht mitgenommen aus. Als er ihr die Fotografie des Gangsters Claude Galan zeigte, deckte sie beide Hände über die Augen und flüsterte: „Ja, das ist er.“
Das war alles, was er wissen wollte. Am Abend führte Braden seine Sekretärin ins FIFTH AVENUE HOTEL zum Souper. Natürlich hatte er einen Nebengedanken dabei, er wollte das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Aber der Tisch, an dem die drei würdigen Herren aus Sizilien getäfelt hatten, blieb leer.
„Ich finde, gestern im BARCELONA war es amüsanter“, lachte Sunny. „Hier sind mir die Leute zu vornehm, und hier würde mir keiner seine vorletzte Zigarette anbieten.“
„Nichts zu machen, Sunny! Ich werde mich schwer hüten. Sie könnten auf den Geschmack kommen.“
Es wurde noch ein recht vergnügter Abend, an dem von Rauschgift und Mord keine Rede mehr war. Um Mitternacht brachte Braden das Mädchen nach Hause. Heute schlug er die Einladung zu einer Tasse Kaffee aus. Er traute sich nicht ganz. Von Zeit zu Zeit musste er sich gewaltig beherrschen, um das Mädel nicht einfach in den Arm zu nehmen.
15
In den Morgenausgaben der MORNING NEWS, des DAILY MIRROR, der NEW YORK POST, der NEW YORK TIMES und des TELEGRAPH erschienen die ganzseitigen Inserate mit dem Steckbrief und Bild des Claude Galan.
Schon um acht Uhr kam der erste Telefonanruf, und dann klingelte es anhaltend. Hundert Leute wollten den Mörder gesehen haben. Braden gab alle diese Hinweise an die Mordkommission II weiter.
Gegen halb zehn wurden die Gespräche seltener. Die meisten Leute hatten den Aufruf und den Steckbrief sicherlich schon lange wieder vergessen.
Es war halb elf. Braden hörte den Summer von der Eingangstür, und dann rief Dawn durch: „Hier ist jemand, der Sie in der Sache Petra Schindler sprechen möchte.“
„Wer ist es?“
„Er will keinen Namen nennen, aber er sagt, es sei wichtig.“
Der Mann, der gleich darauf eintrat, war klein, glatzköpfig und gelbgesichtig. Sein Anzug war von einer fadenscheinigen Eleganz, die Ärmel glänzten an den Ellbogen, der Kragen des Hemdes war leicht angegraut, und die einstmals prächtigen Lackschuhe mit Sprüngen übersät.
„Ich habe das Inserat mit den zehntausend Dollar Belohnung gelesen. Ist das auch keine Falle?“, fragte er misstrauisch.
„Keineswegs. Allerdings ist die Bedingung, dass die gemachten Angaben zur Festnahme dieses Claude Galan führen.“
„Wie er mit Nachnamen heißt, weiß ich nicht. Ich kenne ihn unter dem Namen Der schwarze Claude, oder auch Der Schläger.“
„Sie haben sein Bild gesehen?“
„Ja, und erkannt. Wenn ich Ihnen nun seine Bleibe verrate, was bekomme ich dann?“
„Wenn er dort ist oder auf Grund Ihrer Angaben verhaftet werden kann, die ausgesetzte Belohnung von zehntausend Dollar.“
„Und wenn er nicht zu Hause ist oder uns durch die Lappen geht?“
„Warum glauben Sie das?“
„Es wäre ja möglich, und ich gehe gerne sicher. Wenn es herauskommt, dass ich ihn verpfiffen habe, so lebe ich nicht mehr lange. Das heißt, wenn ich hier in Manhattan bleibe. Ich müsste auf alle Fälle soviel bekommen, dass ich abhauen und woanders neu beginnen kann.“
„Mit was?“
„Mit meinen Geschäften. Ich bin Kaufmann. Meine Spezialitäten sind Gelegenheitskäufe.“
„Ich verstehe“, lächelte Braden, der solche „Kaufleute“ kannte. „Ich benachrichtige die Cops, damit es von vornherein ausgeschlossen ist, dass dieser Galan Gelegenheit zur Flucht bekommt. Dann führen Sie mich zu ihm.“
„Nichts zu machen!“, entgegnete der Besucher höchst entrüstet. „Die Cops müssen aus dem Spiel bleiben. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Ich bringe Sie hin, und sowie Sie sich davon überzeugt haben, dass die Adresse stimmt, geben Sie mir zwanzig Fünfzig-Dollar-Scheine. Wenn Sie ihn schnappen, bekomme ich den Rest.“
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Name ist Schall und Rauch!“, deklamierte der kleine Mann. „Ich heiße Robby, das muss Ihnen genügen. Ich habe keine Lust, meines Vaters Namen in den Zeitungen wiederzufinden. Sind Sie einverstanden, ja oder nein?“
Natürlich war es möglich, dass der Bursche ein Schwindler war, der auf leichte Art zu Geld kommen wollte. Aber Braden traute sich so viel Menschenkenntnis zu, um sicher zu sein, dass Robby es ernst meine, so weit man bei einer solchen Gestalt überhaupt davon reden kann. Robby
war ein Spitzel, wahrscheinlich sogar ein Polizeispitzel, und gerade darum wollte er mit den Cops nichts zu tun haben. Er fürchtete, von ihnen viel weniger zu bekommen.
Braden schloss den Safe auf, in dem er stets für unvorhergesehene Fälle eine größere Summe aufbewahrte, und nahm tausend Dollar in kleinen Scheinen heraus.
„Hier. Sie können nachzählen!“
Robby streckte beide Hände nach den Dollar aus, aber Braden bremste.
„Ich stecke die Scheine in einen Briefumschlag, klebe ihn zu und behalte ihn bei mir, bis ich mich davon überzeugt habe, dass die angegebene Adresse richtig ist. Wenn wir Galan dort nicht finden, so habe ich Pech gehabt.“
„Und ich noch viel mehr. Ich möchte ja schließlich auch die restlichen neuntausend haben“, grinste der Spitzel.
Für eine Sekunde schoss der Gedanke, es könne sich um eine Falle handeln, durch Bradens Kopf. Die Großhändler hinter den Kulissen, die eiskalten Geschäftsleute, die an dem Elend der Menschen Geld verdienten, mussten spätestens durch die Inserate erfahren haben, dass Braden hinter ihnen her war. Das würde Grund genug sein, um wenigstens den Versuch zu machen, ihn auszuschalten. Ausschalten aber hieß bei diesen Verbrechern Mord. Wer garantierte ihm dafür, dass der glatzköpfige Robby ihn nicht an einen Platz lockte, an dem schon alles vorbereitet war, damit er ihn nicht lebend wieder verließ?
Sunny schien Ähnliches zu denken.
„Wohin gehen Sie, Jack?“, fragte sie, als er, den Hut auf dem Kopf, aus seinem Office kam.
„Das weiß ich selbst noch nicht“, lächelte er. „Mein Freund hier will mich zu einem Herrn bringen, an dem ich interessiert bin.“
Er machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu, drehte sich um und sagte: „Auf meinem Schreibtisch liegen die Instruktionen für die beiden Fälle, derentwegen Sie mich vorhin gefragt haben.“
Dawn Barris hatte ihn durchaus nichts gefragt, aber sie würde wissen, was seine Worte zu bedeuten hatten.
16
„Wohin?“, fragte Jack Braden, als er den Spitzel neben sich im Wagen hatte.
„Fahren Sie die Eight Avenue entlang;“
„Es tut mir leid, mein Lieber. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, dass Sie die tausend Dollar bekommen, wenn die Adresse stimmt. Aber ich verlange auch, dass Sie mir diese Adresse jetzt sagen. Ich habe keine Lust, Blinde Kuh zu spielen.“
Der Glatzkopf, der sich jetzt eine speckige Melone auf den blanken Schädel gesetzt hatte, zögerte.
„Wenn Sie nicht wollen, so können Sie wieder aussteigen“, sagte Braden kalt.
„Dann gehe ich eben zu Mister Schindler“, trumpfte Robby auf.
„Der Sie hochkant hinauswerfen wird, das heißt, wenn er Sie nicht der Polizei übergibt. Bis Sie hinkommen, kann ich ihn zehnmal anrufen.“
„Also gut, ich will es riskieren. Es ist die 134. Straße West 264 ...“
„Also mitten in Harlem, wo der Dreck am größten und die Ratten am fettesten sind“, kommentierte Braden.
Sein Begleiter hob die Schultern.
„Was kann ich dazu? Ich habe die Wohnung nicht gemietet.“
Es ging am Central-Park vorbei, über die 110. Straße hinweg, nach Harlem.
Harlem ist eine trostlose Gegend. Es hat die meisten Analphabeten; die meisten
Arbeitslosen und die übelsten Wohnverhältnisse von New York, wenn nicht der ganzen sogenannten zivilisierten Welt.
Je mehr Braden sich der 134. Straße und damit dem Zentrum des Stadtteils näherte, um so verwahrloster wurden die Häuser, um so schmutziger die Straßen, und um so dichter das Gedränge auf den Bürgersteigen.
Frauen in grell-farbigen Kleidern standen schwatzend zusammen. Männer saßen auf den Steinstufen vor den Häusern oder lungerten in Torbogen herum. Dazwischen krabbelten halbnackte, zerlumpte Kinder aller Altersklassen. Die Luft stank nach Armut und jenen Verbrechen, die die Folge der Armut sind.
Als Braden vor dem Haus Nummer 264 in der 134. Straße stoppte, war der Wagen im Nu von Neugierigen umlagert. Er kurbelte die Fenster hoch, schloss die Windschutzscheibe und sicherte alles, was zu sichern war. Er hoffte, dass man ihm, bis er zurückkam, nicht die Scheinwerfer und das Reserverad abmontiert hätte.
„Und jetzt?“, fragte er.
Robby ging auf einen vor dem Haus sitzenden älteren Schwarzen zu und fragte: „Ist Claude zu Hause?“
„Ich denke, ja. Ich habe ihn nicht weggehen sehen.“
Zusammen mit dem Spitzel ging Braden durch den dunklen Hausflur und die ausgetretene, verschmutzte Treppe hinauf.
Im zweiten Stock hielt Robby an. „Hier ist es.“ Dabei streckte er die Hand aus.
An der Tür war weder ein Schild noch ein Name. Die Milchglasscheibe war zerbrochen. Ein paar Splitter lagen auf dem Treppenabsatz.
Braden klopfte. Als sich niemand meldete, griff er durch das Loch in der Scheibe nach der Türklinke. Gleichzeitig entsicherte er die Pistole, die mitzunehmen er sich diesmal doch entschlossen hatte.
„Meine tausend Dollar!“, mahnte Robby und zupfte ihn am Ärmel. Aber er bekam keine Antwort.
Braden öffnete die Tür. Das heißt, er wollte sie öffnen, aber irgendetwas drückte von innen dagegen. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, etwas schleifte, dann gab es nach. Er war drin. Aus einem Zimmer erklangen laute Stimmen. Aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Vor ihm am Boden lag eine junge, hellhäutige und hübsche Schwarze. An ihrer linken Schläfe hatte sie eine aufgeplatzte Beule. Jemand musste sie niedergeschlagen haben. Braden beugte sich hinunter. Sie atmete, das war die Hauptsache.
Dann wandte er sich dem Zimmer zu. Er blieb stehen und lauschte.
„Der Boss hat deine dummen Streiche satt!“, hörte er eine gequetschte Stimme. „Der Boss hat die Nase voll von dir. Er hat dich dreimal gewarnt, aber du kannst es nicht lassen. Du bringst mit deiner Dummheit und deiner Gewalttätigkeit alle in Gefahr. Sieh dir das an!“
Ein Zeitungsblatt knisterte. Ein Mann fluchte laut und gemein.
„Da siehst du es!“, nahm ein zweiter das Wort. „Du bist für die Organisation untragbar geworden. Es tut uns leid, aber wir haben unsere Anweisungen.“
„Mein Gott! Das könnt ihr doch nicht ernst meinen. Lasst mich ungeschoren, und ich verschwinde noch heute nach Chicago.“
„Verschwinden wirst du, aber nicht nach Chicago! Du kämst nicht einmal in den Zug. Überall stehen Cops und Tecks, die nur auf dich warten. Und wenn sie dich erst haben, so werden sie dich hochnehmen, und du wirst singen. Nein, mein Lieber! So geht das nicht.“
„Mein Geld!“, zischte der Spitzel hinter Braden, und Braden stopfte ihm den Umschlag mit dem Tausender in die Hand.
Im gleichen Augenblick ertönte aus dem Zimmer ein unterdrückter Schrei, dem ein hohles Stöhnen folgte.
Die entsicherte Pistole in der Hand stieß Braden die Tür auf. Ein Mann lag am Boden. Aus seiner Brust quoll Blut und färbte das Hemd rot. Noch zuckten seine Hände, aber das würde schnell vorüber sein. Über ihm standen zwei Gestalten. Der eine hielt ein Messer in der Hand, das er kaltblütig an der Tischdecke abwischte, zusammenklappte und in die Tasche steckte.
„Das wäre erledigt“, sagte er. „Es war seine eigene Schuld.“
Er drehte sich um und blickte in die Mündung der kleinen, blauschwarzen Pistole.
„Hände hoch!“, befahl Jack Braden.
Eine Sekunde standen die beiden reglos, aber dann gehorchten sie.
„Was willst du von uns?“, fragte der mit dem Messer.
„Das werdet ihr noch erfahren“, entgegnete der Detektiv. „Stellt euch mit dem Gesicht gegen die Wand, Hände in den Nacken. Beeilt euch. Ich habe euch in flagranti bei einem Mord erwischt, und kein Mensch wird Anstoß daran nehmen, wenn ich euch über den Haufen schieße.“
Sie gehorchten. Braden war im Begriff, sie nach Schusswaffen abzutasten, als draußen in der Diele jemand schrie. Es war ein gellender Schrei, der aus einer weiblichen Kehle kommen musste. Der Laut ging in ein leises Heulen über. Die Schwarze musste aus ihrer Ohnmacht zu sich gekommen sein.
Das war eine üble Situation. Tatsächlich rollten die Ereignisse nun so ab, wie er gefürchtet hatte.
Schritte, Rennen, ein Gewirr von Stimmen, das Geräusch, mit dem die Flurtür aufgestoßen wurde. Und dann erschienen die ersten Gesichter im Türrahmen, um sofort wieder zu verschwinden.
Braden wusste genau, in welcher Lage er sich befand. In diesem Haus war Claude der einzige Weiße gewesen. Warum man ihn geduldet hatte, war leicht zu erraten. Jetzt war er tot, ermordet, und er, Braden, stand mit einer Pistole in der Hand im Zimmer und hielt zwei andere Weiße in Schach.
Was die Schwarzen daraus schließen würden, war klar. Wenn er nicht innerhalb der nächsten Minuten in Stücke zerrissen wurde, so hatte er besonderes Glück.
Er lehnte sich gegen die Wand, so dass er die beiden Gangster und zugleich die Eingangstür im Auge behalten konnte. Das Stimmengewirr und Trappen draußen wurde immer lauter.
Gleich würde es losgehen. Braden kannte die Mentalität der Farbigen. Pistole oder nicht Pistole – wenn die Wut überkochte, so würden sie über ihn herfallen.
Das Heulen einer Sirene erschien ihm wie himmlische Musik. Draußen auf der Treppe und in der Diele wurde es still. Dann hörte er Flüstern und das Schlurfen vieler Füße.
Schwere Schritte stapften die Treppe herauf. Sie kamen durch die Diele, und dann standen zwei Cops in der Tür.
Es waren Schwarze, wie die meisten Polizisten in Harlem. Sie hatten die Pistolen in den Händen und waren offenbar auf Widerstand gefasst.
