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Kapitel 3

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„Ich bin mehr als bereit für die Ferien“, stöhnt Olivia, meine beste Freundin und setzt sich neben mich in die U-Bahn. „Auch wenn ich die Matheprüfung versaut habe. Was soll’s? Wer braucht Mathe?“

„Na ja, du wirst es noch oft brauchen“, kichere ich und klemme mir meine Mappe enger an meine Brust.

„Quatsch. Wenn ich Sportlehrerin werde, brauche ich kein Mathe. Alles Quatsch.“

Kopfschüttelnd lache ich. Oli geht mit mir seit der sechsten Klasse auf die gleiche Schule und seitdem sind wir unzertrennlich. Sie ist zwar das genaue Gegenteil von mir und lebt eher ein rebellisches Leben, doch wir sind ein Herz und eine Seele. Umso trauriger ist es, dass wir uns die ganzen Weihnachtsferien nicht sehen werden, weil sie nach Australien zu ihrer Familie fliegen wird.

Heute ist Freitag und vor einer Stunde haben wir die letzte Prüfung hinter uns gebracht. Mathematik. Ich habe ein gutes Gefühl, genauso wie in Englisch, Französisch und Spanisch. Das viele Lernen hat sich definitiv ausgezahlt, somit kann ich beruhigt in die Ferien starten.

„Du tust mir echt leid, dass du die ganzen Ferien arbeiten musst“, sagt Oli und versteckt ihre schwarzen Haare unter einer Wollmütze.

Ich zucke nur mit den Schultern. „Das kannst du nicht arbeiten nennen. Das ist nun mal das Hotel meines Grandpas und ich denke nicht, dass Mama und Grandpa mich dort hart arbeiten lassen.“

„Aber du musst morgens früh aufstehen. Und das reicht schon. Ich verstehe sowieso nicht, wieso du diesen Mist machen musst. Ihr seid reich.“

„Hey, wir sind nicht reich“, erwidere ich. „Wir …“

„Ihr seid nur wohlhabend, schon gecheckt.“ Oli verdreht die Augen. Dann kommen wir an der Station an, an der sie aussteigen muss, und sie verabschiedet sich von mir mit einer Umarmung.

Ich beobachte durch das Fenster der Bahn, wie sie in einer Gasse verschwindet, und schon setzen wir uns in Bewegung. Eigentlich habe ich wirklich keine Lust, in den Ferien zu arbeiten, denn das bringt mich nur von meinen Proben ab und meiner Lust, auch mal zu Hause zu üben. Die ganze Woche war ich jeden Tag bei Misses Baskin und habe versucht, die Violinsonate zu spielen, doch es sei noch immer nicht gut genug, wie sie ständig sagte.

Gedanklich seufze ich.

Ich setze mir in den Kopf, mindestens die Violinsonate bis Silvester perfekt zu beherrschen. Als kleines Geschenk an mich selbst.

Mama möchte aber auch unbedingt, dass ich in den Ferien arbeite, damit ich mir auch mal mein eigenes Geld verdiene. Theoretisch ist es ja ihr Geld, denn sie wird mich bezahlen, doch ich soll verstehen, wie es ist zu arbeiten, denn bisher habe ich genug Taschengeld bekommen und musste mir nie um irgendetwas Gedanken machen. Eigentlich fand ich das gut, denn ich hatte genug Stress mit den ganzen Proben, doch anscheinend reicht das nicht aus. Es muss unbedingt dieses doofe Hotel sein.

Kurz bevor die Bahn an der Haltestation hält, an der ich raus muss, stehe ich schon vor der Tür und sehe heraus, während hinter mir ein altes Pärchen über das anstehende Mittagessen diskutiert. Die Türen öffnen sich und noch bevor ich den ersten Schritt nach draußen machen kann, werde ich unsanft von der Seite von einem schwarz gekleideten Jungen mit Kapuze angestupst, der an mir vorbei nach draußen stürmt. Meine Mappe fliegt auf die geteerte Straße und alle Blätter liegen auf dem Boden, was niemanden zu interessieren scheint, denn ich kann jetzt schon sehen, wie immer mehr Fußabdrücke auf den Zetteln entstehen. Leise fluchend und den vielen Leuten aus dem Weg gehend, knie ich mich auf den Boden, um die vielen Blätter einzusammeln. Das kann doch alles nicht wahr sein. Das sind all meine Notenblätter.

