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Kapitel 1

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Vor meiner Klassenzimmertür, die mit vielen bunten selbst gebastelten Schmetterlingen verziert ist, lässt meine Mama meine Hand los und kniet sich vor mich. Heute trägt sie wieder einen strengen Dutt, das bedeutet, sie geht gleich arbeiten und Papa wird mich nach der Schule abholen. Ich mag es lieber, wenn Mama ihre blonden Haare offen trägt, denn dann sieht sie so viel unbeschwerter aus.

„So, also Papa wird dich dann pünktlich um halb zwölf vor dem Eingang abholen, ja?“, spricht sie lächelnd zu mir und streicht mir über das grüne Kleid, das sie mir gestern zum Geburtstag geschenkt hat. „Bitte mach dein neues Kleid nicht gleich wieder schmutzig, lass dir nicht ständig alles von den Jungs gefallen. Versprich mir, dass du zu Misses Hatheway gehst, wenn die Jungs dich wieder mit Schlamm bewerfen, okay?“

Ich nicke brav und lächle.

„Gut. Gib mir ein Kuss.“ Mama streckt die Lippen aus und ich gebe ihr einen Kuss auf den Mund, worauf sie mir ein letztes Mal durch die langen blonden Haare streicht und dann mit einem Winken aus der Tür verschwindet.

Ich atme tief ein und aus, bevor ich zum Türgriff greife, weil ich hoffe, dass die Jungs sich nicht über mein neues Kleid lustig machen. Es gefällt mir so sehr, sie würden mir mein Gefallen daran verderben. Gerade als ich zum Türgriff greifen möchte, werde ich unsanft zur Seite geschubst.

„Pass doch auf, du Heuschrecke“, mault Jimmy und stampft mit Tim und Charly an mir vorbei. Jimmy öffnet ruckartig die Tür und sie knallt mir unsanft gegen die Stirn, hinterlässt einen pochenden Schmerz. Doch das interessiert die Jungs nicht. Sie gehen in den Klassenraum und lassen mich hier im Flur stehen, schmeißen die Tür laut hinter sich zu.

Das ist gemein. Ich hatte Geburtstag, können sie nicht wenigstens heute nett zu mir sein? Ich habe ihnen nie etwas getan. Weil der Schmerz in meiner Stirn so wehtut, bleibe ich auf der Stelle stehen und beginne zu schluchzen. Eine erste Träne kullert auf mein neues Kleid und ich will wieder nach Hause zu Papa, mit ihm weiter an seiner Eisenbahn basteln und Musik aus seinem Plattenspieler hören. Ich weiß jetzt schon, dass Jimmy, Tim und Charly mich den ganzen Tag ärgern werden.

Während ich so vor mich hin schluchze und schniefe, holt mich der Knall der Eingangstür aus meiner Sehnsucht nach Hause. Ich schrecke auf und sehe mit verweinten Augen hinter mich.

Nathan, ein Junge aus meiner Klasse, kommt die Treppe hochgeschlurft und starrt währenddessen auf seine Füße. Er geht mit gesenktem Kopf geradeaus zur Tür unseres Klassenzimmers und ich gehe sofort einen Schritt zur Seite, weil er mich anscheinend noch nicht gesehen hat. Er greift zum Türgriff und durch ein Schniefen von mir, sieht er zu mir. Mir fällt sofort auf, dass der blaue Rand um sein linkes Auge fast verheilt ist und der kleine Riss an seiner Oberlippe auch.

Ich sehe weg, als er mich von oben bis unten betrachtet. Er wirkt immer so müde. Ich wische mir beschämt die Tränen von den Wangen. „Hallo Nathan“, grüße ich ihn mit noch weinerlicher Stimme.

Er blinzelt resigniert, dann öffnet er ohne weitere Worte die Tür und lässt mich genauso wie Jimmy und die anderen gemeinen Jungs im Flur stehen.

Ich atme erneut tief ein und aus, wünsche mir immer mehr, wieder nach Hause zu Papa zu können. Kurz überlege ich, einfach so zu tun, als würde ich mich nicht gut fühlen und dann könnte ich vielleicht Papa anrufen, damit er mich abholt und wir gemeinsam den Tag verbringen können.