„Was ist hier los?“, fragte der eine.
Braden steckte seine Waffe ein und holte stattdessen seine Lizenz als Privatdetektiv heraus.
„Die beiden Gangster haben ihren Kollegen umgebracht“, sagte er. „Ich kam dazu, konnte es aber nicht mehr verhindern.“
In diesem Augenblick sah er Sunny. Sie drängte sich an den beiden Polizisten vorbei. Zuerst sah es aus, als wolle sie ihm um den Hals fallen, aber dann fasste sie nur seine Hand und stieß mit Tränen in den Augen hervor: „Ich bin ja froh, dass ich rechtzeitig geschaltet habe. Ich fand Ihren Zettel und fuhr Ihnen nach. Dann wartete ich hier vor dem Haus. Ich scheute mich auszusteigen, aber dann sah ich Leute rennen, hörte sie schreien und rufen. Da wusste ich, dass irgendetwas passiert sei. Ich erwischte die beiden Officers und schleppte sie hierher.“
Die Polizisten grinsten und nickten.
„Genau so war es“, sagte der eine. „Wir wollten zuerst nicht mit. Dann überlegten wir uns, dass eine weiße Dame nicht grundlos in dieser Gegend um Hilfe bittet.“
„Jedenfalls vielen Dank“, lächelte Braden. „Ich würde an Ihrer Stelle die beiden Burschen erst mal auf Nummer Sicher bringen. Dann möchte ich mit dem Hauptquartier sprechen.“
Eine Sirene heulte. Ein Streifenwagen hielt, und die Cops kamen heraufgestürmt.
„Hello, da seid ihr ja schon!“, begrüßte der Sergeant seine beiden farbigen Kameraden. „Es wurde, wie uns die Zentrale sagte, ein anonymer Alarm gegeben. Der Mann sagte, es sei hier ein Mord verübt worden.“
„Wie Sie sehen, hatte er recht“, sagte Braden und wiederholte kurz, was er bereits einmal erzählt hatte.
Zwei Cops blieben als Wache bei dem Toten zurück, bis die Mordkommission kommen würde. Die anderen Polizisten mit den beiden gefesselten Gangstern sowie Braden und Sunny fuhren zur Police-Station in der Convent Avenue.
Die zwei Mörder sprachen kein Wort. Jack Braden kannte das. Professionelle Gangster ziehen es vor zu schweigen, solange sie können, vor allem Leute, die mit Rauschgift zu tun haben. Sie warten darauf, dass ihre Organisation ihnen einen Anwalt schickt.
Von der Station aus sprach Jack Braden mit Leutnant Temper, der anordnete, dass die zwei Gefangenen zum Hauptquartier gebracht und der Tote ins Leichenschauhaus geschafft würde. Die Wohnung musste bewacht werden, bis sie gründlich durchsucht war.
Auch im Hauptquartier hüllten die zwei Gangster sich in Schweigen. Aber das half ihnen wenig. Sie wurden sehr schnell identifiziert. Sie hatten schon eine ganze Menge auf dem Kerbholz. Ihre Vornamen waren Johnny und Pete. Im Übrigen hießen sie Smith, Miller, Brown und so weiter, je nach Bedarf. Ihre wirklichen Namen wussten sie selber kaum noch.
Leutnant Temper redete ihnen gut zu. Er versprach sogar, sie würden um ein Todesurteil herumkommen, wenn sie auspackten. Aber sie zuckten nur die Achseln. Die Burschen waren verstockt, so verstockt, dass man annehmen musste, sie rechneten darauf, losgeeist zu werden.
Am nächsten Vormittag um zehn Uhr wurden sie dem Stadtgericht vorgeführt, das darüber entscheiden musste, ob sie an das Schwurgericht überwiesen, in Haft behalten oder gegen Kaution freigelassen werden sollten. Es war der Municipal Court in der 42ten Straße.
Richter Power präsidierte. Braden war als Zeuge geladen und berichtete, so viel er berichten wollte und durfte.
Judge Power betrachtete sich die beiden Galgenvögel. Dann meinte er: „Hört einmal, Jungs! Ihr wisst, dass ihr bis über den Hals in der Tinte sitzt. Ihr werdet braten, das heißt, wenn ihr nicht singt. Wenn ihr die Leute nennt, die euch den Auftrag gegeben haben, Claude Galan zu ermorden, so bin ich bereit, ein gutes Wort für euch einzulegen. Was sagt ihr dazu?“
„Wir können nichts sagen“, behauptete Pete. „Wir kamen, um unseren Freund Claude zu besuchen. Da war er aber schon tot. Dann erschien dieser Plattfuß da“, er deutete auf Braden. „Er bedrohte uns mit der Pistole und rief die Cops. Wir wissen überhaupt nichts.“
Sein Kumpan nickte dazu, und beide machten unschuldsvolle Gesichter.
„Mit mir könnt ihr das nicht machen!“, grinste Judge Power. „Ich bin ja nicht von gestern. Ihr habt gehört, was der Zeuge Braden ausgesagt hat. Er hörte, wie ihr den Mann, der mit einem Messerstich in der Brust tot aufgefunden wurde, bedrohtet. Außerdem hat man an dem Messer, das Sie noch in der Tasche trugen, Blutspuren gefunden, und zwar von derselbe Blutgruppe wie der des Toten. Ihr könnt euch nicht herausreden, ihr seid geliefert.“
Die zwei Gangster sahen sich an. Sie wussten, dass sie in der Tinte saßen, und ihre Hoffnung, dass man ihnen einen Anwalt schicken würde, hatte sich nicht erfüllt.
„Na, wollt ihr nun, oder nicht?“, fragte der Richter.
Pete, der schon vorher das Wort geführt hatte, gab sich einen Ruck.
„Zuerst will ich betonen, dass wir bei unserer Aussage bleiben“, sagte er. „Wir haben den Mann nicht ermordet, aber wir sind zu ihm geschickt worden, um etwas zu besprechen. Geben Sie uns ein paar Tage Zeit, damit wir uns die Sache überlegen können. Wenn wir das Versprechen bekommen, dass man uns laufen lässt, so wäre darüber zu reden.“
Das war der Höhepunkt an Unverfrorenheit. Judge Power lächelte ironisch.
„Ihr seid Schafsköpfe!“, begann er, aber er kam nicht weiter.
Es war ungeheuerlich und noch niemals dagewesen: Die Garbe einer Maschinenpistole peitschte durch den Gerichtssaal.
Die zwei Gangster auf der Anklagebank sackten zusammen, ebenso ein Gerichtsdiener, während ein anderer laut aufschrie und sich an die Schulter fasste. Eine zweite Garbe ließ den Putz von der Decke herunterprasseln.
Die Hölle war los. Im Zuschauerraum gellten hysterische Schreie. Die Geistesgegenwärtigen unter dem Publikum warfen sich zu Boden. Der Rest drängte in wilder Panik nach draußen. Selbst Judge Power war unter dem grün bedeckten Richtertisch verschwunden.
Jack Braden hatte das Mündungsfeuer gesehen, und auch er war unwillkürlich zu Boden gegangen. Als er wieder aufsprang, sah er nur noch die Menge, die sich schreiend und fluchend durch die Türe nach draußen drängte.
In dieser Menge musste der Mörder untergetaucht sein.
Jack Braden rannte. Dicht neben ihm lief jemand, der ihn in wenigen Schritten überholte. Es war Louis Thrillbroker, der langbeinige Kriminalreporter der MORNING NEWS. Seine langen Haare flogen, und die Leica hüpfte bei jedem Sprung auf seiner Brust.
Keuchend vor Anstrengung gewann Braden die Straße. Er rannte zu seinem Porsche.
„Dort! Das ist er!“ Der Reporter hob die Kamera, knipste und sprang neben den Privatdetektiv auf den Beifahrersitz.
Während Braden anfuhr, schwang sich ein Polizist auf. Er hing auf dem Schlag des offenen Wagens, zog die Pistole und wies nach vorn, wo sich ein Buick vom Straßenrand löste und um die Ecke der Ninths Avenue fegte.
Hinter sich hörte Braden das Geheul einer Polizeisirene. Ungefähr 200 Fuß trennten ihn von dem flüchtenden Buick.
„Schneller!“, schrie der aufgeregte Polizist. „Schneller!“
Braden kam näher. Er sah, wie der Buick durch die Kurve in die 30. Straße gerissen wurde, wie das Heck des Wagens herumschlitterte. Aber der Fahrer bekam ihn wieder in seine Gewalt.
Ohne seine Geschwindigkeit zu mäßigen, fegte Braden um die Ecke. Der Kerl wollte den Eingang zum Lincoln-Tunnel erreichen. Wenn ihm das gelang, so würde es schwer sein, ihn einzuholen.
Vom General Postoffice, dem Hauptpostamt, kam ein schwerer Transportwagen, der dasselbe Ziel hatte. Er versperrte dem Buick den Weg. Der Fahrer bremste ...
Der Wagen schlitterte und sprang über den Bürgersteig. Passanten stoben auseinander.
Aber er schaffte es nicht ganz. Er streifte den Postwagen. Braden sah, wie das rechte Vorderrad abgerissen wurde, in hohem Bogen durch die Luft flog und durch die Schaufensterscheibe eines Delikatessengeschäftes krachte.
Der Buick schaukelte wie ein Schiff im Sturm, drehte sich um sich selbst, überschlug sich dreimal und blieb liegen.
Hätte der Porsche nicht so ausgezeichnete Bremsen gehabt, so wäre es ihm und seinen Insassen ebenfalls übel ergangen.
Nur zwanzig Fuß von dem rauchenden Wrack brachte Jack Braden ihn zum Stellen. Alle drei sprangen heraus, um im nächsten Augenblick wie von der Faust eines Riesen zurückgeschleudert zu werden. Eine Stichflamme schoss aus den Trümmern des Buick. Der Benzintank war in die Luft gegangen.
Als Jack Braden seine Knochen betastete und mit Erleichterung feststellte, dass sie noch heil waren, brannte der verunglückte Wagen lichterloh.
Es bestand keine Möglichkeit heranzukommen.
Wenige Minuten danach ertönten die Rasselklingeln der Feuerwehr. Schaumlöscher traten in Tätigkeit.
Als man dann endlich den ausgebrannten Wagen untersuchen konnte, waren die beiden Insassen bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Nicht einmal die Nummer des Fahrzeugs ließ sich feststellen. Die Hitze hatte alles zerstört.
Als Braden zum Gerichtsgebäude zurückkehrte, erfuhr er, dass die beiden Gangster Johnny und Pete ebenso wie einer der Gerichtsdiener tot waren. Außerdem hatte es noch sechs Verwundete gegeben.
Louis Thrillbroker nahm den abgespulten Film aus der Leica und grinste befriedigt.
„Das ist einmal wieder eine Sache! Wenn ich daran denke, dass mein Kollege vom HERALD nur fünfzig Schritte von hier entfernt in einem anderen Saal saß und das Theater versäumte, könnte ich vor Vergnügen Purzelbäume schlagen.“
„Lassen Sie das lieber, Louis. Ihre Beine könnten sich dabei verwickeln, und das wäre ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die Menschheit“, meinte Jack Braden. „Außerdem war es für andere nicht gerade vergnüglich.“
Am Nachmittag hätte Braden den Reporter am liebsten geohrfeigt. In den NEWS war unter anderem eine Fotografie, die ihn darstellte, wie er gerade in seinen Wagen sprang.
„Der bekannte Privatdetektiv Jack Braden nimmt die Verfolgung der Mörder auf, nachdem sie aus dem Gerichtssaal entkommen waren.“
Zum Überfluss schilderte Thrillbroker auch noch mit ausschweifender Reporterphantasie, wie Braden „mit Unterstützung seiner reizenden, blonden Sekretärin“ die Gangster gestellt hatte, nachdem die gerade „einen gewissen Claude“ – den Nachnamen wusste der Reporter wohl nicht – erstochen hatten.
Jack Braden war wütend. Als erstes rief er Leutnant Temper an.
„Mussten Sie diesem sensationslüsternen Schreiberling unbedingt Dinge verraten, die geheim gehalten werden müssten?“, fragte er ihn.
„Ich bin schuldlos, Jack“, protestierte der Leutnant. „Von mir hat er nichts erfahren, obwohl er mich presste.“
„Dann hat einer Ihrer Leute den Mund nicht gehalten.“
„Auch das ist unmöglich. Aber ich kann Ihnen des Rätsels Lösung verraten. Fünf Cops waren zur Stelle, als sich die Sache in der 134. Straße abspielte. Der eine oder andere von ihnen hat sich eben ein paar Dollars nebenbei verdient. Wollen Sie den Leuten das übelnehmen?“
Jack Braden wusste, dass die Gehälter der Polizisten nicht groß waren. Es war natürlich verboten, Reportern Auskünfte zu geben, aber es geschah immer wieder. Es hätte nur ein Mittel gegeben, um das zu unterbinden, nämlich die Gehälter der Polizei zu erhöhen.
Jedenfalls war das Unglück geschehen. Die Rauschgifthändler wussten nun genau, wer ihnen auf den Fersen war. Er würde also in nächster Zeit gewaltig aufpassen müssen.
Es war sechs Uhr nachmittags, als das Telefon klingelte.
„Hier ist Robby“, hörte Jack Braden die Stimme des kleinen Spitzels. „Sie müssen mir helfen. Die Kerle sind hinter mir her. Sie müssen erfahren haben, dass ich Ihnen einen Tipp gegeben habe, und als Sie in der 134. Straße in Druck kamen, Hilfe herbeitelefonierte.“
„Wo sind Sie, Robby?“
„Im MAULWURFSHÜGEL, in der Oliverstreet.“
„Bleiben Sie dort. Ich hole Sie ab.“
Braden stülpte den Hut auf und sagte: „Ich muss ins East End, Sunny. Der kleine Schmierlapp, der mich zu Claude Galans Bleibe gebracht hat, ist im Druck. Er hat, wahrscheinlich nicht zu Unrecht, Angst vor der Rauschgiftbande, die ihm auf die Sprünge gekommen ist. Was die Kerle mit Verrätern machen, habe ich ja heute erst erlebt.“
Robby saß in der hintersten Ecke des halbdunklen, typischen Ostend-Lokals. Er schlotterte buchstäblich vor Angst.
„Als ich heute morgen aus dem Fenster sah, stand einer gegenüber und glotzte herauf. Ich dachte mir nichts dabei. Als aber vorhin dasselbe geschah, wusste ich, was die Uhr geschlagen hat. Ich verdrückte mich über den Hof und die Mauer zum Nebenhaus. So kam ich hierher. Wenn sie mich erwischen, machen sie mich kalt.“
„Da gibt es nur eines, was ich für Sie tun kann, Robby. Ich bringe Sie zur Stadtpolizei, und Sie lassen sich in Schutzhaft nehmen, bis der Zirkus vorüber ist. Ich glaube nicht, dass es lange dauern wird, bis die Citizen Police die Bande ausgehoben hat.“
„Dann kommen Sie. Lieber eine Zelle im Polizeigefängnis als eine Grube auf dem Friedhof.“
Nachdem er den Kleinen in der Centerstreet abgeliefert hatte, fuhr Braden in sein Office.
Sunny hatte von innen zugeschlossen. „Warum denn das?“, fragte Jack, nachdem sie ihn eingelassen hatte.