Misses Baskin wird mich umbringen!

Hektisch stopfe ich die Blätter in den Ordner, und als ich gerade nach dem letzten Zettel greifen will, wird er von dem Wind davongeweht. Na toll. Das wird ja immer besser.

Schnell stelle ich mich auf, schultere meine Tasche wieder richtig und gehe durch die vielen Leute hindurch dem Zettel hinterher, der seinen Weg immer weiter zu fliegen scheint. Wo kommt denn plötzlich dieser nervige Wind her?

Mit vielen Entschuldigungs und Sorrys quetsche ich mich durch die Leute, behalte das weiße Papier im Auge. Und genau auf einer Stelle, wo keine Leute stehen, bleibt es still liegen. Erleichtert jogge ich schnell hin und bücke mich danach. Ich mustere es. Risse, Dreck und ein fetter Fußabdruck.

Misses Baskin wird mich so was von umbringen.

Als ich mich gerade umdrehen will, um nach Hause zu laufen, werde ich plötzlich am Ärmel einen Meter zur Seite gezogen. Ich stolpere über meine eigenen Füße durch die plötzliche Geschwindigkeit und lande unsanft auf dem Bürgersteig. Meine Mappe fliegt ebenfalls wieder auf den Boden und alle Notenzettel sind erneut zerstreut.

Total verwirrt verstehe ich erst jetzt, dass ich mitten auf der Straße stand und ein Auto in Höchstgeschwindigkeit auf mich zukam. Wie konnte ich so unvorsichtig sein?

„Beschissene Idee, auf der Straße zu lernen“, höre ich eine tiefe, rauchige Stimme und erst jetzt sehe ich eine Person neben mir. Er ist schwarz gekleidet, hat eine Kapuze auf und dreht sich schon wieder von mir weg, noch bevor ich sein Gesicht sehen kann. Er scheint mich von der Straße gezogen zu haben.

Etwas überfordert sehe ich ihm hinterher, wie er davongeht, mit den Händen in den Jackentaschen. Ich kann ihn doch nicht einfach so weggehen lassen. Wenigstens danke schön sollte ich sagen, immerhin hat er mich vor einem Unfall gerettet. „Hey, Moment mal!“, rufe ich ihm schnell hinterher und sammle rasch die vielen Zettel ein, stopfe sie einfach unsauber in meine Mappe. Ich klemme sie mir unter meinen Arm und jogge ihm hinterher. Er ignoriert meinen Ruf, deswegen rufe ich noch mal: „Stop, warte kurz!“

Doch er läuft immer noch mit schnellen Schritten geradeaus. Er kann mich nur gehört haben, denn jeder andere sieht mich komisch an.

Ich beschleunige meine Schritte und komme bei ihm an. „Ich sollte mich bei dir bedanken“, sage ich schnaufend und versuche seinem Schritt standzuhalten. Wir bleiben an einer roten Ampel stehen und ich versuche, meine Atmung zu kontrollieren. „Also … danke schön.“

Er dreht sich jetzt zu mir und ich kann sein Gesicht erkennen. Moment mal … Ist das nicht …? „War’s das?“, murrt er genervt.

Eindringlich betrachte ich ihn und er runzelt schon die Stirn, weil ich ihn so anstarre. „Ja“, sage ich nachdenklich. „Das war’s.“ Er ist sehr unfreundlich dafür, dass ich mich nur bedanken wollte.

Der Junge dreht seinen Kopf wieder weg und in dem Moment springt die Ampel auf Grün. Mir ist egal, ob es die falsche Richtung ist und mein Zuhause sich immer weiter von mir entfernt. Er geht davon, ohne noch etwas zu sagen, doch ich folge ihm wieder flink.