Doch noch bevor ich meinen Plan richtig ausbauen kann, öffnet sich die Tür zum Klassenraum erneut und Misses Hatheway lugt hinaus. Sie ist noch sehr jung. „Honor“, sagt sie verwirrt, als sie mich erblickt. Sie kommt zu mir in den Flur und kniet sich vor mich, wie Mama es vorhin getan hat. „Wieso weinst du denn? Möchtest du nicht in den Klassenraum kommen?“

„J-Jimmy“, beginne ich wieder zu schluchzen und sie versteht sofort. Jimmy ärgert mich oft und Misses Hatheway gibt ihm auch immer wieder Strafarbeiten, wenn er mich beleidigt oder verletzt, aber er tut es immer wieder.

„Hach, Süße“, seufzt Misses Hatheway und wischt mir mütterlich die kleinen Tränen von den Wangen, die wieder wie Bäche zu fließen begonnen haben. „Du hattest doch gestern Geburtstag. Zeig doch der Klasse dein neues schönes Kleid, die werden Augen machen, wenn sie dich so sehen. Das verspreche ich dir.“

„Jimmy hat mich Heuschrecke genannt“, weine ich und spiele mit meinen, von meiner Mutter perfekt gefeilten Fingernägeln.

„Jimmy macht das nur, weil er dich so hübsch findet, glaube mir. Jungs sind sehr komplizierte Wesen.“ Sie steht schmunzelnd auf und streicht mir über den blonden Schopf. „Komm mit rein. Wir warten schon alle auf dich.“

Schließlich nicke ich trotzig und wische mir schniefend die letzten Tränen von den Wangen. Ich folge Misses Hatheway durch den Türrahmen und hoffe, dass ich nicht ausgelacht werde, weil ich geweint habe. Ich weine sehr schnell, das mag ich nicht, aber ich kann es nicht ändern. Ich bin sehr sensibel, sagt Mama immer, nah am Wasser gebaut. Umso schlimmer ist es, dass ich durch Jimmy immer weniger gern in die Schule gehe, weil er mich ständig beleidigt oder mir wehtut. Doch schlimmer als manche Löcher in meinen Lieblingshosen oder Risse in meinen Kleidern, die er verursacht hat, sind Jimmys Worte. Er macht mir all die Dinge, die ich am liebsten habe, zunichte. Wie mein Kleid. Ich bin keine Heuschrecke, ich trage doch nur das grüne Kleid, das ich zu meinem Geburtstag bekommen habe.

Misses Hatheway ruft durch den Klassenraum, dass alle Schüler sich setzen sollen, und ich laufe mit gesenktem Kopf zu meinem Platz, vorbei an Jimmys und Charlys Tisch, die mich beide missbilligend betrachten. Ich frage mich, wieso sie mich nicht mögen. Schon seit dem Kindergarten mögen sie mich nicht. Ohne Grund.

Ich setze mich auf meinen Sitzplatz neben meiner Freundin Maria. Ihre und meine Familie gehen jeden Sonntag gemeinsam in die Kirche und dadurch habe ich mich mit ihr angefreundet. Sie ist meine beste Freundin, schon seit der ersten Klasse. Maria lächelt mir schweigend zu, während Misses Hatheway vorne den Unterricht beginnt. Maria hat ihre braunen Haare wieder zu einem französischen Zopf geflochten, wie sie es immer tut. Jeden Morgen nimmt ihre Mutter sich die Zeit und macht ihr die schönsten Frisuren, ich beneide sie darum, denn Mama hat morgens nicht viel Zeit und Papa kann nicht flechten.

„Ich möchte jetzt, dass ihr Vierergruppen bildet und dann gemeinsam überlegt, welche Spiele wir am Tag der offenen Tür spielen könnten, okay? Die Kindergartenkinder sollen immerhin unterhalten werden“, verkündet Misses Hatheway und setzt sich an ihr Pult. „Notiert eure Ideen und dann schreiben wir sie gemeinsam an die Tafel. Und los!“

Und schon ist der Trubel groß. Maria und ich sehen uns schon grinsend an, da wir immer in einer Gruppe sind, von daher brauchen wir nur noch zwei weitere Mitglieder.

„Wie wäre es mit Patricia?“, fragt Maria mich und sieht nach ihr. Doch im selben Moment sehen wir, dass sie bereits in einer Gruppe mit den anderen Mädchen ist.

Wir seufzen beide. Wir sind nur sechs Mädchen in der Klasse und das bedeutet, dass Maria und ich mit zwei Jungs eine Gruppe bilden müssen.