„Der Pförtner telefonierte vor einer Stunde, es hätten sich zwei merkwürdige Gestalten erkundigt, ob Sie im Office seien. Er sagte nein, aber sie fuhren trotzdem nach oben. Als sie kamen, hatte ich bereits abgeschlossen. Ich betrachtete sie mir durch den Spion. Wenn das keine Gangster waren, so will ich mich frikassieren und braten lassen. Sie klingelten ein paarmal und gingen wieder weg.“
„Dann empfehle ich Ihnen, jedes Mal zu zuschließen, wenn ich nicht zu Hause bin“, sagte Braden. „Dann sind Sie wenigstens sicher.“
Am Abend führte Jack Braden seine Sekretärin zum Dinner ins FIFTH AVENUE HOTEL. Er hoffte immer noch, einmal dem Mann zu begegnen, dessen seltsame Rechnung sich auf das Tischtuch durchgedrückt hatte.
Der Grill-Room war dicht besetzt. Nur ein kleiner Tisch dicht neben dem, an dem die drei würdigen Herren aus Süditalien gespeist hatten, war noch frei. Der bewusste Tisch war besetzt, aber die Gäste gingen, bevor Sunny und Braden ihr Dinner beendet hatten.
„Jetzt könnten die Burschen eigentlich kommen“, meinte Jack.
Sunny sah ihn vorwurfsvoll an.
„Und ich habe immer geglaubt, Sie hätten etwas für mich übrig“, sagte sie. „Ich habe Ihnen zu Ehren mein bestes Abendkleid angezogen, und Sie haben es noch nicht einmal bemerkt.“
„Es tut mir aufrichtig leid, Sunny“, antwortete er geknickt. „Ich war so damit beschäftigt, Ihr Gesicht und die neue Frisur zu bewundern, dass ich das Kleid übersehen habe.“
„Sie alter Schwindler! Sie haben überhaupt nicht an mich gedacht.“
Bevor er sich verteidigen konnte, sah er drei ältere, gewichtige Gentlemen hereinkommen. Sie trugen Dinnerjacketts, aber man sah ihnen an, woher sie stammten. Braden hätte darauf schwören mögen, sie seien Italiener.
Der Kellner komplimentierte sie an den freigewordenen Tisch. Sie bestellten Cocktails und dann ein Supper, das mit Langusten begann und mit einem Eisomelette schloss.
„Einen wunderbaren Appetit haben die drei!“, flüsterte Sunny. „Ich hätte ihn auch, aber ich darf mir das nicht leisten, der schlanken Linie wegen. Stellen Sie sich vor, Jack, ich habe wieder ein Pfund zugenommen!“
„Was Ihnen aber recht gut steht, Sunny“, lächelte er.
Die Herren am Nebentisch unterhielten sich auf italienisch, und dazu flüsterten sie. Braden verstand kein Wort. Dann nahm der eine einen Bleistift aus der Tasche, legte einen Zettel aufs Tischtuch und fing zu kritzeln an.
Zwischendurch betrachtete er Sunny und zwar mit auffälligem Wohlgefallen.
„Unverschämtheit!“, flüsterte sie.
„Mag sein, aber mir passt es gerade in den Kram. Lächeln Sie ihn einmal an. Tun Sie so, als ob Sie durchaus nicht unnahbar seien. Es liegt mir daran, mit den Burschen ins Gespräch zu kommen.“
„Was bekomme ich dafür?“, neckte sie.
„Das muss ich mir noch überlegen. Was ich Ihnen geben möchte, darf ich nicht, und was Sie gerne haben wollen, kann ich nicht.“
„Nehmen wir einmal an, beides wäre dasselbe“, gab sie ganz ernsthaft zurück. „Bekomme ich dann, was ich will?“
„Wenn Sie wollen, Sunny, dann sofort.“
„Ich werde mich hüten, und außerdem ... Sie wollten doch, dass ich mit dem Dicken da drüben flirte.“
„Das ist Geschäft.“
„Und meinen Sie, dass das andere ein Vergnügen ist?“
Dann konzentrierte sie sich auf den Mann, der so großes Interesse an ihr nahm.
Das Spiel ging eine Viertelstunde lang. Dann stand der Mann auf und ging in Richtung des Waschraums. Gerade als er an dem Tisch vorbeikam, an dem Sunny und Jack saßen, flatterte ihm etwas Weißes vor die Füße. Es war Dawn Barris Taschentuch, das sie aus Versehen mit Absicht hatte fallen lassen. Der Dicke bückte sich mit bewundernswürdiger Elastizität, hob das Tüchlein auf und überreichte es mit Grandezza seiner Besitzerin.
„Vielen Dank, mein Herr. Sie sind zu liebenswürdig“, schmeichelte Sunny.
Das verfehlte seine Wirkung nicht. Der Mann blieb unschlüssig stehen.
„Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ihnen gefällig sein zu dürfen“, sagte er mit einer viel zu tiefen Verneigung.
„Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“, schaltete sich Braden ein.
„Ich würde mit Vergnügen annehmen, aber ich bin in Gesellschaft. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie an unserem Tisch Platz nehmen wollten.“
Das war mehr, als Jack erwartet hatte. Er wusste zwar, dass diese Einladung nicht ihm, sondern Sunny galt, aber das rührte ihn weiter nicht.
Er blickte seine Sekretärin an, und dann erklärte er, er fühle sich außerordentlich geehrt.
Die beiden anderen Herren erhoben sich höflichst, und die Vorstellung begann. Der, der sie herüber gebeten hatte, hieß Arturo Polento, die anderen Guilio Balito und Paolo Finote. Wie sie erzählten, betrieben sie gemeinsam ein Fruchtimportgeschäft. Dieses Geschäft musste einen anständigen Gewinn abwerfen. Sie ließen französischen Champagner auffahren, und Jack Braden musste sich eingestehen, dass sie außerordentlich liebenswürdige Gesellschafter waren und interessant von ihren Plantagen in Südamerika zu erzählen wussten.
Am lebhaftesten war Mr. Polento. Seine Lebhaftigkeit entzückte sich an Sunnys Übermut, die schamlos mit ihm zu flirten begann. Als Jack Braden ihr heimlich unterm Tisch auf den Fuß trat, blickte sie ihn schelmisch an, als wolle sie sagen: Du hast es ja so gewollt!
Die dritte Flasche war bereits aufgefahren, als Mr. Polento ganz abwesend in die Brusttasche griff, einen Bleistift zu Tage förderte, einen Zettel auf den Tisch legte, und anfing, flammende Herzen zu malen.“
Plötzlich griff Jack Braden zu und nahm den Zettel auf. „Sehen Sie mal“, sagte er. Die Herzen hatten sich in das Tuch eingedrückt.
Polento blickte etwas verlegen auf die verräterischen Spuren und meinte: „Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Mir wurde das schon ein paar Mal vorgehalten, aber immer wieder denke ich nicht dran.“
„Dann waren wohl auch Sie es, der vorgestern genau an diesem Tisch eine Rechnung aufstellte. Halten Sie mich nicht für indiskret, aber was für Früchte sind es eigentlich, die hundert Dollar per Kilo kosten?“
Für ein paar Sekunden war Mr. Polento unsicher. Seine beiden Partner blickten ihn, wie es Braden schien, erwartungsvoll an.
Dann lachte Mr. Polento.
„Es sind tatsächlich besonders kostbare Früchte. Wir haben drunten in Florida ein Experiment gemacht. Wir haben Trüffel angepflanzt, die sich zur drei bis vierfachen Größe der aus Europa importierten ausgewachsen haben. Darum können wir sie auch entsprechend teuer verkaufen. Ein ausgezeichnetes Geschäft, Mister Braden. Wir haben die Absicht, dieses Geschäft gewaltig auszuweiten.“
Die beiden anderen lachten.
„Unglaublich!“, staunte Jack Braden. „Ich habe wohl schon Trüffel in kleinen Stückchen, zum Beispiel in Gänseleberpastete, gegessen, aber ich habe niemals gewusst, dass sie so teuer sein können. Wie züchtet man die eigentlich?“
„Sie wachsen unter der Erde und werden von Schweinen, die dieses Zeug besonders gerne fressen, ausgegraben. Man muss den Borstentierchen allerdings einen Maulkorb überziehen, sonst bekommen wir nichts von den Trüffeln.“ Polento wollte sich totlachen.
Während das Gespräch wieder auf andere Dinge übersprang, dachte Braden, wie leicht man sich doch verkalkulieren kann, wenn man sich in eine Sache verbohrt hat.
Es war schon lange nach Mitternacht, als er auf die Uhr blickte und zum Aufbruch mahnte. Die drei Herren waren offensichtlich enttäuscht und versuchten zu protestieren. Aber Braden blieb unerbittlich. Er hatte gemerkt, dass Sunnys Übermut in einen kleinen Schwips übergegangen war, und er fürchtete, sie könne sich verraten.
„Aber Sie werden uns doch das Vergnügen machen, uns gelegentlich einmal in unserem Geschäftshaus in der Eight Avenue aufzusuchen? Es ist Nummer zweihundertachtzig, genau an der Ecke der vierundzwanzigsten Straße“, bat Polento. „Selbstverständlich ist auch Miss Barris höchst willkommen.“
Braden versprach das. Es gab einen wortreichen Abschied mit gegenseitigem Dank und der Versicherung, es sei außerordentlich nett gewesen.
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„Da sehen Sie, wohin übermäßiges Misstrauen führen kann!“, lachte Sunny, als sie im Wagen saßen. „Es sind nichts als drei geschäftstüchtige und im Übrigen amüsante alte Herren, mit denen ich mich königlich amüsiert habe.“
„Besonders mit Polento!“, stichelte Braden.
„Wieso? Sie haben mich ja auf ihn gehetzt? Übrigens hat er zwölf flammende Herzen auf seinen Zettel gemalt, und bei jedem Herz schmachtete er mich an wie ein liebestoller Kater den Mond.“
„Seien Sie vorsichtig, Sunny! Diese Sizilianer sind gefährlich. Sie nehmen Liebesdinge gewöhnlich tragisch und reagieren mit dem Messer, wenn sie sich angeführt fühlen.“
„Übertreiben Sie nicht, Jack. Polento mit ‘nem Messer! Ich könnte mich totlachen.“
Am Morgen kam Dawn Barris eine Stunde zu spät.
„Entschuldigen Sie, Jack, aber ich habe verschlafen. Ich glaube, ich hatte doch zu viel Champagner im Kopf.“
„Haben Sie wenigstens etwas Schönes geträumt?“
„Fragen Sie mich nicht! Ich träumte von Polento. Er ging mit einem Schwein spazieren und suchte Trüffel, und dieses Schwein hatte tatsächlich einen Maulkorb an.“
„Wenn es sonst nichts ist!“
Um elf Uhr meldete sich Leutnant Temper. Man hatte die Maschinenpistole gefunden, aus der gestern im Gerichtssaal die tödlichen Schüsse abgefeuert worden waren. Merkwürdigerweise stammte sie aus Chicago. Sie war dort vor mehr als einem Jahr bei einem Kampf zwischen Polizei und Gangstern abhanden gekommen.
„Also haben wir es mit einer Gang zu tun, und zwar mit einer gefährlichen“, folgerte Braden.
„Es sieht so aus, aber das war zu erwarten“, antwortete der Leutnant. „Rauschgifthändler sind sehr selten Einzelgänger. Sie brauchen ja eine Organisation, also eine Gang.“
Der Leutnant berichtete ferner, dass man am Vorabend in „Hells Kitchen“ eine neuerliche Razzia veranstaltet hatte. Aber diesmal war nicht einmal ein kleiner Rauschgifthändler ins Garn gegangen. Es war überhaupt eigenartig ruhig und friedlich gewesen.
„Kein Wunder“, sagte Jack Braden. „Das ist immer so. Die Kerle warten, bis das Interesse der Polizei abgeflaut ist, und dann kriechen die Ratten wieder aus ihren Löchern. Inzwischen haben sie sich wohl ein anderes Betätigungsfeld gesucht.“
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Dann machte Braden einen Besuch bei Mr. Schindler.
„So! Sie haben den Kerl also zur Strecke gebracht, wenn auch nur indirekt, aber schließlich wurde er ja nur darum umgelegt, weil Sie hinter ihm her waren. Damit ist mein Auftrag erledigt. Ich hätte zwar lieber zugesehen, wenn er auf den Stuhl geschnallt würde, aber es genügt auch so.“
„Für mich ist der Fall noch nicht erledigt“, erwiderte Braden. „Ich bin dabei, in Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei die ganze Organisation der Rauschgifthändler, denen auch Ihre Tochter zum Opfer gefallen ist, aufzurollen.“
„Wieso Rauschgifthändler?“, fragte Schindler erstaunt.
„Ich wollte es Ihnen eigentlich nicht sagen. Ihre Tochter kam durch einen unglücklichen Zufall mit Freundinnen auf eine Party, auf der Marihuana-Zigaretten geraucht wurden. Mancher ist dagegen widerstandsfähig, und mancher nicht. Nachdem man Petra eine dieser Zigaretten aufgenötigt hatte, fand sie Geschmack daran, solange, bis ihr zu Bewusstsein kam, was das bedeutete. Da erklärte sie, sie werde Ihnen beichten. Das hörte Claude Galan, und das war Grund genug für ihn, sie zu ermorden. Nun wissen Sie das, was ich Ihnen verschweigen wollte, aber Sie hätten es ja wahrscheinlich doch erfahren?“
„Und hinter dieser Gang sind Sie jetzt her, Mister Braden?“
„Ich habe mir vorgenommen, sie unschädlich zu machen, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet.“
„Und wer bezahlt Ihnen das?“
„Sie! Die fünftausend Dollar sind mehr als genug dafür!“
„Sie sind ein verzweifelt schlechter Geschäftsmann, Mister Braden“, meinte Mr. Schindler. „Wenn Sie hier Generalmanager wären, so hätte die Firma bestimmt schon Konkurs angemeldet.“
„Das mag sein, aber ich wäre auch zum Direktor einer Versicherung denkbar ungeeignet.“
Mr. Schindler stützte den Kopf in die Hand. Er schien angestrengt nachzudenken.
„Eigentlich ist die Sache gar nicht so schlecht“, überlegte er. „Wir haben in den letzten Monaten eine ganze Anzahl großer Lebensversicherungen vorzeitig auszahlen müssen. Der Grund war, dass die Versicherungsnehmer Marihuana geraucht, Heroin gespritzt oder auch sonstigen Unfug gemacht hatten, der sie ihrer klaren Sinne beraubte. Teils sind sie verunglückt, teils haben sie Selbstmord begangen, und der Rest krepierte elend in einer Klapsmühle ... Mir geht da eben etwas durch den Kopf. Haben Sie noch zehn Minuten Zeit?“
„Gewiss, Mister Schindler.“
Braden war überrascht über den plötzlichen Wechsel im Ton des allgewaltigen Direktors.
Schindler verschwand und kam nach genau zehn Minuten zurück.
„Well. Ich habe einen oberflächlichen Überschlag gemacht. Wir haben innerhalb der letzten sechs Monate annähernd eine Million Dollar an Leute ausgezahlt, die auf die erwähnte Art ums Leben kamen. Gewiss, die Versicherungssummen waren durch Einzahlungen um zwei Drittel gedeckt, aber es bleibt immer noch ein Rest von über dreihunderttausend Dollar, den uns die Rauschgiftsucht gekostet hat. Ich halte es also für durchaus vertretbar, wenn die Gesellschaft einen gewissen Betrag für Maßnahmen auswirft, die geeignet sind, die Zufuhr von Rauschgift zu drosseln.“
„Ich verstehe“, sagte Braden, dem langsam ein Licht aufging.