„Bist du nicht der Junge aus der Apotheke?“, frage ich ihn neugierig und fühle mich schwach neben ihm, weil ich zwei Schritte machen muss, während er einen läuft.

Wieder ignoriert er mich und atmet angespannt geradeaus, ich merke genau, wie er versucht, schneller zu werden. Doch ich nutze die Zeit, um ihn genauer zu betrachten. Das ist er definitiv. „Hör auf, mich so anzustarren“, knurrt er.

„Du bist definitiv der Junge aus der Apotheke“, stelle ich fest und ignoriere seine vulgäre Ausdrucksweise.

Er biegt in eine Straße und ich folge ihm weiter.

„Willst du nicht mit mir reden?“, frage ich ihn.

„Ach, ist das so offensichtlich? Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen.“

„Du musst nicht gleich beleidigend werden“, sage ich kleinlaut und sehe auf meine Füße.

Plötzlich bleibt er stehen und ich remple gegen seine breite Schulter. „Ich werde jetzt links in diese Gasse biegen“, sagt er gereizt und sieht mir das erste Mal in die Augen. „Und du wirst in die andere Richtung gehen, verstanden?“

Plötzlich fährt ein Schlag der Erkenntnis durch meinen Körper. Ganz davon abgesehen, dass er der Dieb aus der Apotheke ist, kommt er mir noch viel bekannter vor. Ich dachte zwar, dass es Zufall wäre, dass mich seine Augen an jemanden erinnern, aber … Da ist diese Narbe unter seinem linken Auge. Ich starre ihn nur erstarrt an. Das kann doch nicht Nathan sein. Oder? Nathan ist seit Jahren nicht mehr in Cardiff. Das kann nicht sein.

„Alles klar.“ Er dreht sich weg und geht wieder mit schnellen Schritten davon.

Wie benebelt sehe ich ihm hinterher. Ich achte auf jede Bewegung, die er macht, während er davongeht. Vielleicht erkenne ich ja etwas an seiner Gangart. Doch wie sollte ich? Ich habe den kleinen Jungen schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, er läuft bestimmt nicht mehr wie ein Neunjähriger.

Er wird immer kleiner und ich kämpfe mit mir selbst. Ich muss wissen, ob es wirklich Nathan ist. Doch gleichzeitig weiß ich nicht, ob es so eine gute Idee wäre, ihm zu folgen. Er wirkt so angespannt und genervt … Wie früher. Und heute ist er kein Achtjähriger mehr, heute würde er noch viel schlimmere Dinge zu mir sagen. Vielleicht würde er mir wehtun. Ich sollte ihm wirklich nicht folgen.

Doch ich folge ihm trotzdem. Ich halte mich weit genug von ihm entfernt und hoffe, dass er mich nicht sieht. Ich weiß zwar nicht, wie genau ich so herausfinden soll, ob er Nathan ist, aber vielleicht läuft er ja zu einer Wohnung oder einem Haus, wo sein Name an der Klingel steht.

Wenn er wirklich der kleine lockige Nathan aus der Grundschule ist, würden sich mir tausend Fragen im Kopf bilden. Mich interessiert schon seit Jahren, wieso er damals einfach verschwunden ist, wo er wohnt, was er so macht, wie es ihm so geht, wie er so ist? Ob er wirklich immer noch so ein Rebell ist wie früher? Gut vorstellbar ist es auf jeden Fall, denn er war gerade nicht wirklich nett zu mir.

Zehn Minuten folge ich Nathan unauffällig durch ein paar Straßen und komme mir mehr als bescheuert vor. Mama wird mich bald anrufen, weil sie sich Sorgen macht, doch ich will einfach wissen, wer er ist.

Er bleibt an einer Ecke stehen und lehnt sich dann an eine Hauswand. Er sieht sich um. Anscheinend wartet er auf irgendwen.

Schnell verstecke ich mich hinter einem Auto mit einem guten Sicherheitsabstand von mindestens dreißig Metern. Ich überlege, wie es nun weitergehen soll. Er wird sich hier mit irgendwem treffen und dann gehen sie weg. So bekomme ich nie raus, wie er heißt. Wieso mache ich das überhaupt? Ich sollte schon längst zu Hause sein, es beginnt schon dunkel zu werden, außerdem soll Mama sich keine Sorgen machen.