„Ich frage Julien“, sagt Maria und will gerade aufstehen, als wir wieder feststellen müssen, dass auch Julien gerade eine Gruppe mit ein paar Jungs gebildet hat.

Ich sehe mich um, wer noch allein sitzt, und mein Blick fällt auf Nathan, der mit trüben Augen auf die Schere in seiner Hand starrt, womit er gedankenverloren rumspielt. „Wie wäre es mit Nathan?“, frage ich Maria, halte meinen Blick aber auf ihm. Er ist immer allein und bei Gruppenarbeiten merkt man erst, wie unerwünscht er tatsächlich in unserer Klasse ist. Deswegen nutze ich die Chance, um ihm zu zeigen, dass nicht jeder etwas gegen ihn hat.

„Nathan? Der ist komisch, mit dem will ich nicht in einer Gruppe sein. Wer weiß, ob er uns auch verprügelt, wenn wir seine Spielideen nicht annehmen.“ Maria sieht ängstlich zu ihm rüber.

Sie redet über den Vorfall letzte Woche. Nathan hat sich mit einem Jungen aus der vierten Klasse geprügelt, den genauen Grund wissen wir leider nicht, aber es wird erzählt, dass Nathan ihn ohne Anlass geärgert hat und dann ist die Sache ausgeartet. Er gerät oft in Prügeleien mit Mitschülern und jedes Mal heißt es, dass er der Auslöser sei. Manchmal weiß ich nicht, ob das die Wahrheit ist, denn Nathan ist ein stiller Junge. Wenn man nicht mit ihm redet, schweigt er den ganzen Tag. Wie er immer wieder in Streitigkeiten mit anderen Jungs gerät, wundert mich schon seit der ersten Klasse.

„Maria, Honor, habt ihr noch keine Partner?“, ruft Misses Hatheway zu uns.

Wir schütteln beide den Kopf.

Sie sieht sich im Raum um, dann sagt sie: „Ah, Nathan und Jimmy sind noch allein. Setzt euch bitte zusammen.“

Sofort will ich nicht mehr in Gruppen zusammenarbeiten. Jimmy in meiner Gruppe? Er wird doch ständig wieder abwertende Kommentare über mein Kleid machen und mich Heuschrecke nennen, mir an den Haaren ziehen oder aus Versehen mein Kleid bemalen.

Jimmy kommt schon mit einem gemeinen Lächeln an unseren Tisch, während Nathan sitzen bleibt und anscheinend gar nicht mitbekommen hat, dass wir eine Gruppe bilden sollen. „Na, Heuschrecke“, feixt Jimmy und setzt sich mit einem Stuhl an Marias und meinen Tisch.

„Sie ist keine Heuschrecke“, verteidigt Maria mich mutig, während ich nur eingeschüchtert den Kopf hängen lasse und bete, dass der Tag so schnell wie möglich rumgeht.

„Sie sieht aber aus wie eine.“ Jimmy greift über den Tisch zu der Schleife meines Kleides vor meiner Brust und zieht daran.

„Hey, lass das“, jammere ich und will seine Hand wegstoßen, damit er die schöne Schleife nicht abreißt. „Das habe ich zum Geburtstag bekommen!“

Und genau in dem Moment, als ich schon das erste Reißen gehört habe, fällt ein Mäppchen auf unseren Tisch und Nathan lässt sich gleichgültig auf einen Stuhl neben Jimmy sinken. Jimmy erschrickt und lässt sofort meine Schleife los. Zum Glück. Er rutscht weiter weg von Nathan und ein ängstlicher Ausdruck schleicht sich auf sein Gesicht, während Nathan nur auf die Tischplatte starrt und die Arme verschränkt. Jimmy hat Angst vor ihm. Wie jeder andere. Alle wissen, dass Nathan sich oft prügelt und gewalttätig ist, deshalb will niemand mit ihm reden, weil sie nicht die Nächsten sein wollen, die von ihm gehauen werden. Und durch Nathans ständige blaue Flecken an Armen und Hals, im Gesicht und der kleinen Narbe unter seinem rechten Auge, wirkt er noch gefährlicher.