„Ich möchte Ihnen also im Namen der Concordia Life Insurance Cy. einen entsprechenden Auftrag erteilen. Wie lange Zeit werden Sie voraussichtlich brauchen, um die Organisation, der Sie auf der Spur sind, aufzudecken und dafür zu sorgen, dass die Polizei den Rest erledigt?“
„Das kann ich unmöglich sagen. Es kann morgen geschehen, und es kann vier Wochen dauern. Es ist auch möglich, dass ich keinen Erfolg habe.“
„Ein Risiko ist immer vorhanden, bei meinem Geschäft wie Ihrem. Hören Sie zu. Erstens schulde ich Ihnen noch fünftausend Dollar für die Überführung des Mörders meiner Tochter. Ferner wird die Life Insurance Ihnen einen Betrag von zehntausend Dollar als Spesen und Honorarvorschuss bewilligen. Haben Sie keinen Erfolg, dann bleibt es bei diesen zehntausend. Wenn Sie jedoch eine bedeutende Rauschgiftgang zur Strecke bringen, so wird die Gesellschaft Ihnen je nach dem Resultat Ihrer Bemühungen eine zusätzliche Summe auswerfen. Sind Sie einverstanden?“
„Gern, Mister Schindler, denn andernfalls hätte ich die Spesen aus meiner Tasche bezahlen müssen. Damit Sie aber sehen, dass ich doch kein so schlechter Geschäftsmann bin, wie Sie denken, stelle ich Ihnen anheim, über die zehntausend Dollars Honorar und Spesen, die ursprünglich vereinbart waren, einen weiteren Betrag von fünftausend Dollars auszuwerfen, den ich einem Mann schuldig bin, der mir den entscheidenden Tipp gegeben hat. Er ist ein armer Schlucker und sitzt zur Zeit in Schutzhaft im Polizeigefängnis, weil er fürchtet, dass die Rauschgiftgang ihm den Garaus machen wird.“
„Darauf soll es mir nicht ankommen.“ Mister Schindler zog sein Scheckbuch. Der Betrag, den er auf das kleine, dünne Blatt Papier schrieb, bezifferte sich auf zwanzigtausend Dollars. Er reichte den Scheck herüber wie ein anderer einen Zehndollarschein.
„Nochmals vielen Dank, Mister Braden. Ich rechne damit, dass Sie mich nach Möglichkeit auf dem Laufenden halten.“
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Der nächste Weg führte Braden zum Polizeihauptquartier und dort zu Leutnant Temper.
„Wenn Robby aus der Haft entlassen wird, so drücken Sie ihm dieses Papierchen in die Hand. Ich glaube, er wird sich freuen, sagte Braden und riss einen Scheck über fünftausend Dollar, den er selbst ausgeschrieben hatte, aus dem Heft.
„Sind Sie Millionär geworden, Jack?“
„Nein, aber soeben sind mir zwanzig Grand in den Schoss gefallen, und davon soll der arme Teufel etwas abhaben.“
„Ich glaube, Sie sind nicht mehr ganz zurechnungsfähig, Braden. Wissen Sie denn nicht, dass er die fünftausend in spätestens vier Wochen auf den Kopf gehauen haben wird?“
„Dann hat er Spaß gehabt, und das ist ja der Zweck der Übung.“
Als Jack Braden im Office ankam, wartete George Patterson auf ihn.
„Na, George! Gibt es was neues?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich habe meine Fühler ausgestreckt und habe dabei etwas merkwürdiges erfahren. Ein guter Freund aus der Unterwelt hat mir anvertraut, dass in der sechsundvierzigsten Straße vierhundertelf in einem im Hof stehenden kleinen Schuppen ein geheimnisvoller Betrieb ist. Von Zeit zu Zeit kommt ein Lastwagen, der dort Säcke ablädt. Diese Säcke werden auch wieder abtransportiert, aber immer nur zwei oder drei Stück. Außerdem behauptet mein Gewährsmann, dass es dort, so bald die Tür des Schuppens geöffnet wird, recht eigentümlich duftet. Wie Heu, sagt er.“
„Denken Sie etwa, dass jemand mitten in der Stadt ein Marihuanalager aufgemacht hätte?“
„Vielleicht hält man das für am sichersten. Jedenfalls möchte ich einmal nachsehen, und ich dachte, dass auch Sie daran interessiert seien.“
„Eigentlich wäre das ja Sache der Polizei“, überlegte Braden.
„Die können wir immer noch rufen. Stellen Sie sich vor, wir alarmieren die Cops – ich war ja selbst einmal einer –, und die finden wirklich nur Heu oder Kräuter in dem Schuppen! Dann sind wir die Blamierten.“
„Also schön, gehen wir nachsehen. Muss es gleich sein?“
„Beileibe nicht. So etwas tut man nur bei Nacht. Wir wollen ja nicht auffallen.“
„Abgemacht. Um wie viel Uhr soll die Aktion steigen?“
„Gegen elf. Das halte ich für die beste Zeit. Wo treffen wir uns?“
„Wo Sie wollen, Jack.“
„Sagen wir also im Steakhouse am Times Square?“
„Werde ich auch mitgenommen?“, fragte Dawn Barris, die zugehört hatte.
„Heute nicht, Sunny. Die Sache ist mir zu gefährlich, und ich kann ja nicht dauernd auf Sie aufpassen.“
Sie zog eine Flunsch.
„Dann eben nicht. Dann gehe ich in den neuesten Kriminalreißer von Hitchcock im Rivoli.“
„Das ist wahrscheinlich amüsanter und weniger anstrengend“, lachte Jack Braden.
Um neun Uhr ging Dawn Barris ins Kino. Um zehn war Braden im Steakhouse, um sich für die bevorstehende Expedition zu stärken. Patterson leistete ihm Gesellschaft. Er fand die Portionen zu klein.
Um zehn Uhr fünfundvierzig machten sie sich auf den Weg. Um elf Uhr fuhr der Porsche durch den Torbogen und in den Hof des Hauses Nummer 411 der 46. Straße.
Drinnen wendete Braden zuerst einmal. Er konnte nicht wissen, ob er nicht vielleicht eiligst das Feld werde räumen müssen. Das Hinterhaus war finster, anscheinend befanden sich dort Lagerräume.
An der rechten Seite des Hofes stand der Schuppen. Man konnte das kleine Gebäude eigentlich kaum so bezeichnen. Es war nicht länger als 25 Fuß und kaum 12 Fuß breit. Es war aus vorfabrizierten Teilen zusammengesetzt, hatte ein flaches Dach und eine schwere, eiserne Tür.
„Schön und gut!“, meinte Braden, nachdem er alles mit der Taschenlampe abgeleuchtet hatte. „Wie sollen wir da hineinkommen? Wenn Sie sich täuschen, so machen wir uns eines Einbruchs schuldig, den man uns gewaltig übel nehmen würde.“
„Wenn wir uns erwischen lassen.“
Braden besah sich noch einmal die Tür, und da merkte er, dass die Krampen, die für ein Hängeschloss bestimmt waren, leer waren. Er fasste den Knopf des Schnappers und erschrak fast, als die Tür ohne Mühe aufsprang.
„Reingefallen!“, sagte er spontan.
Der Raum war leer. Dann aber stieg ihm ein Geruch in die Nase, den er kannte. Es roch nach Haschisch. Hier mussten große Mengen des Rauschgifts gelagert haben.
Beide machten sich auf die Suche, und es dauerte gar nicht lange, bis sie ein paar kleine, vertrocknete Hanfstückchen fanden. Das war der Beweis.
Warum aber hatte man den Schuppen, der noch vor Kurzem benutzt worden sein musste, gerade jetzt ausgeleert?
Genau gegenüber befand sich eine Kneipe. Wenn man etwas erfahren konnte, so war es dort.
Es war eine kleine, verräucherte Kneipe, die nur fünf oder sechs Tische und ebenso viele Hocker an der Bar enthielt. Sie war nicht sehr gut besetzt. Die Gäste waren ausnahmslos farbige Jungen und Mädchen. Keine Person über 25 war zu sehen.
Die Ankömmlinge wurden von allen Seiten beäugt. Braden kümmerte sich nicht darum. Er sagte laut und freundlich: „Guten Abend.“
Es antwortete niemand.
Sie setzten sich auf zwei leere Hocker, und um im Rahmen zu bleiben, bestellte der Privatdetektiv zwei Scotch on the rocks.
Auch der Wirt war ein Schwarzer, aber er nahm nicht wie so viele seinesgleichen Anstoß an der Anwesenheit Weißer. Braden stellte fest, dass die Gläser sogar poliert und der Scotch gut war.
„Nicht viel los heute!“, begann er das Gespräch.
„Nein. Die Polypen haben uns das Geschäft verdorben. Zwei Tage hintereinander Razzia ist zu viel. Die Haschischhändler haben die Tapeten gewechselt, und selbstverständlich auch ihre Kunden.“ Er zuckte die Achseln. „Sie sind doch keine Cops?“
Er warf einen misstrauischen Blick auf George Patterson.
Der lachte.
„Eigentlich müsstest du mich ja noch kennen, Willy! Vor acht Jahren haben wir uns zum letzten Male gesehen. Da war ich noch bei dem Verein. Aber keine Angst, heute bin ich Geschäftsmann.“
„Darum kamen Sie mir so bekannt vor. Ich möchte kein Cop sein, Geschäfte sind besser“, grinste der schwarze Wirt und zeigte seine blendend weißen Zähne.
„Sag mal, Willy!“, Patterson beugte sich vor und flüsterte: „Was ich dich jetzt frage, ist rein privat. Wem gehört der kleine Schuppen im Hof gegenüber?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe mir das auch schon überlegt. Das einzige, was ich gemerkt habe, ist, dass man ihn vorgestern morgen, nach der ersten Razzia der Cops, ausgeräumt und die Säcke abgefahren hat. Wissen Sie“, er sah sich vorsichtig um, „ich habe etwas läuten hören, als ob das Ding voller Khif gewesen sei. Es war auch dauernd ein Wächter da. Er machte es möglichst unauffällig, aber man merkte es.“
„Seit vorgestern also ist der Laden leer?“
„Ja, seit vorgestern. Kein Wunder!“
Es ist wirklich kein Wunder, dachte Braden. Wäre die Polizei mit weniger Aufwand zu Werk gegangen, so hätte sie anstelle der drei kleinen Verteiler das Lager eines Großhändlers beschlagnahmen können und vielleicht noch den Wächter dazu.
Braden war ärgerlich, aber schließlich hatte das niemand wissen können, auch nicht das Rauschgiftdezernat. Wer dachte schon an so etwas!
„Noch einen?“, fragte der Wirt.
Um nicht aufzufallen, nickte Braden.
„Für mich eine Flasche Bier“, bestellte Patterson.
Der Wirt holte die Flasche mit Scotch und griff, bevor er eingoss, unter die Theke, wo das Bier im Kühlfach lag. Als er sich wieder aufrichtete, blieb die Hand mit der Flasche einen Augenblick in der Luft hängen. Er starrte über seine beiden Gäste hinweg in Richtung der Tür.
Braden drehte sich um. Die neuen Gäste, die da hereindrängten, waren Weiße, aber bestimmt keine von der besten Sorte. Es waren vier Kerle, die sogar in „Hells Kitchen“ auffallen mussten. Sie hatten Visagen, wie man sie eigentlich nur rund um die Bowery findet.
Wenn Braden jemals Gangster gesehen hatte, so waren es diese Männer. Auch Patterson hatte erkannt, wes Geistes Kind sie waren, und ebenso der Wirt.
Der griff unter die Theke und holte eine abgesägte Schrotflinte heraus. Eine solche Flinte ist in einem geschlossenen Raum eine furchtbare Waffe. Die Schrotkörner haben eine gewaltige Streuung und durchlöchern auf kurze Entfernung ein paar Männer auf einmal.
„Nicht nötig“, grinste George Patterson.
Er machte keine Anstalten, nach dem alten Colt zu greifen, den er im Schulter halfter trug. Er drehte sich nur nach den vier Burschen um und grinste so schmutzig, wie nur ein alter Sergeant der Stadtpolizei grinsen konnte. Dazu kam seine Figur, die Figur eines Catchers, und der mächtige Schädel mit dem vierkantigen Kinn.
Die Schläger verharrten einen Augenblick unschlüssig.
„Los!“, kommandierte einer von ihnen. „Gebt‘s ihnen!“
Das war das Signal, auf das George Patterson gewartet hatte. Sein Hocker flog durch die Luft und traf den Anführer der Bande genau gegen den Schädel.
Er taumelte zurück und wäre zu Boden gegangen, wenn nicht zwei seiner Kumpane ihn festgehalten hätten.
„Raus!“, kommandierte Patterson. Und jetzt kam der Colt zum Vorschein.
Gleichzeitig legte der Wirt seine Flinte schussbereit über die Theke. Jack Braden saß, beide Hände in den Hosentaschen, und sah sich das Theater an. Er hielt es nicht für nötig einzugreifen.
Die vier Rabauken verschwanden schneller, als sie gekommen waren. Patterson ging ihnen nach bis vor die Tür.
„Ich wollte nur sicher sein, dass die Kerle nicht vor Zorn Ihren Wagen zerkratzen“, sagte er, als er zurückkam. „Sie haben aber genug. Sie sind schleunigst abgehauen. Kennen Sie die Burschen?“, fragte er den Wirt.
„Ich habe sie noch nie gesehen. Die sind nicht aus der Gegend.“
„So was habe ich mir gedacht.“ Patterson setzte die Bierflasche an die Lippen und schluckte.
Er schluckte so lange, bis die Pulle leer war. Dann seufzte er vor Wohlbehagen.
„Das war gut.“
Braden ließ sich zu seinem Scotch noch ein Fläschchen Soda geben. Als er seinen Drink geleert hatte, zahlte er, und beide gingen nach draußen.
„Was meinen Sie, George? Glauben Sie, dass die Kerle vorhin zufällig herkamen?“
„Ich lasse mich fressen, wenn sie nicht den Auftrag hatten, Ihnen eine Abreibung zu besorgen. Mit mir haben sie allerdings nicht gerechnet“, feixte er.
20
Am Morgen unterrichtete Braden den Chef des Rauschgiftdezernats, Detektiv Leutnant Cathey, von der Entdeckung im Hof des Hauses 46. Straße Nr. 411, bat ihn aber, in dieser Hinsicht nichts zu unternehmen. Braden wollte die Bande nicht noch nervöser machen, als sie schon war.
„Ein Klient“, meldete Dawn Barris durch den Hausapparat.
„Was für ein Klient?“, fragte Jack Braden. „Was will er?“
„Auf seiner Karte steht William Leggo, sonst nichts. Er meint, es sei vertraulich.“
„Wie sieht er aus?“
„Ein älterer, kleiner Herr. Ich würde auf Rechtsanwalt tippen. Er hat noch jemanden bei sich, einen jungen Mann, der aber anscheinend nichts zu bestellen hat.“
„Dann schicken Sie diesen Leggo herein.“
Zwar hatte sich Jack Braden vorgenommen, zur Zeit keine neuen Aufträge anzunehmen, aber er konnte ja einmal hören, was der Mann wollte.
Mr. Leggo war klein, grauhaarig, trug einen altmodischen. Gehrock, dazu eine Weste, über die sich eine goldene Uhrkette spannte, und schwarze Handschuhe. Er sah weniger aus wie ein Anwalt, sondern wie ein Beerdigungsunternehmer.
„Mr. Braden?“, fragte er.
„Ja, höchstselbst“, lächelte Jack. „Nehmen Sie Platz.“
Der Besucher setzte sich und versuchte die kurzen Beinchen zu kreuzen, was ihm aber nicht so recht gelang.
„Ich komme in einer vertraulichen und sehr delikaten Angelegenheit“, sagte er und spielte mit der Uhrkette.
„Ja?“
„Es ist meinen Auftraggebern bekannt geworden, dass Sie einen gewissen Auftrag von der Concordia Life Insurance Cy. erhalten haben.“
„Das stimmt.“
„Meine Auftraggeber sind daran interessiert, dass Sie diesen Auftrag annullieren. Sie würden sich das etwas kosten lassen.“
„So, würden sie das?“, lächelte Braden. Er glaubte bereits zu wissen, was kommen würde.