Doch meine Neugier ist größer als meine Vernunft. Mama muss warten.

Ich beuge mich etwas an dem Auto vorbei und sehe wieder zu ihm. Er zündet sich gerade eine Zigarette an, dann bläst er den Rauch aus seiner Nase. Ob Nathan wirklich rauchen würde? Wahrscheinlich. Würde mich nicht wundern, wenn er nicht nur Tabak raucht.

Ich sitze noch weitere fünf Minuten hinter dem Auto. Noch immer steht er an der Hauswand und scheint zu warten. Okay, das geht doch eigentlich ganz einfach. Ich mache es mir viel zu kompliziert. Bevor ich hier noch erfriere, mache ich es jetzt.

Ich beuge mich wieder etwas an dem Auto vorbei und stelle auch klar, dass er mich definitiv nicht sehen kann, aber ich ihn. Ich atme tief ein und aus. Und dann: „Nathan!“ Schnell ducke ich mich ein wenig, doch luge noch so hervor, dass ich ihn sehen kann.

Und tatsächlich. Er dreht sich verwirrt in meine Richtung.

Er ist es!

Ach du heiliger Himmel.

Oder er heißt auch Nathan. Oder er hat nur geguckt, weil er sich erschreckt hat. Was rede ich da? Das wären zu viele Zufälle auf einmal. Dieser rauchende, schwarz gekleidete, große Junge ist definitiv der kleine achtjährige Junge aus meiner Kindheit.

Da vorne steht wirklich dieser kleine Junge, der damals einfach verschwunden ist und wahrscheinlich die meist gehasste Person der Schule war. Dieser kleine, stille Junge mit den blauen Flecken und aufgeplatzten Lippen. Ich kann mich noch erinnern, dass er damals sogar ein wenig kleiner war als ich. Heute überragt er mich mehr als einen Kopf. Nathan war damals zwar schon sehr einschüchternd, doch das ist kein Vergleich zu heute. Er hat eine fast rabenschwarze Aura um sich herum.

Während ich ihn weiter anstarre und nicht fassen kann, dass er tatsächlich er ist, klingelt plötzlich mein Handy. Oh, verdammt, das wird er definitiv hören, denn wir sind die einzigen Leute hier in dieser Straße. Hektisch krame ich mein Handy aus meiner Tasche und versuche, den Ton in meiner Jacke zu dämpfen, indem ich mich fast auf diese setze. Es ist Mama. Schnell gehe ich ran. „Ja, Mama?“, flüstere ich in die Leitung und sehe noch mal zu Nathan, um sicherzugehen, dass er mich nicht gehört hat. Er steht noch immer nur da, schmeißt seine Zigarette weg.

„Wann hast du vor, nach Hause zu kommen?“, nörgelt meine Mutter. „Es ist schon halb sieben und du weißt, dass wir um sechs Uhr essen.“

Seufzend setze ich mich auf den kalten Boden und lehne mich an das Auto. „Tut mir leid. Ich werde in einer halben Stunde zu Hause sein. Olivia und ich haben uns noch so lange unterhalten, du kennst sie ja“, lüge ich.

„In Ordnung, aber sag doch das nächste Mal Bescheid, ich habe mir Sorgen gemacht. Vor allem wenn es dunkel ist.“

„Mama, ich bin achtzehn.“

„Na und? Dir kann immer etwas passieren, Liebling.“

Ich schmunzle. „Wie immer hast du recht. Ich werde bald da sein, wartet nicht mit dem Essen.“

Wir verabschieden uns und ich lege auf, schiebe das Handy in meine Jackentasche. Kurz schließe ich die Augen und lehne meinen Kopf an die Autotür hinter mir.