„Okay, fangen wir an“, beendet Maria die Stille und holt einen Schreibblock aus ihrem Schulranzen. „Wer möchte schreiben?“

Alle schweigen. Ich, weil ich Angst vor Jimmy habe, Jimmy, weil er Angst vor Nathan hat und Nathan, weil er noch immer desinteressiert auf den Tisch starrt.

„Dann schreibe ich.“ Maria holt ihren Füller heraus. „Habt ihr Ideen?“

„Wie wäre es mit Reise nach Jerusalem?“, frage ich lächelnd, weil ich dieses Spiel liebe.

„Das kann man nur in kleinen Gruppen spielen, dumme Heuschrecke“, wirft Jimmy ein.

Sofort schweige ich wieder und sehe verängstigt auf meine Finger. Er kann es einfach nicht lassen.

„Das stimmt doch gar nicht.“ Maria schreibt meine Idee auf den Zettel. „Das Spiel kannst du mit so vielen spielen, wie du willst, du dummer Rotkopf.“ Sie spielt auf Jimmys orangerotes Haar an.

Bei seinem Aussehen würde man nie denken, dass er so gemein sein kann. Sein Gesicht ist voller Sommersprossen, seine Haut blass, er sieht eigentlich lieb aus. Bis er den Mund öffnet. Dann ist er einfach nur fies.

„Halt die Klappe, du langweilige Kirchentussi“, motzt Jimmy zurück und zieht Maria den Füller aus der Hand, worauf sie einen dicken Strich über ihr Blatt malt.

„Hey, lass das!“ Ich versuche, nach dem Füller zu greifen, doch er hält ihn hinter sich.

„Was, wenn nicht?“ Er sieht mich gespielt schmollend an. „Heulst du dann wieder und lässt dich von Misses Hatheway wie ein kleines Baby behandeln, Heuschrecke?“

Sofort beginnt meine Unterlippe zu zittern. „Ich bin keine Heuschrecke“, gebe ich mit weinerlicher Stimme zurück, versuche, nicht zu weinen.

„Doch bist du. Und du bist genauso hässlich wie dieses hässliche Kleid, du Heulsuse.“

„Ich bin nicht hässlich“, schniefe ich leise. Papa sagt immer, ich sei hübsch, egal, was Jimmy sagt.

Als Maria erneut nach dem Füller greifen will, nimmt Jimmy die Feder und drückt sie fest auf den Tisch, sodass sie sich völlig verbiegt.

„Bist du blöd?“, schreit Maria und zieht ihm jetzt den Füller aus der Hand. „Du hast ihn kaputt gemacht!“

„Was ist denn hier schon wieder los?“ Misses Hatheway steht mit verschränkten Armen an unserem Tisch. Ich sehe sie flehend an und bitte sie mit meinen verweinten Augen darum, mich einfach nach Hause gehen zu lassen. „Solltet ihr nicht arbeiten? Stattdessen streitet ihr euch wieder! Jimmy, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Mädchen in Ruhe lassen!“

„Jimmy hat meinen Füller kaputt gemacht“, sagt Maria und hält zornig ihren Stift in die Luft.

Misses Hatheway nimmt ihn und sieht ihn sich an. Dann sieht sie erbost zu Jimmy. „Wieso hast du das getan? Du kannst doch nicht einfach die Schulutensilien deiner Mitschülerinnen zerstören!“

Jimmy hat sofort wieder diesen typisch unschuldigen Blick auf dem Gesicht, mit dem man meinen könnte, er wäre der Engel höchstpersönlich. „Ich war das nicht, Misses Hatheway“, sagt er mit Glitzern in den Augen.

„Ach ja? Wer soll es denn sonst gewesen sein?“

Jimmy öffnet den Mund und scheint zu überlegen. Ich sehe ihn ungläubig an. Er hat den Füller kaputt gemacht! „Nathan war es!“, sagt er schließlich empört und zeigt auf Nathan, der immer noch schweigend und resigniert neben ihm sitzt. Er regt sich kein Stück. Als hätte er gewusst, dass Jimmy ihm die Schuld geben würde.