„Sie haben von der Concordia einen Scheck über zwanzigtausend Dollar erhalten, den Sie aber, wie meinen Auftraggebern ebenfalls bekannt ist, noch nicht eingelöst haben.“
„Die Leute müssen recht gute Beziehungen haben.“
„Zweifellos. Ich habe Ihnen folgendes Angebot zu machen.“ Mr. Leggo faltete die Hände über dem Bäuchlein. „Wenn Sie jetzt und in meinem Beisein den Scheck der Concordia vernichten und sich verpflichten, in dieser Sache nichts mehr zu unternehmen, so bin ich beauftragt, Ihnen dreißigtausend Dollar in bar auszuzahlen.“
Er öffnete seine Collegemappe und ließ Braden einen Blick auf die darin steckenden Banknotenbündel werfen.
„Und darf ich wissen, wer Ihre Auftraggeber sind?“
„Das weiß ich selbst nicht. Sie haben mir ihre Namen nicht genannt.“
„Aber Sie haben sie gesehen?“
„Vielleicht. Jedenfalls bin ich nicht autorisiert, eine Beschreibung zu liefern. Das wurde mir sogar ausdrücklich verboten.“
„Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister Leggo, aber sie dürften begriffen haben, dass Sie sich da auf eine sehr schmutzige und gefährliche Angelegenheit eingelassen haben. Ich rate Ihnen, mir alle Angaben zu machen, die zur Auffindung der Leute dienen können, die Sie zu mir geschickt haben.“
„Ich bedaure, Mister Braden. Ich muss das ablehnen. Übrigens geht mein Auftrag noch weiter. Sollten Sie aus irgendwelchen sentimentalen Gründen mein Angebot nicht akzeptieren, so soll ich Ihnen raten, schleunigst eine längere Erholungsreise anzutreten, Ihnen ... und Ihrer so reizenden Sekretärin.“
Jetzt verlor Jack Braden die Geduld. Der Kerl war ein Komplize der Rauschgift-Gangster und gehörte in die Hände der Stadtpolizei.
Jack griff mit der linken Hand nach dem Fernsprecher und mit der Rechten nach dem Schubfach, in dem seine kleine Pistole lag.
„Lassen Sie das, Mister Braden!“, lächelte der kleine Grauhaarige, ohne auch nur die gefalteten Hände von dem Bauch zu nehmen. „Es würde Ihnen leid tun. Sie können sich denken, dass ich nicht ganz schutzlos hierher gekommen bin. Draußen im Vorraum sitzt mein Begleiter. Es bedarf nur eines Rufes von mir, und er wird sich mit Ihrer hübschen Sekretärin befassen. Es würde mir peinlich sein, zu solchen Mitteln greifen zu müssen. Mein Freund ist ein Experte in der Handhabung von Messer und Pistole. Und er hat keine Skrupel. Im Übrigen, Mister Braden, soll ich Ihnen Zeit bis heute Abend um acht Uhr geben. Ich werde mich dann melden, und von Ihrer Antwort wird es abhängen, ob Sie um dreißig Grand reicher sind oder ...“ Der kleine Herr erhob sich, zog seine Weste glatt, nickte liebenswürdig und ging nach draußen.
Jack Bradens Hand zuckte wieder nach der Pistole, aber er wagte es nicht, danach zu greifen. Er wusste, dass die Drohung ernst gemeint war. Er sprang auf und folgte dem Mann, der sich Leggo genannt hatte. Der verschwand gerade durch die Ausgangstür.
Aber der andere war noch da. Er hielt eine schwere Luger-Pistole in der Rechten. Er war noch ziemlich jung und hatte das Gesicht eines Pro, wie man in Gangsterkreisen die professionellen Mörder nennt. Sein Haar war strohblond, das Gesicht blass und die Augen grau, kalt und ausdruckslos.
Langsam ging er rückwärts, wartete eine halbe Minute, bevor er die Tür öffnete und hinaus ging.
„Um Gottes willen! Was war das?“, rief Sunny aus, aber Braden hörte nicht zu.
Er riss den Telefonhörer von der Gabel. „Ist da der Pförtner?“
„Ja, Mister Braden.“
„Schließen Sie sofort die Haustüre. Es waren soeben zwei Gangster bei mir im Office, zwei Kerle, die nicht entkommen dürfen.“
„Meinen Sie den kleinen Grauhaarigen und den Strohblonden?“
„Ja, machen Sie schon.“
„Tut mir leid, Mister Braden. Die sind gerade weg.“
Es kam selten vor, dass Jack Braden fluchte, aber diesmal tat er es lange und ausgiebig.
Dann rief er die Stadtpolizei an und ließ sich mit Leutnant Cathey vom Rauschgiftdezernat verbinden.
„Kennen Sie einen gewissen Leggo, ein kleines, grauhaariges Männlein?“
„Nicht dass ich wüsste. Was ist mit ihm?“
„Dieser angebliche Leggo war soeben in Begleitung eines Leibwächters bei mir und bot mir dreißig Grand, wenn ich Schindler, der mich beauftragt hat, der Rauschgiftgang nachzuspüren, Auftrag und Scheck zurückgebe. Als ich Nein sagte und ihn festhalten wollte, drohte er damit, sein Gorilla werde sich an Sunny schadlos halten. Auf diese Art und Weise kamen die beiden weg.“
„Ein Beweis, dass die Burschen großen Wert darauf legen, Sie auszuschalten. Ich wundere mich nur darüber, dass man Sie nicht einfach kalt gemacht hat.“
„Das wollte man wohl nicht riskieren. Wenigstens noch nicht. Allerdings war die Drohung für den Fall, dass ich nicht spure, unmissverständlich.“
„Ich schicke Ihnen sofort jemanden von der Fingerabdruckabteilung. Der Kerl muss ja Spuren bei Ihnen hinterlassen haben.“
„Das können Sie sich sparen. Alle beide trugen Handschuhe.“
„Dann geben Sie mir wenigstens eine Beschreibung.“
Das tat Braden und versprach, in Kürze vorbeizukommen und sich die Kartotheken der einschlägig Vorbestraften anzusehen.
„Hello, Mister Braden! Was gibt es Neues?“, fragte Mr. Schindler, der Managing Direktor der Concordia.
„Alles mögliche, aber nichts Angenehmes“, antwortete Braden und setzte sich. „Ich habe den Eindruck, dass bei Ihnen ein Leck ist, durch das alles, was geschieht, zur Kenntnis der Rauschgiftbande gelangt.“
„Wie kommen Sie auf diese absurde Idee, Mister Braden? So etwas gibt es bei uns nicht.“
„Dann müssen Sie selbst geplaudert haben. Zu wem haben Sie über den Auftrag und den Scheck, den Sie mir gaben, gesprochen?“
„Zu niemandem, selbstverständlich. Ich werde mich sehr hüten. Der Scheck ist an den Überbringer ausgestellt. Es könnte höchstens sein ... Haben Sie ihn schon eingelöst?“
„Nein. Er befindet sich hier in meiner Brieftasche.“
„Dann kann es ja auch über die Bank niemand erfahren haben. Ich bin vollkommen sicher, dass mein Personal nichts davon weiß. Ich habe es nicht einmal meiner Frau erzählt.“
„Dann begreife ich überhaupt nichts mehr!“ Jack Braden schüttelte den Kopf. „Kann jemand hören, was Sie hier in Ihrem Office sprechen?“
„Ausgeschlossen. Sowohl die Wände als auch die Tür sind schalldicht.“
„Und doch muss es ein Loch geben!“
Dann erzählte Braden von dem Besuch des angeblichen Mr. Leggo und seinem Angebot.
Schindler saß mit zusammengezogenen Brauen und dachte angestrengt nach.
„Wenn ich das Gegenteil nicht so genau wüsste, so würde ich argwöhnen, es gäbe hier in meinem Büro ein Mikrophon. Aber ich lasse das schon aus geschäftlichen Gründen alle drei Monate überprüfen. Außerdem, wo sollte es sein?“
Er blickte sich überall um.
Der Gedanke war Braden auch bereits gekommen. Aber er wusste, dass es andere Mittel gab als ein Mikrophon, das ja früher oder später unweigerlich gefunden werden musste.
Es müsste dann jemand im Betrieb geben, der abhörte, und zwar eine Person in unmittelbarer Nähe des Chefzimmers. Das schien unmöglich zu sein, es sei denn, es wäre eine der drei Sekretärinnen im Vorzimmer, aber dann müssten sie alle drei im Bund sein.
Braden empfahl Schindler, genau aufzupassen und ihn anzurufen, falls er irgendeinen Verdacht fasse. Dann verabschiedete er sich.
Nicht weit von der Tür begegnete ihm, wie gewöhnlich, die kleine Claire. Ein süßes Mädel!, dachte er und lächelte ihr unwillkürlich zu.
Er war angenehm überrascht, dass sie heute durchaus nicht verlegen wurde. Sie lächelte spitzbübisch zurück und zirpte: „Guten Tag, Mister Braden.“
„Guten Tag, Miss Claire“, antwortete er und drehte sich nochmals nach ihr um, als sie mit wippendem Röckchen im Büro ihres Chefs verschwand.
Mr. Schindler hatte einen guten Geschmack.
Wenn Braden hätte sehen können, was sich gleich darauf im Chefzimmer abspielte, so würde er diese Idee bestätigt gefunden haben.
21
Es gab noch mehr Dinge, die Jack Braden nicht wusste. Zum Beispiel hatte er keine Ahnung von der regen Geschäftigkeit, die in einem hell erleuchteten Kellerraum herrschte, gar nicht weit von dem Punkt der Stadt, an dem er sich jetzt befand.
In diesem Raum roch es durchdringend nach indischem Hanf. Zahlreiche Männer und Frauen waren dabei, von einem großen Haufen von Haschisch kleine Portionen abzuwiegen und in Döschen, Streichholzschachteln und Briefumschlägen zu verpacken. Andere zählten diese Packungen ab und legten sie, je hundert, in einen kleinen Karton.
Ein grauhaariges Männlein, über dessen Weste sich eine goldene Uhrkette spannte, ging von einem zum anderen, prüfte Gewichte nach, kontrollierte die Stückzahl und hatte seine Augen überall.
Vor der Tür stand ein Wächter mit umgeschnallter Pistole. Oben vor dem Eingang zur Kellertreppe lungerte ein zweiter herum, dessen Schusswaffe im Halfter unter der linken Schulter steckte. Niemand sonst in dem großen Geschäftshaus hatte eine Ahnung davon, was sich in den Räumen der Firma George Smith & Co. Kräuterhandlung und Import, abspielte.
22
„Das lässt sich selbstverständlich machen, Mister Braden“, sagte der Chief of Detectives, Mister Ernest Slatin, im Polizeihauptquartier.
Mr. Slatin war das, was man in Europa einen Kriminaldirektor nennen würde. Er war sämtlichen Dezernaten übergeordnet und so eine Art „kleiner lieber Gott“.
„Es handelt sich um die Zeit ab halb acht“, sagte Braden. „Von da an müsste mein Apparat abgehört werden, bis ich gegenteilige Instruktionen gebe. Vor allem kommt es mir darauf an, dass, wenn irgend möglich, festgestellt wird, von wo die Anrufe kommen und wem der Anschluss gehört.“
„Sie müssen mir nur eine Ermächtigung unterschreiben, Mister Braden. Sie wissen ja, dass wir derartiges ohne Einwilligung des Anschlussinhabers nur in Ausnahmefällen tun dürfen.“
Jack Braden lächelte maliziös.
„So steht es in den Vorschriften, aber die Praxis sieht ja wohl anders aus. Ich habe gelegentlich im Zentralfernsprechamt ein Zimmer gesehen, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift: EINTRITT STRENGSTENS VERBOTEN hing. Nun, ich habe dieses Verbot missachtet. Zu meiner Überraschung bemerkte ich darin zwei mir wohlbekannte Detektive des Polizeihauptquartiers, die mit umgeschnallten Kopfhörern eifrig Notizen machten. Ich sah sogar zwei in Betrieb befindliche Tonaufnahmegeräte.“
Mr. Slatin klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte.
„Davon weiß ich nichts“, behauptete er. „Da müssen Sie sich geirrt haben, Mister Braden.“
„Na schön, dann habe ich mich eben geirrt, Chief. Von mir erhalten Sie jedenfalls die offizielle Erlaubnis, aber nur für heute Abend.“
„Verlassen Sie sich darauf, Mister Braden. Sowie Sie gegenteilige Order geben, wird abgeschaltet.“
23
Es war sechs Uhr zwanzig, als Jack Braden zu Hause ankam. Das Büro war verschlossen, aber auf dem Schreibtisch lag ein Zettel.
ICH BIN OBEN UND BAUE UNS EIN DINNER.
Jack Braden lächelte befriedigt. Er warf den Zettel nicht etwa, wie man hätte voraussetzen sollen, in den Papierkorb, sondern legte ihn in eine Mappe, die er in einer stets verschlossenen Lade seines Schreibtisches aufbewahrte. In dieser Mappe lagen schon unzählige derartiger Zettelchen. Eigentlich war es verrückt, solche Dinge aufzubewahren, so dachte er, und doch konnte er sich niemals entschließen, eines davon wegzuwerfen.
Immer wieder überlegte er sich, ob er eigentlich in seine blonde Sekretärin verliebt sei, und immer wieder konnte er sich darüber nicht schlüssig werden. Well, Jack Braden, der andere Menschen so gut zu beurteilen verstand, versagte, wenn es um ihn selbst und insbesondere um sein Verhältnis zu Sunny ging.
Auf alle Fälle war es eine glänzende Idee von ihr, ein Dinner zuzubereiten. Was sie kochte, war unbedingt schmackhafter als das Essen im besten Restaurant, und außerdem liebte Jack die gemütliche Stimmung der Mahlzeit und die angeregten oder auch besinnlichen Stunden, die darauf folgten.
Er schloss die Bürotüre zu und ging die eine Treppe nach oben.
Sunny empfing ihn in einer Küchenschürze über dem Kleid und mit hochroten Wangen.
„Gehen Sie ins Wohnzimmer, und wagen Sie nicht, in die Küche zu kommen!“, lachte sie.
„Was gibt es denn Gutes?“
„Wird nicht verraten. Topfgucker sind unerwünscht.“
Damit huschte sie in die Küche, der alle möglichen leckeren Düfte entströmten.
Auf dem Tisch lag die Nachmittagsausgabe der NEWS. Braden setzte sich in den Ohrensessel und vertiefte sich darin. Ein groß aufgemachter Artikel des Reporters Louis Thrillbroker fesselte seine Aufmerksamkeit.
RAUSCHGIFT: VERDERB UNSERER JUGEND.
Dann ging es los. An niemanden ließ der Reporter ein gutes Haar, weder an den Schulen, noch an den Eltern, der Kirche, der Polizei und nicht einmal am FBI.
Er bezichtigte sie alle sträflicher Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit. Er nannte Zahlen, die sogar richtig sein mochten. Er behauptete, dass 90 Prozent aller Farbigen und 50 Prozent aller weißen Jugendlichen Marihuana rauchten.
Er beschimpfte die für Rauschgiftimporte zuständige Geheimpolizei des Finanzministeriums und drohte mit einer Beschwerde beim Justizminister. Er scheute sich nicht, sogar die Frauenvereine und die allmächtigen „Töchter Amerikas“ anzugreifen und mitverantwortlich zu machen. Das schlimmste aber war der Schluss:
Nachdem alle behördlichen und privaten Instanzen versagt haben, bleibt uns nur eine einzige Hoffnung.