Diese ganze Situation macht mich kirre. Dieser Typ aus der Apotheke, der gestohlen hat, ist Nathan. Wie war noch mal sein Nachname? Cort, genau, Cort. Wie könnte ich das je vergessen? Wahrscheinlich würde ich mich immer an ihn erinnern. Wenn ich zurückdenke, wie oft ich als kleines Mädchen versucht habe, Kontakt zu ihm aufzubauen und mit ihm zu spielen, weil er immer so allein und gebrochen aussah, und wie oft er mich abgeblockt und beleidigt hat, rutscht mir das Herz in die Hose. Das sind keine schönen Erinnerungen, doch trotzdem lag er mir am Herzen. Warum, weiß ich nicht und wusste ich, denke ich, auch damals schon nicht, aber er hatte einfach diese trostlose Art an sich. Diese traurige. Und das hat irgendwie einen gewissen Instinkt in mir hervorgerufen, es war mir schon als Kind wichtig, andere Menschen glücklich zu machen.

Ich öffne wieder die Augen.

Und sehe unmittelbar auf eine schwarze Jeans.

„Oh, mein Gott“, keuche ich erschrocken und zucke zusammen, weil Nathan genau vor mir steht und mich mit verschränkten Armen anstarrt.

Allerdings sieht er nicht glücklich aus. Eher genau das Gegenteil. Wieder extrem einschüchternd. Wie hat er nur diesen Blick in seine Augen bekommen? „Wieso zur Hölle folgst du mir?“, faucht er zornig. „Habe ich dir vorhin nicht klar und deutlich gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst? Was bist du? Ein beschissener Stalker?“

„Nein“, sage ich wortkarg. Er muss denken, ich bin verrückt. Aber das schüchtert mich nur noch mehr ein. „I-Ich … E… Es …“

„Du, was? Stotter nicht so rum.“

Ich knicke vor seiner festen Stimme ein. Mir kommt die ganze Situation mehr als bekannt vor. Damals war es ganz genauso, jedes Mal, wenn ich mit ihm reden wollte, hat er mich auf diese Art und Weise zurückgewiesen. Nur scheint er jetzt seine stille Art abgelegt zu haben, sondern hat keine Scheu mehr, auch mal auf jemanden zuzugehen und ihn zu beleidigen. Beziehungsweise mich. Nathan scheint sich kein Stück geändert zu haben, wenn, dann ist er schlimmer geworden.

„I-Ich wollte dir nicht folgen“, erkläre ich unsicher meine Situation. „Ich … Es tut mir leid.“ Es bringt sowieso nichts. Wenn er nicht merkt, dass ich ihm gefolgt bin, dann muss er dumm sein und das war er damals nicht und heute ist er es mit Sicherheit auch nicht.

Kurz gafft er mich einfach nur mit etwas zusammengekniffenen Augen an und von hier unten sieht er noch bedrohlicher aus. Vor allem, weil es immer dunkler wird und so nimmt seine Aura noch mehr an Dunkelheit zu. „Hat Eduard dich geschickt?“, fragt er schließlich giftig.

Ich blinzle. „Eduard? Nein, ich – niemand hat mich geschickt.“

Er scheint mir direkt in die Seele zu blicken, um herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage. Dann dreht er sich etwas und zieht sich wieder die Kapuze über. „Du solltest besser verschwinden. Das ist keine Gegend für kleine Mädchen wie dich.“ Dann geht er auch schon wieder über die Straße.

Ich stehe auf und sehe mich um. Er hat recht. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich hier noch nie war, und gleichzeitig sieht es mehr als gruselig auf. Es sieht so viel anders aus als die Straßen zu Hause. Schnell schultere ich meine Tasche und gehe um das Auto rum. „Wo bin ich hier?“, rufe ich Nathan hinterher, der kurz davor ist, um die Ecke zu verschwinden. „Ich weiß nicht, wie ich wieder zurückkomme!“

„Nicht mein Problem! Die Scheiße hast du dir selbst eingebrockt!“

„Bist du schon aufgeregt?“, fragt mich meine Mutter, als wir beide am Montagmorgen um halb acht aus dem Auto steigen, um in das Hotel meines Grandpa zu gehen.