„Was?“, ruft Misses Hatheway aus. „Nathan schon wieder!“ Sie geht um den Tisch herum und haut den kaputten Füller vor Nathan darauf, worauf er mit müden Augen zu ihr aufblickt. „Ich hätte es mir ja schon fast denken können! Du kommst mit zum Rektor, ständig zerstörst du die Sachen der anderen!“

„Aber Nathan war es nicht“, lasse ich sie kleinlaut wissen, worauf Jimmy mich mit zusammengekniffenen Augen ansieht. „Es war Jimmy.“

„Schon gut, Honor“, wütet sie und zieht Nathan am Arm von seinem Stuhl. Sein Blick ist noch immer so gleichgültig, als wäre er ein Schlafwandler. „Nathan kann es einfach nicht lassen.“ Sie sieht ihn böse an. „Das ist das letzte Mal, dass du so frech bist! Der Rektor wird deine Eltern anrufen!“

Ich beobachte perplex, wie sie ihn aus dem Klassenraum hinter sich herzieht und er es sich gefallen lässt. Er bekommt oft von Schülern in unserer Klasse Sachen in die Schuhe geschoben, die er nie getan hat, und trotzdem wehrt er sich nie. Ihm scheint das wirklich alles egal zu sein. Ob er jetzt von der Schule geworfen wird? Die Lehrer haben ihm oft mit einem Schulverweis gedroht, bisher ist aber noch nichts passiert.

Ich frage mich, wie seine Eltern reagieren, wenn der Rektor ständig bei ihm zu Hause anruft. Sie müssen ihn ja sehr oft schimpfen. Aber ich habe sie sowieso noch nie gesehen, er kommt immer allein zur Schule. Nur einmal habe ich ihn aus einem schwarzen Auto aussteigen sehen. Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern würden angerufen werden, weil ich etwas angestellt habe, bekomme ich unglaubliche Angst. Sie wären sehr enttäuscht von mir und würden mir wahrscheinlich meine Spielsachen wegnehmen. Aber ich würde auch niemals den Füller eines Mitschülers kaputt machen, denn mir wurde immer beigebracht, dass Gewalt keine Lösung ist.

„Du bist gemein“, traue ich mich zu Jimmy zu sagen, der selbstgefällig zusieht, wie Misses Hatheway Nathan aus der Tür zieht.

Er sieht mich grimmig an. „Was hast du gesagt, Heuschrecke?“

Ich knicke ein wenig ein, doch ich wiederhole: „Du bist gemein. Nathan hat nichts getan.“

Er kneift seine Augen wieder zusammen und dann reißt er auch schon, noch bevor ich reagieren kann, die grüne Schleife von meinem Kleid.

„Hey, bist du bescheuert?“ Maria reißt ihm die Schleife aus der Hand.

Ich beginne sofort wieder zu weinen. Jetzt hat er es tatsächlich kaputt gemacht. Viele lose Fäden hängen vor meinem Oberteil und ein kleines Loch ist entstanden, wodurch man mein weißes Unterhemd sehen kann.

„Oh, jetzt heult sie wieder“, macht Jimmy. „Du bist so eine Heulsuse, wie halten das ihre Eltern nur mit ihr aus?“

Ich halte mir die Hände vors Gesicht und verstecke mich weinend dahinter. Ich bin eine Heulsuse. So wie Jimmy es gesagt hat. Maria streicht mir tröstend über den Rücken und Jimmy geht von unserem Tisch weg zu Charly und Tim.

Nathan war bis zur großen Pause nicht mehr im Unterricht. Ich nehme an, dass seine Eltern ihn von der Schule abholen mussten. Er tut mir leid. Ständig bekommt er Ärger für Dinge, die er nicht getan hat. Aber wieso wehrt er sich nie dagegen? Ich verstehe ihn nicht. Er würde noch lange nicht so viele Strafen bekommen, wenn er sich mal behauptet und versucht, die Wahrheit zu sagen. Obwohl. Wahrscheinlich würden ihm die Lehrer nicht glauben. Kein Lehrer kann ihn ausstehen, weil er immer so viele Schüler verletzt. Angeblich soll er eine Lehrerin getreten haben.

Immer noch leise schniefend sitze ich mit Maria auf einer Bank am Schulhof, während die anderen Kinder um uns herum Fangen spielen oder am Klettergerüst hangeln.

„Mach dir nichts draus“, tröstet Maria mich. „Meine Mama kann dein Kleid wieder nähen, das hat sie doch sonst auch immer gemacht.“

„Aber es sieht dann nicht mehr so aus wie vorher“, jammere ich und sehe auf das Loch in meiner Brust, wo die Fäden raushängen.