Wie wir hören, hat sich der bekannte Privatdetektiv Jack Braden geschworen, einen unerbittlichen Kampf gegen die verbrecherischen Rauschgifthändler zu führen. Mister Braden kann der Unterstützung der NEWS und somit der gesamten Presse sicher sein.
Braden warf die Zeitung auf den Tisch und wählte die Nummer der NEWS.
„Ist Mister Thrillbroker da?“, fragte er. „Es tut mir leid, Mister Thrillbroker ist unterwegs. Kann ich ihm etwas ausrichten?“
„Ja. Mein Name ist Jack Braden.“
„Gewiss, Mister Braden. Einen Augenblick, ich notiere.“
„Das können Sie sich sparen. Was ich ihm zu sagen habe, behalten Sie auch so. Richten Sie Mister Thrillbroker aus, er solle zur Hölle fahren.“
„Wie bitte, Mister Braden?“, fragte die Telefonistin entsetzt. Aber da hatte er schon aufgelegt.
„Warum schreien Sie denn so, Jack?“ Sunny steckte den Kopf durch die Tür.
„Weil ich Wut habe. Weil dieser blödsinnige Thrillbroker nichts Besseres zu tun hat, als mit seiner Sensationsgier die Rauschgiftbande immer wieder vor mir zu warnen und mir die Kerle auf den Hals zu hetzen.“
„Es wird halb so schlimm sein, Jack. Regen Sie sich nicht auf. In zehn Minuten ist das Essen fertig.“
„Ober ein so blödes Geschwätz soll man sich nicht aufregen!“, brummte er. Dann setzte er sich wieder und begann den Artikel, den er nur überflogen hatte, genau zu studieren.
Eigentlich hatte der Reporter ja recht, nur dass er unbedingt Bradens Name nennen musste, war ein Fehler.
Sunny hatte herrliche Steaks mit unzähligen Beilagen komponiert und dazu eine Flasche Rheinwein aufgemacht.
Das Dinner und der Wein übten einen beruhigenden Einfluss auf Braden aus. Als dann zum Schluss der Kaffee an die Reihe kam, war er wieder bester Laune.
„Was halten Sie von einer Partie Schach, oder wollen wir lieber pokern?“, lächelte Sunny.
„Mit Ihnen pokere ich nicht, Sunny, da verliere ich Schuhe und Strümpfe.“
„Wieso? Woher wissen Sie das? Haben Sie etwa in den letzten Tagen Glück in der Liebe gehabt? Ist es etwa die kleine Claire, von der Sie mir erzählten?“
Claire, das kleine Mädchen, an dem der Managing Direktor der Concordia anscheinend einen Narren gefressen hatte! Dabei hätte sie seine Tochter sein können.
„Also Schach!“, sagte Sunny und unter brach seinen Gedankengang.
Sie holte das Brett und die Figuren. Darin setzten sie sich beide in die gemütliche Ecke auf das Rundsofa.
„Weiß zieht an.“
Sie waren beide so vertieft in das Spiel, dass Braden die Zeit vergaß.
„Schach dem König!“, triumphierte Dawn Barris, aber schon übertrumpfte sie das Schrillen des Telefons.
Es war genau acht Uhr.
„Jack Braden.“
„Sie wissen, wer spricht. Haben Sie Ihren Entschluss gefasst?“
„Ja, und ich kann Ihnen nichts anderes sagen als das, was ich Ihnen bei Ihrem Besuch klargemacht habe. Ich lasse mich weder kaufen noch erpressen.“
„Ist das Ihr letztes Wort, Mister Braden?“
„In dieser Angelegenheit ganz bestimmt. Mit wem spreche ich eigentlich? Das ist doch nicht Mister Leggo?“
Er versuchte die Unterhaltung in die Länge zu ziehen, um den Leuten von der Stadtpolizei Zeit und Gelegenheit zu geben, dem Ruf nachzugehen.
„Tja, das möchten Sie gerne wissen!“, war die Antwort. „Sie werden es nie erfahren, niemals, Jack Braden.“
Die Türklingel schlug an, aber Braden achtete nicht darauf.
„Seien Sie nicht so sicher, Mister Unbekannt. Man hat schon öfter geglaubt, mich nasführen zu können, und es ist noch kaum jemanden gelungen.“
„Mir gelingt es! Verlassen Sie sich darauf. Ich bin schon mit ganz anderen Leuten fertig geworden als mit einem eingebildeten, aufgeblasenen Plattfuß.“
Jack Braden hörte einen Laut, der nicht aus dem Telefon kam und der ihn veranlasste, den Hörer auf den Tisch zu legen.
Dawn Barris hatte geschrien. Es war halb ein Schrei und halb ein Ruf, ein Ruf um Hilfe.
Er wollte in die Diele rennen, als die Tür aufflog. Sunny taumelte totenblass ins Wohnzimmer. Hinter ihr kamen zwei Männer, die er schon einmal gesehen zu haben glaubte, er wusste nur im Augenblick nicht, wo.
Es waren Männer in Sportjacketts mit wattierten Schultern. Sie trugen grellbunte Schlipse, hatten helle, breitrandige Filzhüte auf den Köpfen. Unter den Krempen dieser Hüte sah er die harten Gesichter mit den gnadenlosen Augen, den schmalen Lippen, und da wusste er, wen er vor sich hatte.
Um das zu erkennen, hätte es der Pistolen, die sie in den Händen hielten, nicht einmal bedurft.
„Was wollen Sie?“, fragte er und bemühte sich, den Schreck, der ihm in die Glieder gefahren war, zu verbergen.
„Merkwürdige Frage, Braden!“, grinste der eine. „Sie haben soeben am Telefon erklärt, dass Sie auf das wohlgemeinte Angebot unseres Bosses nicht einzugehen gedenken. Sie können sich die Sache noch fünf Minuten lang überlegen. Aber glauben Sie nicht, uns betrügen zu können. Wir wissen und erfahren alles, was Sie unternehmen oder beabsichtigen. Wenn Sie jetzt ja sagen, so muss es auch dabei bleiben. Im selben Augenblick, in dem Sie aus der Reihe tanzen, sind Sie ein toter Mann, Sie und die Süße da drüben. Verdammt schade um das Girl! Die hätte ich gerne für mich selbst reserviert. Well, Befehl ist Befehl. Es ist jetzt zwei Minuten nach acht. Bis acht Uhr sieben habt ihr Zeit.“
Wäre Braden allein gewesen, er hätte es darauf ankommen lassen, aber es ging um Sunny. Sie durfte auf keinen Fall zu Schaden kommen.
„Sie müssen mir etwas mehr Zeit lassen“, plädierte er. „Außerdem ist es nötig, dass ich mich mit der jungen Dame darüber einige, wie wir uns verhalten wollen. Können Sie uns nicht einen Augenblick allein lassen?“
„Wir sind doch nicht blöde!“, grinste der Gangster. „Wenn wir wiederkommen, haben Sie ein Maschinengewehr aufgepflanzt und die Cops alarmiert. Auf solche Scherze fallen wir nicht herein. Beeilt euch, es sind schon zwei Minuten vergangen.“
Braden warf einen Blick auf Sunny. Sie stand mit dem Rücken gegen den Tisch, beide Hände um die Tischplatte gekrampft. Sie stand zwar blass, aber sehr aufrecht. Vergebens suchte er Angst in ihren Zügen. Er fand nur einen Ausdruck, den er nicht erwartet hätte ...
War es Spannung? Ein intensives Lauschen? Eine mühsam zurückgedrängte Erregung?
„Noch zwei Minuten!“
Die beiden Gangster ließen die Sicherungsflügel ihrer Waffen klicken. Dieses Klicken schlug schmerzhaft wie Kanonenschüsse in die Stille.
„Noch eine Minute!“
Nein! Er durfte es nicht riskieren, um Sunnys willen nicht.
Braden öffnete den Mund, um, wenn auch schweren Herzens, klein beizugeben. Er würde alles versprechen, was die Kerle von ihm verlangten ... Und wenn er es versprochen hatte, würde er es halten müssen?
„Hände hoch!“
Der eine der Kerle hob langsam die Arme, seine Waffe fiel dröhnend aufs Parkett. Der zweite fuhr mit der Gewandtheit eines Panthers herum. Ein Schuss krachte. Er knickte in die Knie und sackte zusammen.
In der Tür standen zwei Polizisten.
„Das war gerade noch zur rechten Zeit!“, grinste der erste, während der zweite den unverwundeten Gangster mit Handschellen schmückte.
„Wie kommen Sie überhaupt hierher?“, wunderte sich Jack Braden, nachdem er sich von der ersten Überraschung erholt hatte.
„Alarm vom Hauptquartier. Etwas von Telefon.“ Der Cop zuckte die Achseln.
Dawn Barris hatte Jack am Arm gepackt.
„Sehen Sie da! Sie haben vergessen, den Hörer aufzulegen ... Und das Gespräch wurde abgehört. Man hat zweifellos jedes Wort verstanden, das hier gesprochen wurde. Ich wusste das. Ich hatte es gesehen, und ich betete darum, dass die Polizei beizeiten kommen würde.“
Jack Braden nahm den Hörer auf. „Hello!“
„Ja, ist das Mister Braden?“
„Ich bin es. Mit wem spreche ich?“
„Corporal Fox. Ich sitze hier auf der Abhörzentrale. Ich habe alles mitgekriegt, und als ich merkte, was los war, Alarm gegeben. Freut mich, dass es geklappt hat.“
„Vielen Dank, Corporal Fox. Ich werde versuchen, das wieder gutzumachen.“
„Unsinn! Es war mir ein Vergnügen.“
Jack Braden musste daran denken, dass von Vergnügen bei ihm keine Rede gewesen war. Er hatte die, wie er jetzt glaubte, furchtbarsten Minuten seines Lebens hinter sich gebracht.
Einer der Cops bückte sich nach dem Mann, den er niedergeschossen hatte.
„Tot!“, sagte er lakonisch und zuckte die Achseln.
Er winkte seinem Kameraden, und gemeinsam trugen sie den Körper hinaus.
Der lebende und der tote Gangster wurden zum Hauptquartier gebracht. Auch Braden fuhr dorthin, nachdem er Dawn Barris sicher in ihrem Appartement wusste. Er schärfte dem Pförtner des Hauses ein, darauf zu achten, dass sie keinen ungebetenen Besuch bekomme, und ermahnte sie selbst, ihre Tür gut zu verschließen.
„Ich werde heute Nacht mit der Pistole unterm Kopfkissen schlafen“, versprach sie, schon wieder gut gelaunt.
Im Polizeihauptquartier hatte Chief Slatin zusammen mit Detektiv-Leutnant Broad den Gangster im Verhör.
Er schob alles auf seinen toten Kumpan. Er sagte, dieser habe ihm erzählt, er könne auf leichte Art einen Hunderter verdienen. Man brauche nur kurz nach acht zusammen in Bradens Wohnung zu gehen, um diesem einen gehörigen Schrecken einzujagen. Er habe gar nicht daran gedacht, jemanden anzugreifen oder gar zu ermorden.
Dabei blieb er, ebenso bei seiner Behauptung, er wisse nicht, wer dahinterstecke. Die Tatsache, dass er wirklich nur einen Hunderter und etwas Kleingeld in der Tasche hatte, schien seine Angaben zu bestätigen. Er war nicht der Mann, der für eine so kleine Summe einen Mord beging. Vielleicht hatte ihn der andere wirklich angeführt, denn bei dem Toten fand man vierhundert Dollars.
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„Hello, HERALD! Hello Redaktion!“, klang es aus dem Presseraum des Polizeihauptquartiers. Jack Braden blieb unwillkürlich stehen.
„Hello, Redaktion! Notieren Sie.
Mordanschlag auf Louis Thrillbroker, Reporter des MORNING NEWS. Thrillbroker in Columbus Avenue aus vorüberfahrendem Wagen angeschossen. Täter geflüchtet. Bemerken Sie dazu, dass der Anschlag möglicherweise eine Folge des heute in den NEWS erschienenen Artikels über die Verbreitung der Rauschgiftsucht unter Jugendlichen ist. Das letzte ist inoffiziell ... Ja, sowie ich erfahre, gebe ich es durch.“
Jack Braden machte kehrt. Er bekam einen Detektiv, der den Gang hinunter eilte, am Ärmel und fragte: „Wer bearbeitet den Mordanschlag auf Thrillbroker?“
„Detektiv-Leutnant Temper. Er ist vor fünf Minuten losgefahren, weil zuerst ein Mord gemeldet worden war.“
„Können Sie erfahren, wohin man den Reporter gebracht hat?“
„Das muss die Mordkommission II wissen. Einer muss ja da sein.“
Sergeant Bruns saß einsam im Vorzimmer des Leutnants.
„Thrillbroker ist ins Bellevue Hospital gebracht worden.“
„Wissen Sie, was für eine Verwundung er hat?“
„Keine Ahnung, aber es soll kritisch sein.“
Vor Kurzem hatte Braden dem Reporter noch gewünscht, er solle zur Hölle fahren, und jetzt war er vielleicht bereits auf dem Weg dorthin. Jack hatte das Gefühl, er trage einen Teil der Schuld daran.
Eine Viertelstunde später fragte er beim Pförtner des Hospitals.
„Gewiss, der Mann wurde eingeliefert, und ich glaube, sie haben ihn gerade unter dem Messer“, war die freundlich-lächelnd gegebene Auskunft.
Der Bursche musste das Gemüt eines Schlachterhundes haben.
Braden fragte sich durch bis zum Operationssaal.
Dann saß er in dem kleinen Wartezimmer. Er hätte sich zu gerne eine Zigarette angesteckt, aber er wusste nicht, ob das erlaubt sei.
Es verging fast eine halbe Stunde, bis eine Schwester durch die Doppeltüre kam.
„Verzeihung, Nurse!“, sprach Braden sie an. „Wie geht es dem Patienten?“
„Wie soll es ihm schon gehen? Genau so, wie einem Menschen, der ein paar Löcher in der Gestalt hat. Der Professor hat ihn gerade zusammengeflickt. Sind Sie ein Verwandter?“
„Nein, ein Freund. Mein Name ist Braden.“
„Ach, Sie sind das! Nach Ihnen hat er in der Narkose ein paarmal gefragt.“
„Wäre es möglich, dass ich ein paar Worte mit ihm spreche?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Warten Sie mal.“
Sie ging.
Etwas später öffneten sich die Türen von Neuem, und begleitet von drei jüngeren Ärzten kam der Professor, den Braden vom Ansehen kannte.
„Sie sind der Privatdetektiv Braden?“
„Der bin ich allerdings.“
„Na ja, um ein Haar hätte ich Sie verhaften lassen. Ich glaubte, der Reporter wolle uns den Namen seines Mörders nennen. Er brabbelte dauernd von Ihnen. Offenbar hat er Ihnen etwas zu sagen.“
„Wie geht es ihm denn?“, fragte Braden zum zweiten Mal.
„Verhältnismäßig recht gut. Er hat einen Schulter- und einen Oberarmschuss. Hatte ziemlich viel Blut verloren, aber wir haben ihm eine Transfusion gegeben. Sie brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen.“
In diesem Augenblick schob eine Schwester die Bahre heraus. Louis Thrillbroker war noch gelber im Gesicht als gewöhnlich, aber seine Augen waren wach, und er erkannte den Detektiv. Er bewegte die Lippen.
Die Schwester blieb stehen und sagte: „Herr Professor, der Patient verlangt nach diesem Herrn da.“
„Sagen Sie ihm ... oder nein, halten Sie die Luft an, Thrillbroker! Werden Sie nicht schon wieder übermütig. Ihr Freund kommt, sowie ich hier mit ihm fertig bin.“
Der Professor drehte sich um und – es mochte zwar respektlos wirken, aber er grinste.