Ich richte mir den Kragen meines weißen Hemdes und folge ihr durch den Eingang. „Ich weiß nicht, vielleicht ein wenig.“

Uns beiden werden die großen Eingangstüren von zwei Pagen geöffnet und wir betreten das riesige Gebäude. Ich war zwar schon öfter im Ealswirth-Hotel, aber es beeindruckt mich doch jedes Mal wieder. Man sieht sofort, dass mein Grandpa viel Geld hier reingesteckt hat. Dadurch sind auch keine einfachen Leute hier, sondern Menschen mit einem gewissen Kontostand.

Mama und ich gehen durch die Lobby zur Rezeption, wo schon eine junge Frau in der typisch dunkelblauen Hoteluniform steht und uns anlächelt. „Guten Morgen. Wissen Sie zufällig, wo sich mein Vater rumtreibt? Er … ach, da ist er ja schon.“

Mein Grandpa kommt in einem Anzug um die Ecke und lächelt uns zu. Er ist eine der nettesten Personen, die ich kenne, dafür liebe ich ihn so. „Ein guter Hotelfachmann kommt nie unpünktlich“, erklärt er und stellt sich zu uns. „Merk dir das, Marie“, sagt er zu mir und wir drücken uns liebevoll. Grandpa nennt mich mit Grandma als Einziger Marie. Warum weiß niemand, er macht es einfach.

„Natürlich, Grandpa“, sage ich und stelle mich von Mama zu ihm.

„Dad, bitte übertreibe es nicht mit den Aufgaben“, sagt meine Mutter zu ihm. „Das ist heute ihr erster Tag, sei gnädig. Und du weißt ja, dass sie eine Hausstauballergie hat, also lass sie am besten nicht in den Keller. Außerdem …“

„Diana“, unterbricht Opa sie. „Ich kenne meine Enkelin genauso gut wie du. Wir schaukeln das schon. Geh nach Hause und … Tu das, was du auch immer tust.“ Er legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich in einen Flur. „Schönen Tag noch!“

Ich sehe über meine Schulter zu Mama, wie sie durchatmend an der Rezeption steht und uns gereizt hinterhersieht. Sie und Grandpa hatten schon immer ein seltsames Verhältnis. Er ist mehr der gelassene Typ und sie ist ein Perfektionist. Das sorgt oft für Reibereien, doch natürlich wird sich nie ernsthaft gestritten. Manchmal ist es ganz lustig, wie Opa sie auf den Arm nimmt, weil sie oftmals wirklich übertreibt. Da kommt er einem viel jünger vor als sie.

„Du kennst dich hier ja schon aus, deswegen können wir uns den Rundgang sparen“, meint Grandpa und setzt sich seine Brille richtig auf die Nase. „Hast du schon gefrühstückt?“

Ich nicke. „Ja, ausgiebig.“

„Schade. Du hättest dich an dem riesigen Frühstücksbüfett bedienen können.“

„Aber ich soll doch arbeiten.“ Ich lache.

„Hach, deine Mutter muss das ja nicht wissen. Ich gestalte dir die paar Wochen hier schon erträglich. Also möchtest du sicher nichts essen? Denn sonst muss ich dir wohl oder übel eine Aufgabe geben.“

Ich schmunzle. „Ich habe wirklich keinen Hunger.“

Er seufzt. „Na schön.“ Er öffnet eine große Eisentür und wir stehen in einer riesigen Halle. Das ist die Veranstaltungshalle, in der Silvester und das Sommerfest stattfinden. Es gibt dann jedes Mal ein prächtiges Feuerwerk und die Feiern hier sind einfach die besten. Auch, wenn ich nicht in diesem Hotel arbeite, gehe ich gerne zu diesen Festen.

„Weil bald Silvester ist, muss die Halle ein wenig aufgemotzt werden“, erklärt Grandpa und wir gehen durch den riesigen Raum. „Darum wirst du dich hauptsächlich kümmern.“

„Allein?“, keuche ich entsetzt.