„Ich sage ihr, dass sie sich viel Mühe geben soll. Jimmy ist ein doofer Blödmann, ich finde dein Kleid schön.“

„Danke … Übrigens ist mein Geburtstag heute um zwei. Mama meinte, sie könne dich abholen, weil deine Mama heute länger arbeiten muss.“

Maria nickt lächelnd. „Okay. Ich habe ein supercooles Geschenk für dich!“

Jetzt lächle ich auch. Doch dann wird Maria von einem Mädchen auf dem Schulhof gerufen und sie lässt mich kurz allein. Seufzend sehe ich auf die grüne Schleife in meiner Hand. Ich hatte mich so gefreut, das Kleid heute anzuziehen, und Mama hat heute Morgen auch noch gesagt, ich solle es nicht kaputt machen, und jetzt ist es doch kaputt. Es war neben meinem hellblauen Kleid mein liebstes.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich jemand auf die Bank neben meiner setzt. Ich blicke auf und wische mir ein paar Tränen von den Wangen, weil ich immer noch nicht ganz aufhören kann zu weinen. Es ist Nathan. Anscheinend mussten seine Eltern ihn doch nicht abholen. Er hat seine Hände in den Jackentaschen seiner schwarzen Jacke vergraben und lehnt sich wieder mit diesem gleichgültigen Blick zurück, sieht auf den Schulhof. Ich mag seine Haare. Sie sind so wuschelig und lockig, hängen ihm fast völlig über die grünen Augen.

Ich schniefe noch mal und rufe mit heiserer Stimme zu ihm rüber: „Hat der Rektor deine Eltern angerufen?“ Weil er nicht reagiert, rufe ich erneut und spiele nervös mit der Schleife in meiner Hand. „Nathan?“

Er sieht jetzt zu mir rüber, allerdings ändert sich sein Ausdruck nicht. Anscheinend möchte er mir nicht antworten oder hat mich einfach nicht verstanden, weil der Krach auf dem Schulhof so laut ist.

Ich rutsche ein wenig auf der Bank näher zu seiner. „Ich habe Jimmy gesagt, dass es gemein war, dass er dir die Schuld gegeben hat.“

Nathan ignoriert mich und sieht wieder nach vorne zum Hof.

Ich verziehe etwas verletzt den Mund. Mittlerweile sollte ich schon daran gewöhnt sein, dass er mich ignoriert, doch trotzdem lässt es mich schlecht fühlen. Ich versuche oft, mit ihm zu reden, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt, denn selbst hier in den Pausen kommt ihm niemand näher als vier Schritte, weil ihn alle fürchten. „Was hat der Rektor zu dir gesagt?“, frage ich wieder. „Hast du viel Ärger bekommen?“

Wieder antwortet er nicht, sondern sieht sogar in die entgegengesetzte Richtung, sodass ich nicht mal mehr sein Gesicht sehen kann.

Traurig spüre ich, wie sich erneut Tränen in meinen Augen ansammeln. Ich habe gerade mal die Hälfte des Schultages hinter mir und fast die ganze Zeit damit verbracht zu weinen. Nur wegen Jimmy. Er tut mir immer wieder weh, das macht mich noch sensibler.

Unmädchenhaft ziehe ich die Nase hoch und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Nathan zu mir sieht. Er greift in seine Hosentasche und schmeißt mir etwas vor die Füße.

Verwundert betrachte ich das kleine Plastikpäckchen vor mir und stelle schnell fest, dass es Taschentücher sind. Verwirrt sehe ich zu ihm.

„Wisch dir damit die Tränen weg“, sagt er und sieht wieder resigniert nach vorne.

Eins seiner Taschentücher. Zwar hat er schon ab und zu mit mir geredet, doch es waren nie nette Sachen. Sonst sagt er immer nur, dass ich ihn nerve und doch verschwinden solle. Doch heute? Er schenkt mir seine Taschentücher. Ich bücke mich dankbar nach den Päckchen und ziehe ein weißes Tuch hervor. „Danke“, weine ich leise und wische mir damit vorsichtig die Nässe von den Wangen. Ich beuge mich zu seiner Bank rüber und lege die Packung ganz an den Rand, weil ich weiß, dass er es nicht mag, wenn ich ihm zu nahe komme. „Das ist lieb von dir.“

Er lässt die Packung da liegen und sieht weiter geradeaus. „Ich wollte nicht lieb sein, es sieht einfach nur bescheuert aus, wenn du ständig heulst.“