„So sind die Kerle. Ich habe schon so manchen Reporter auf dem Tisch gehabt, sie sind zäh wie die Katzen und frech wie die Raben.“
„Kann ich nun wirklich mit ihm sprechen?“, fragte Braden.
„Ja, aber nicht länger als fünf Minuten und nur im Beisein einer Schwester. Er darf nicht aufgeregt werden.“
„Vielen Dank.“
Dann stand Braden an Thrillbrokers Bett. Die unvermeidliche schwarze Haarsträhne fiel Louis in die Stirn. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht sah durchsichtig aus. Seine Hände irrten unruhig über die Bettdecke.
„Louis, hören Sie mich?“, fragte Braden vorsichtig.
Der Reporter öffnete die Augen und brachte es sogar fertig, die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns zu verziehen.
„Ich bin doch nicht taub, altes Haus. Der Kerl hat mich nur angekratzt. Pass auf! Lass dir die Leica geben und ... Na ja, du wirst ja sehen.“
Er schloss die Augen.
„Mach, dass du ‘raus kommst. Ich will schlafen.“
Zehn Minuten später hatte Braden die Leica in der Hand. Von dem Film waren nur fünf Aufnahmen belichtet. Wenn Thrillbroker so sehr darauf bestanden hatte, dass man Braden den Apparat aushändige, so musste es mit einer dieser Aufnahmen eine besondere Bewandtnis haben.
In der First Avenue, nicht weit vom Hospital entfernt, fand Braden einen Fotografen.
„Es liegt mir außerordentlich viel daran, dass Sie diesen Film sofort entwickeln“, sagte er zu dem Mann im weißen Kittel und mit den von Säure fleckigen Händen.
Der Fotograf besah den Apparat. „Wieso? Sie können doch noch zweiunddreißig Aufnahmen machen, bevor der Film voll ist.“
„Das weiß ich, aber ich brauche die ersten vier. Ich brauche sie dringend.“
„Hören Sie einmal, Mister!“ Der Fotograf warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist jetzt halb zwölf Uhr nachts. Wenn ich nicht gerade von einer Hochzeitsfeierlichkeit gekommen wäre und die dort gemachten Aufnahmen hätte entwickeln müssen, so wäre ich nicht mehr hier. Kommen Sie morgen früh um neun.“
Braden war ungeduldig.
„Sie mussten dringend die Bilder eines glücklichen Hochzeitspaares entwickeln, und ich brauche diese vier Aufnahmen, um damit einen Mordversuch und noch Schlimmeres zu klären.“
Er zog seine Lizenz aus der Tasche. „Ich überlasse es Ihnen, zu beurteilen, was wichtiger ist.“
„Mordversuch? Wieso?“
„Der Mann, dem diese Kamera gehört, wurde vor einer halben Stunde angeschossen. Er konnte mir nicht viel sagen, aber aus dem, was er mir andeutete, schließe ich, dass er vielleicht den potentiellen Mörder fotografiert hat, bevor dieser schoss.“
„Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? Warten Sie!“
Zehn Minuten später war der Fotograf, den noch nassen Film in der Hand, zurück.
Braden nahm den Zelluloidstreifen und hielt ihn gegen das Licht. Drei Aufnahmen waren für ihn belanglos. Sie stellten einen Verkehrsunfall dar. Was die vierte bedeutete, konnte er zuerst nicht ausmachen. Dann aber erkannte er, was Thrillbroker da fotografiert hatte.
Das Bild zeigte die vordere Hälfte eines Kraftwagens, und zwar die rechte Seite. Der Schlag war geschlossen, aber die Scheibe heruntergelassen. Deutlich zu sehen war eine Hand, die eine Pistole hielt, und dahinter ein Kopf, auf dem ein tief in die Stirn gezogener Stetson saß. Das Gesicht war bis auf den Mund und das Kinn im Schatten. Neben dem Schützen erkannte Braden den Fahrer. Thrillbroker musste das Blitzlicht auf dem Apparat gehabt haben, und der Fahrer hatte eine helle Jacke getragen. Wenigstens sah es auf dem Negativ so aus.
„Das Bild ist etwas schwach“, sagte der Fotograf. „Ich könnte es verstärken.“
„Dann tun Sie das, und machen Sie mir wenigstens einen Abzug. Machen Sie das sofort, Kosten spielen keine Rolle.“
Diese letztere Bemerkung war ausschlaggebend.
„Es wird teuer werden.“ Der Mann nutzte die Situation aus.
„Reden Sie nicht soviel, sondern beeilen Sie sich.“
Es dauerte eine Viertelstunde und kostete den unverschämten Preis von zehn Dollar. Das aber war Braden gleichgültig. Er hatte nicht nur einen Abzug, sondern auch eine Vergrößerung in Postkartenformat in der Tasche.
Er nahm sich keine Zeit, das Bild genau anzusehen. Er fuhr nach Hause. Vom Office aus rief er, einem unsicheren Gefühl folgend, bei Dawn Barris an. Er atmete auf, als er ihre verschlafene Stimme hörte.
„Hier Jack Braden. Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Sunny?“
„Was sollte denn nicht in Ordnung sein? Ich bin müde. Lassen Sie mich schlafen.“
„Gute Nacht, Sunny.“
„Gute Nacht, Jack!“, flüsterte sie, schon wieder halb eingeschlummert. „Bis morgen.“
Dann erst nahm Braden die Vergrößerung heraus, legte sie auf die Schreibunterlage, betrachtete sie zuerst mit bloßem Auge und dann mit einer starken Lupe.
Er betrachtete Zentimeter für Zentimeter. Der Wagen war, der Bauart nach, ein Pontiac, die Pistole eine 38er Smith & Wesson. Der Mann hatte ein kräftiges, aber etwas verfettetes Kinn und einen Mund mit vollen Lippen, die aber schmal erschienen, weil er sie zusammenpresste.
Die Gestalt neben ihm, die beide Hände auf dem Steuerrad hatte, war eine Frau, eine schlanke, wahrscheinlich junge Frau in einem hellen Kleid. Auch ihr Gesicht war nicht genau zu erkennen. Sie musste blond sein und trug lange, tropfenförmige Ohrringe.
Braden suchte weiter. Der Mann hatte einen Ring am Zeigefinger der rechten Hand. Dieser Finger lag am Abzug. Der Ring musste ein Siegelring sein, andernfalls hätte der Stein, als er vom Blitzlicht getroffen wurde, hell schimmern müssen.
Das Bild gehörte natürlich in die Hände der Polizei. Er würde gleich am Morgen das Negativ hinbringen. Die Vergrößerung würde er behalten.
Schließlich hatte Louis Thrillbroker ihm die Kamera aushändigen lassen.
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„Ein toller Kerl, dieser Thrillbroker!“, sagte Leutnant Temper, als Braden ihn am Morgen aufsuchte. „Er hat doch tatsächlich die Geistesgegenwart gehabt, den Mann, der ihn ermorden wollte, im Bruchteil einer Sekunde, bevor er schoss, zu knipsen. So etwas bringt nur ‘n Reporter fertig.“
Er betrachtete das Bild durch ein Vergrößerungsglas.
„Den Abzug müssen Sie mir wiedergeben, Leutnant. Der hat mich zehn Dollar gekostet. Sie bekommen ihn billiger.“
„Gern! Aber mir fällt da etwas anderes auf, nämlich der Ring. Man sollte meinen, er habe ein eingraviertes Wappen oder dergleichen. Man müsste versuchen, das vorsichtig nochmals zu vergrößern. Ich sehe da einige Linien und Punkte darauf, die ich allerdings so nicht erkennen oder gar entziffern kann.“
Er drehte die Scheibe des Hausapparates. „Schicken Sie mir Sergeant Brix.“
Zwei Minuten später war Brix da. Er trug einen weißen, fleckigen Kittel und sah nach allem anderen aus als nach einem Polizeibeamten.
„Sehen Sie hier, Sergeant, dies ist ein Negativ, und hier die danach gemachte Vergrößerung. Was halten Sie von dem Ring?“
Der Labor-Sergeant ging mit dem Bild ans Fenster, kniff die Augen zusammen und besah es lange.
„Ich weiß, was Sie wollen, Leutnant. Vielleicht kriege ich es hin. Der Ring hat eine Gravierung, und das Blitzlicht hat ihn seitlich getroffen, so dass Licht und Schatten stark ausgeprägt sind. Ich werde tun, was ich kann.“
„Wie lange wird das dauern?“
„Ich kann es noch nicht sagen. Es ist eine knifflige Arbeit.“
„Versuchen Sie es.“
Jack Braden ging mit dem Versprechen des Leutnants, er werde benachrichtigt werden, was das Labor erreicht hatte.
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„Es ist uns leider nicht gelungen, den Anrufer von gestern Abend um acht zu ermitteln“, sagte Chief of Detectives Slatin. „Wir wissen nur, dass der Ruf von einem Apparat des elften oder vierzehnten Bezirks kam. Das ist also die Gegend zwischen der Dreißigsten Straße und Greenwich Village einerseits und der Siebten Avenue und dem Hudson andererseits.“
„Das ist wenigstens etwas, wenn es auch unmöglich sein dürfte, jeden Telefonanschluss in dieser Gegend zu überprüfen.“
„Sollen wir die Überwachung aufrecht erhalten?“, fragte Mr. Slatin. „Vielleicht meldet sich der Mann noch einmal.“
„Das halte ich für ausgeschlossen. Lassen Sie ruhig abschalten. Vergessen Sie es nicht. Ich lege keinen Wert darauf, dass jedes meiner Gespräche von der Polizei kontrolliert wird.“
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„Mordversuch an dem Starreporter der MORNING NEWS! Louis Thrillbroker von Rauschgift-Gangstern angeschossen!“, schrien die Zeitungsjungs, als Jack Braden wieder auf die Straße kam.
Er kaufte eines der Blätter. MORNING NEWS schnaubte Wut.
Sind Reporter Freiwild? Ist man auf den Straßen New Yorks noch seines Lebens sicher? Was tut die Polizei? Skandal! Skandal! Skandal!
In dieser Tonart ging es weiter. Die Stadtpolizei würde ihre Freude haben.
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Die Türe des Office war verschlossen, und der Schlüssel steckte von innen. Als Braden klingelte, sah er im Spion eines der blauen Augen seiner Sekretärin.
„Wie Sie sehen, Jack, lebe ich noch“, lächelte sie. „Allerdings liegt die Pistole neben der Schreibmaschine.“
„Das ist bei der augenblicklichen Lage der Dinge keine überflüssige Maßnahme“, meinte er. „Haben Sie schon gelesen, dass man heute Nacht Louis Thrillbroker angeschossen hat?“
„Ist das wahr?“
„Leider. Er liegt im Krankenhaus, und MORNING NEWS spuckt Gift und Galle.“
Gegen ein Uhr ging Jack Braden mit Sunny zum Lunch. Diesmal vergaß er nicht, seine kleine FN einzustecken. Er war sich klar darüber, dass die Rauschgiftgangster in ihm ihren Hauptfeind sahen.
Um zwei Uhr ging das Telefon.
„Hello, Mister Braden!“, sagte Detektiv Leutnant Temper. „Unser Labor hat die Gravierung auf dem Siegelring entziffert. Sie stellt einen winzigen Totenkopf mit zwei darüber gekreuzten Knochen dar, das Zeichen der Mafia. Rechts und links davon befinden sich die beiden Buchstaben AP. Kennen Sie jemanden, dessen Vor und Nachname so anfängt?“
„Ich kann mich nicht entsinnen, Leutnant, aber ich werde darüber nachdenken.“
„Tun Sie das. Inzwischen lasse ich beim Erkennungsdienst alle Gangster mit diesen beiden Anfangsbuchstaben überprüfen.“
Diese Überprüfung verlief ohne Resultat. Es gab wohl eine Menge Vorbestrafter, deren Name mit den Buchstaben AP begangen, aber keiner kam in Betracht. Keiner von ihnen hätte sich einen goldenen Siegelring mit dem Zeichen der Mafia anfertigen lassen.
Auch Jack Braden konnte sich noch immer nicht entsinnen, jemanden kennengelernt zu haben, der als Träger eines solchen Ringes in Betracht gekommen wäre.
„Mein Gott, Jack!“, rief Sunny aus, und dann lachte sie. „Ich weiß jemand, aber es wäre absurd, an ihn zu denken. Erinnern Sie sich noch an Mister Polento? Ich hörte, dass seine Geschäftspartner ihn mit Arturo anredeten. Stellen Sie sich den würdigen, alten Herrn als Mitglied der Mafia und Rauschgiftboss vor!“
Jack Braden lachte nicht.
Wie sagte doch der alte Rabbi Akiba? „Es ist alles schon einmal dagewesen.“ Der alte jüdische Gelehrte hat recht, auch wenn er schon tausend Jahre tot ist.
„Es ist alles schon einmal dagewesen!“, sagte auch Jack Braden, stützte das Kinn in die Hand und blickte über den Schreibtisch hinaus ins Leere.
Es war vier Uhr vorüber, als Jack Braden ganz unvermittelt sagte: „Kommen Sie, Sunny! Wir haben so herrliches Wetter, dass ich es für angebracht halte, der dumpfen Büroluft den Rücken zu kehren und ein Stück spazieren zu fahren.“
„Nanu! Wie kommen Sie denn auf die Idee, Jack? Ich denke, Sie haben sich in die Überführung der Rauschgiftgang verbohrt!“
„Vielleicht ist mir die Beschäftigung mit Rauschgift so sehr zu Kopf gestiegen, dass ich meinen Denkapparat einmal gründlich auslüften muss.“
„Mir soll das recht sein, Jack. Sie müssen mich nur noch für fünf Minuten entschuldigen. Ich muss meine Kriegsbemalung auffrischen.“
Sie fuhren durch den Central Park nach Westen und am Hudson entlang bis zur 23. Straße. Dort bog Braden links ein. An der Eight Avenue sagte er: „Was halten Sie davon, Sunny, wenn wir der freundlichen Einladung unserer Bekannten aus dem FIFTH AVENUE HOTEL nachkommen und sie besuchen? Wissen Sie die Adresse noch?“
„Ja. Es ist vierundzwanzigste Straße, Ecke Eight Avenue.“
Das Haus war schnell gefunden. Neben dem eindrucksvollen Portal konnte man auf einem Schild lesen: AMERICAN FRUIT IMPORT CY.
Die beiden Besucher wurden mit überschwänglicher Liebenswürdigkeit empfangen. Die drei Chefs überboten sich in Aufmerksamkeiten. Drinks und ausgesuchte Früchte wurden angeboren. Ein Rundgang durch die Büros und das Lagerhaus schloss sich an. Die Zeit flog, und bevor Braden es sich versah, war es sechs Uhr. Das Personal war bereits gegangen.
Mit einer Entschuldigung, dass man die Herren so lange aufgehalten habe, verabschiedeten sich Braden und seine Sekretärin, wobei Mr. Polento es nicht versäumte, Dawn Barris einen vollendeten Handkuss zu geben.
„Da fällt mir übrigens etwas ein“, sagte er. „Ich habe heute Abend eine kleine Party. Es kommen nur ein paar gute Freunde. Würden Sie mir die Ehre geben, ebenfalls zu erscheinen? Ich würde mich wirklich aufrichtig freuen.“
Sunny blickte Jack Braden an, und der nickte lächelnd. „Es wird uns ein Vergnügen sein.“
Mr. Polento verbeugte sich geschmeichelt.
„Dann darf ich Sie ungefähr um neun Uhr erwarten.“ Er reichte Braden eine Adresskarte.
Mr. Polento wohnte im vornehmen Richmond, und zwar in der besten Gegend, Liberty Avenue 47, in nächster Nähe des Graham Beach, eines herrlichen Strands, an dem jetzt im Sommer Tag und Nacht Hochbetrieb war.
„Es geht doch nichts über gute alte, europäische Manieren!“, meinte Sunny, als sie wieder im Wagen saßen. „Von einem Amerikaner habe ich, mit Ausnahme von Anthony Gilford, noch niemals einen Handkuss bekommen, und Anthony ist ja eigentlich Engländer, wenigstens was sein Benehmen und seine Erziehung anbelangt.“
„Ich bin jedenfalls neugierig auf die Party“, meinte Jack Braden. „Was ich übrigens noch sagen wollte, Sunny, stecken Sie auf alle Fälle Ihre kleine Pistole ein.“
„Denken Sie, Mister Polento wolle mir etwas tun?“, lachte sie.
„Keinesfalls etwas, zu dessen Abwehr Sie eine Pistole nötig haben. Ich denke nur an die allgemeine Lage. Schließlich sind wir beide den Rauschgiftgangstern so unangenehm aufgefallen, dass ich auf alles gefasst sein will.“
„Wenn ich nur schon wüsste, wo ich das Ding unterbringen soll!“, lachte Sunny. „Mein Abendtäschchen ist dazu zu klein, und in meinem neuen Gesellschaftskleid ist auch kein Platz ... Aber doch! Ich werde sie schon unterbringen.“
Sie fuhren Central-Park Süd hinauf, als Jack Braden plötzlich die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können. Sunny folgte seinem Blick.
„Wer war denn das?“, fragte sie neugierig
„Das überlege ich mir eben auch. Das Mädel in dem schicken Sportcoupe sieht einer anderen verzweifelt ähnlich.“
„Und wer ist das?“
„Claire, die ich im Verdacht habe, die Freundin des Direktors der Concordia Life Insurance zu sein. Ich erzählte Ihnen doch von dem süßen kleinen Mädchen, das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit im oder in nächster Nähe des Chefbüros zu finden ist.“
„Wenn sie das war, so ist dieser Mister Schindler ein recht großzügiger Herr. Der Wagen muss eine Menge Geld gekostet haben. Nehmen Sie sich ein Beispiel, Jack!“
„Erstens bin ich nicht der Direktor einer großen Versicherungsgesellschaft, und zweitens ...“, er stockte einen Augenblick, „sind Sie ja nicht meine Freundin, wenigstens nicht in diesem Sinne.“
Sunny wurde rot und sah schnell zum Fenster hinaus.
Beide hatten nicht beobachtet, dass das Mädchen im Sportcoupé lange, tropfenförmige Ohrclips trug.
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Das Haus in der Liberty Avenue war in spanischem Stil gebaut. Es lag inmitten eines großen Gartengrundstücks. Das Portal war mit schmiedeeisernen Arabesken verziert. Sämtliche Räume lagen zu ebener Erde, rund um einen Patio, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte.
Ein livrierter Diener nahm Dawn Barris und Braden die leichten Mäntel ab.
Jack Braden sah im Dinnerjackett außerordentlich gut aus. Dawn Barris im schwarzen, handschuhengen Abendkleid, war ein Gedicht, oder auch, wie man so sagt, der Traum eines einsamen Junggesellen. Um den schlanken Hals trug sie eine Kette kleiner, aber dafür echter Perlen, ein Geschenk von Braden. Die rosigen, vollen und doch schlanken Arme brauchten keinen Schmuck.
Mr. Polento, in tadellosem Smoking, strahlte vor Vergnügen. Er geleitete seine Gäste in ein Zimmer, das halb spanisch und halb arabisch mit niederen Sitzpolstern und kleinen Rauchtischen möbliert war. Der Boden war mit echten türkischen Teppichen bedeckt. An den Wänden hingen kleine, aber gute Gemälde.
An der Schmalseite des Raumes brannte, in einem offenen Kamin, ein lustig flackerndes Feuer. Die Nacht war kühl, und man konnte die gelinde Wärme, die von den lodernden Holzklötzen ausging, gebrauchen.
Es waren außer den drei Partnern nur wenige Personen anwesend, ein paar Herren südländischen Aussehens und elegante, junge Damen, die sich bereits bestens zu amüsieren schienen.
Es gab Cocktails, und man unterhielt sich, wie man sich eben auf dergleichen Partys unterhält.
Mit der Zeit wurde es den beiden langweilig. Sie hatten sich eigentlich mehr von dieser Party versprochen. Am liebsten hätte Braden sich verabschiedet, aber er wollte nicht unhöflich sein.
Immer wieder kam Mr. Polento, brachte neue Drinks und raspelte Süßholz. Sunny war darüber amüsiert und ein klein wenig stolz. Es wurde elf Uhr.
Dawn Barris und Braden hatten sich von dem Rest der Gesellschaft abgesondert und saßen an einem Tischchen in der Nähe der improvisierten Bar. Sunny hatte an diesem Abend mehr getrunken, als sie gewöhnt war. Sie fühlte sich etwas müde, aber trotzdem irgendwie beschwingt. Spontan ergriff sie Jack Bradens Hand und drückte sie leise.
Es war einer der Augenblicke, in denen die beiden sich sehr nahe kamen, ein Augenblick, in dem die Schranke, die Braden bewusst aufgerichtet hatte, um ein Haar niedergebrochen wäre.
Das Feuer im Kamin war niedergebrannt. Nur die Asche glühte noch rot, und kleine Flämmchen tanzten darin.
Eine Frau ... nein, es war ein junges, blondes Mädchen, das sie beide noch nicht gesehen hatten, kam durch die Tür. Sie war klein, schlank, zierlich und graziös. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen. Es wurde im Profil durch die langen Locken verdeckt, aber Braden konnte sich denken, dass sie bildhübsch sein musste.
Sie ging auf Mr. Polento zu und sprach ein paar Worte mit ihm. Er tätschelte vertraulich ihren Arm und lachte. Dann setzte sich das Mädchen in einen Sessel vor den Kamin.
„Ich glaube doch, Jack, es wäre Zeit, dass wir aufbrechen“, sagte Sunny träumerisch. „Ich würde es sehr schön finden, wenn Sie zu der obligaten Tasse Kaffee auf einen Sprung zu mir kämen.“
„Gewiss, ich glaube auch, dass das schön wäre.“
Das Mädchen, das vor dem Kamin gesessen hatte, stand auf. In diesem Augenblick sah Braden ihr Gesicht.
Es war Claire, die er als kleine Angestellte und, wie er argwöhnte, Freundin des Chefs der Concordia kannte. Sie warf die blonden Locken zurück. In ihren kleinen Ohren trug sie lange, tropfenförmige Gehänge. Sie blickte herüber und lachte.
Bevor Jack Braden sich von seiner Überraschung erholt hatte, war sie hinausgewischt.
„Was haben Sie, Jack?“, fragte Sunny. „Sie sehen so merkwürdig aus.“
„Später! Jetzt aber gehen wir.“
Er stand auf, und da erst merkte er, dass sie allein im Zimmer waren. Sämtliche Gäste und auch die Gastgeber waren verschwunden.
Aus dem Kamin stieg eine gelbliche Rauchwolke und breitete sich schnell aus. Es roch nach verbranntem Heu und dazwischen süß und betäubend.
„Was ist das?“, fragte Sunny und fasste Jack am Arm.
Der kannte den Geruch, es war eine Mischung von Haschisch und Opium. Eine Mischung, die trunken macht, die Sinne benebelt ... Eine Mischung, die tödlich sein kann.
„Kommen Sie!“
Die Tür war verschlossen. Er rüttelte daran, aber sie gab nicht nach. Er rannte zum Fenster. Die Läden waren herabgelassen.
Jack Braden wusste, um was es ging. Er wusste, dass man ihnen eine Falle gestellt hatte und er ahnungslos hineingetappt war.
Mit dem Ellbogen stieß er die Scheibe ein. Aber der Fensterladen war aus Eisen, er wich und wankte nicht.
Aus dem Kamin quollen die betäubenden Schwaden.
Sunny griff sich an die Stirn, ihr schwindelte.
Braden begriff, dass es nur noch eine Frage von Minuten sei, bis er die Besinnung verlieren würde. Er riss die Pistole heraus und feuerte in das Schloss der Tür.
Jetzt bedauerte er zum ersten Mal, dass er immer eine Abneigung gegen schwere Pistolen gehabt hatte. Die kleinen Geschosse blieben im Holz stecken, ohne die geringste Wirkung zu erzielen.
Sunny stand plötzlich neben ihm. Sie drückte ihm ihre Waffe, die sie aus dem Ausschnitt gezogen hatte, in die Hand.
Drei Kugeln jagte er noch aus dem Magazin, und dann resignierte er. Es gab nur noch eine einzige Rettung. Er musste die Glut im Kamin zu löschen versuchen.
Auf der Bar standen eine große Schale mit Eis und viele Flaschen. Er packte die Schale und schüttelte den Inhalt ins Feuer. Es zischte, Wasserdampf stieg auf. Aber auf diese Art würde er die Glut nicht löschen können.
„Sunny! Es ist meine Schuld!“, sagte er verzweifelt.
Er wunderte sich, dass das Mädchen sich plötzlich losriss und dahin eilte, wo ein chinesischer, schwerer Gobelin an der Wand hing.
Sunny zog daran, aber sie war bereits zu benommen, um ihn herunterreißen zu können. Braden schob ihn zur Seite. Dahinter war eine Tür, eine schmale, kleine Tür.
Er stemmte die Schulter dagegen und war fast erstaunt, als sie mit leisem Knacken nachgab.
Noch ein Stoß, und das Schloss splitterte heraus.
Sie befanden sich in einem kleinen Raum, der mit Gläsern und Porzellan gefüllt war, einer Art Pantry. Schnell drückte Jack Braden die Türe hinter sich zu. Sunny stand keuchend neben ihm.
Behutsam drückte Jack auf die Klinke einer ebenso schmalen Tür an der gegenüberliegenden Wand. Dann standen sie beide in einer großen, aber leeren Küche. Niemand war zu sehen.
Von dieser Küche ins Freie zu gelangen, war eine Kleinigkeit. Dann standen sie tief und gierig atmend im Nachtdunklen Garten.
Sunny schauderte. Ein Frösteln lief über ihre nackten Schultern und Arme.
Braden streifte das Dinnerjackett ab.
„Hier! Schnell! Schlüpfen Sie hinein.“
Die Pistole in der Hand ging Jack Braden mit leisen Schritten voraus. Er hatte nur die eine Idee, die Straße zu gewinnen.
„Halt! Keine Bewegung!“ Eine große, breite Gestalt tauchte aus der Finsternis.
Eine Taschenlampe blitzte kurz auf.
Braden hob die Pistole.
„Nicht schießen! FBI!“
Noch traute Braden der Sache nicht, aber dann hörte er die Worte: „Bleiben Sie dicht hinter mir. Ich bringe Sie zu Mister Gilford.“
Anthony Gilford saß in einer Limousine, die unweit des Hauses geparkt war.
„Sind Sie gesund, Sunny? Fehlt Ihnen etwas?“, fragte er besorgt.
„Es geht mir gut. Mir fehlt nichts“, antwortete sie. Aber als sie dann im Fond des Wagens saß, fielen ihr die Augen zu.
30
Zehn Minuten später waren sämtliche zehn Mitglieder der Cocktailparty, einschließlich der drei würdigen Fruchtimporteure, verhaftet.
Im Keller des Hauses fanden sich Mengen von Haschisch, Opium und Kisten mit Heroin und anderen Rauschgiften. Keiner und keine der Festgenommenen protestierte. Sie wussten, dass das Spiel aus war. Nur die kleine, zarte Claire, wehrte sich mit Nägeln und Zähnen und wurde erst ruhig, als sich Handschellen um ihre schmalen Gelenke schlossen.
Auch die übrigen, mit Ausnahme der fünf Mädchen, die verschüchtert und weinend in der Ecke standen, mussten sich stählerne Armbänder verpassen lassen.
Als Arturo Polento seine wohl gepflegten Hände ausstreckte, blitzte am Zeigefinger ein goldener Siegelring. Der Ring mit dem Zeichen der Mafia und den Buchstaben AP.
Die Gangster hüllten sich in Schweigen. Die Mädchen waren offensichtlich nur eingeladen worden, um jeden Verdacht im Keim zu ersticken. Sie wussten von nichts.
Claire brach zusammen, und sie war es, die die Geheimnisse der Rauschgiftgang verriet.
Sie hatte sich durch das für ihre Begriffe herrliche Leben, das Polento ihr bot, und das, was er ihr für die Zukunft versprach, blenden lassen. Sie hatte sich an Schindler herangemacht, um ihn zu belauschen und auszuhorchen. Jetzt, da alles zu Ende war, kannte sie keine Hemmungen, ihre Auftraggeber zu belasten.
31
In derselben Nacht wurde das Kellerlokal, in dem das Haschisch verkaufsfertig verpackt wurde, ausgehoben. Dabei wurden auch der kleine, spitzbäuchige Mr. Leggo und sein Leibwächter erwischt.
Den Mord an Galan hatte Polento befohlen. Den Mordversuch an Thrillbroker hatte er selbst verübt, während die „unschuldige“ Claire den Wagen steuerte.
Polento war es auch, der Braden die Schläger nachgeschickt hatte. Er glaubte, eine tüchtige Tracht Prügel werde genügen, um den Privatdetektiv abzuschrecken.
32
Drei Tage danach saß eine kleine Gesellschaft im FIFTH AVENUE HOTEL, an dem Tisch, an dem Braden die Addition der Preise von „Trüffeln“ gefunden hatte. Es waren Mr. Schindler, Anthony Gilford, George Patterson, der sich in seinem „guten blauen Anzug“ recht ungemütlich fühlte, Jack Braden und Dawn Barris.
„Und jetzt, Tony, sagen Sie mir endlich, wie es zuging, dass Sie und Ihre Leute gerade im richtigen Moment auftauchten.“
„Erstens verbitte ich mir endgültig, dass Sie meinen Vornamen entstellen, Jack. Ich heiße Anthony! Um Ihre Frage zu beantworten ... Na, ja, ich hätte es Ihnen lieber unter vier Augen gesagt, aber da Sie es unbedingt wissen wollen ... Ich hatte die drei honorigen Herren schon lange auf der Liste. Ich ließ sie beobachten, und dabei stießen meine Leute natürlich auch auf Sie.“
„Und an mich haben Sie überhaupt nicht gedacht, Tony!“
Mr. Anthony Gilford gab keine Antwort. Er schüttelte nur den Kopf. Dieser unmögliche Jack Braden würde es niemals lernen, sich zu benehmen.
Ein Kellner trat an den Tisch. „Mr. Gilford wird am Telefon verlangt.“
Der FBI-Mann sprang auf.
Als er nach fünf Minuten zurückkam, sagte er: „In der Greenwich Street wurden soeben fünfzig Pfund Haschisch beschlagnahmt. Sie kamen auf einem Lieferwagen von Pier achtundfünfzig.“
„Verdammt!“ Mister Schindler schlug auf den Tisch. „Und ich glaubte ...“
„Die Köpfe der Hydra!“, sagte Anthony Gilford ernst. „Einen haben wir abgeschlagen, und zwei neue wachsen nach.“
33
Ins State Hospital wurde in diese Nacht eine neue Patientin eingeliefert. Man brachte sie in die Nervenabteilung, Haus 32.
Sie tobte und schrie wie eine Wahnsinnige.
„Schade um das Mädel“, sagte der Arzt. „Und dabei ist sie noch so blutjung. Wie heißt sie?“
„Imogen! Mehr weiß ich noch nicht.“
––––––––
ENDE