Ich schürze die Lippen und sehe auf meine Finger. „Oh“, mache ich traurig und kneife mir unbewusst in meinen Handballen. „Ich kann nichts dafür …“

„Wofür?“

„Dass ich ständig weinen muss.“

„Doch, kannst du. Tu es einfach nicht. Es nervt.“

„Tut mir leid“, sage ich leise und stehe wieder kurz davor zu weinen, doch ich halte die Luft an, weil ich Nathan nicht weiter nerven möchte. Mit gebrochener Stimme füge ich noch hinzu: „Ich wollte dich nicht nerven.“ Und rutsche auf der Bank weiter von ihm weg.

Er beugt sich zu der Packung Taschentücher und wirft sie mir wieder zu, sodass sie direkt in meinen Schoß fällt. Dann steht er auf. Als ich ihn fragend ansehe, meint er monoton: „Behalte sie. Du heulst ja schon wieder, das hält keiner aus.“

Meine Unterlippe beginnt wieder zu zittern und ich kann ihm nicht mal ins Gesicht sehen. „Sei nicht so gemein“, flüstere ich.

„Wieso?“

Was eine seltsame Frage. Weil es mich verletzt. „Weil ich immer nett zu dir bin“, erkläre ich.

„Ich will aber nicht, dass du nett zu mir bist“, murrt er böse. „Ich habe dir schon oft gesagt, dass du mich einfach nervst und ich dich nicht mag.“

Eine Träne fließt wieder meine Wange herunter, tropft auf mein Kleid.

„Du nervst und ich mag dich nicht“, wiederholt er. „Bekomm das endlich in deinen blöden Schädel.“

Ich sehe verweint auf und erkenne, dass in seinem Blick noch immer keine direkte Emotion zu erkennen ist. Er sieht noch genauso gleichgültig aus wie vorhin, als Misses Hatheway ihn aus dem Unterricht gezogen hat. Wie kann er nur solche verletzenden Worte sagen, ohne auch nur etwas dabei zu fühlen? Er sieht nicht mal wütend aus.

„Ich wollte doch nur mit dir befreundet sein“, weine ich niedergeschlagen.

„Ich will aber nicht mit dir befreundet sein. Vor allem nicht, wenn du ständig heulst.“

Er will noch etwas dazu sagen, doch eine erwachsene Stimme ertönt über den Schulhof. „Nathan!“ Mister McErming stampft aufgebracht zu ihm und zieht Nathan am Ohr, sodass er sein Gesicht verzieht. „Du hast heute schon genug angestellt, glaubst du nicht, dass du langsam genug Mädchen verletzt hast?“

Ich würde Mister McErming gerne widersprechen, doch ich kann es nicht. Einerseits, weil der Kloß in meinem Hals zu groß ist, und andererseits, weil Nathan mich wirklich verletzt hat. Zwar nicht mehr als sonst, aber gemeinsam mit der kaputten Schleife in meiner Hand tut es noch mehr weh.

„Wir werden jetzt sofort deine Eltern anrufen, diesmal sage ich dem Rektor, er soll keine Ausnahme machen“, wütet der Lehrer und zieht fester an Nathans Ohr, sodass er schon auf die Zehenspitzen muss. Mister McErming sieht zu mir. „Ist alles in Ordnung, Honor? Wo ist Maria?“

„Ich bin hier“, sagt Maria, die gerade zu mir auf die Bank kommt und sofort wieder tröstend eine Hand auf meinen Rücken legt.

„Okay, gut.“ Noch einmal zieht er an Nathans Ohr. „Und jetzt kümmern wir uns um dich, Freundchen.“ Er zieht Nathan mit sich über den Schulhof, der ihm mit schnellen Schritten fast joggend und mit schmerzverzogenem Gesicht folgt.

Ich sehe ihnen hinterher, ignoriere Maria, die mich fragt, was passiert sei. Nathan dreht sich etwas in meine Richtung und sieht zu mir. Jetzt erkenne ich etwas in seinem Gesicht. Verachtung. Mir dreht sich der Magen um. Wieso zeigt er jetzt eine Emotion, aber vorher nie?

Mister McErming und Nathan verschwinden hinter der Tür des Sekretariats.

Seit diesem Tag kommt Nathan nie wieder in die Schule.

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