„Natürlich nicht, mein Schatz. Du hilfst meinen Angestellten beim Aufbauen und dem ganzen Kram, die erklären dir das alles schon. Der Hausmeister sollte hinten in der Küche sein, ihn kannst du fragen, was du machen sollst.“ Er geht auf ein paar Schalter an der Wand zu und drückt mehrere Knöpfe, damit viele Lichter in der Halle angehen und erst jetzt ist die ganze Größe zu erkennen. „Kann ich dich hier allein lassen?“

„Ja, das sollte kein Problem sein“, sage ich und sehe mich in der großen Halle um.

„Gut. Ruf mich einfach an, wenn du was brauchst. Und vergiss nicht, Pause zu machen. Du kennst die Zeiten.“

Ich nicke lächelnd. „Versprochen, Grandpa.“

Er lächelt zurück. „Ich bin mir sicher, dass ich mich auf dich verlassen kann. Wir sehen uns spätestens in der Mittagspause, klar?“

„Klar.“

Dann verschwindet er aus der großen Halle und ich stehe allein hier. Er meinte, der Hausmeister stehe in der Küche, also sollte ich dort wohl als Erstes hingehen. Deswegen gehe ich durch die Halle zu der Küche, in der ebenfalls Licht brennt. Ab und zu hört man jemanden werkeln. Ich gehe durch einen kleinen Flur und sehe in der Küche einen Mann auf dem Boden liegen, der mit seinem Oberkörper gerade unter einer Spüle steckt.

„Hallo?“, frage ich, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Plötzlich ertönt ein lauter Knall und darauf ein lautes „Fuck!“. Er kommt unter der Spüle hervor und sieht zu mir.

Und mir stockt sofort der Atem.

Nathan sieht mich mit der Hand am Kopf reibend, vernichtend an. „Danke für die scheiß Kopfschmerzen.“ Er scheint mich noch nicht erkannt zu haben. Nehme ich zumindest an, denn sonst hätte er wahrscheinlich anders reagiert.

„Tut mir leid“, piepse ich, als er aufsteht und in seiner ganzen Größe drei Meter von mir entfernt steht.

Kann es eigentlich noch mehr Zufälle geben? Erst begegne ich ihm in der Apotheke, dann rettet er mir in der Stadt das Leben und jetzt arbeitet er auch noch in dem Hotel meines Grandpas. Ich bin mir nicht sicher, wie ich damit umgehen soll. Sollte ich mich freuen, dass ich ihn vielleicht so besser kennenlernen kann, oder sollte ich Angst haben, dass er mich wieder beleidigt?

Er fährt sich kurz durch die nach oben gestylten Haare und mir fällt auf, dass ich ihn das erste Mal ohne Kapuze sehe. Eigentlich ist er attraktiv. Breite Schultern, schmale Hüften, markantes Kinn. Ich habe noch genau dieses kindliche Bild von ihm vor meinen Augen und heute steht ein erwachsener Mann mit Bartstoppeln vor mir. Es hat sich viel an ihm verändert, nur seine Augen sind genauso dunkel, wie damals. „Bist du Marie?“, fragt er mich, als ich kein Wort aus mir rausbekomme.

Ich nicke wie betäubt, erschrocken davon, dass er meinen Namen ausgesprochen hat.

Er legt seinen Schraubenschlüssel auf die Kochablage und wischt sich kurz mit der schmutzigen Hand über die Stirn, wo sich ein wenig Schweiß gebildet hat, während er auf mich zukommt.

Ich schrecke zusammen und gehe ihm sofort aus dem Weg, als er an mir vorbeigeht, weil er mir einfach auf eine gewisse Art und Weise Angst macht. Anscheinend ist Nathan es dennoch gewohnt, dass die Menschen so auf ihn reagieren, denn er geht gelassen weiter. Ich sehe ihm verwirrt hinterher. „Soll ich dir folgen?“, traue ich mich zu fragen.

„Was glaubst du denn?“

Schnell folge ich ihm durch die Halle. Er hat mich nicht mal erkannt und trotzdem ist er so unfreundlich. Anscheinend ist er zu jedem giftig. Wie kann Grandpa ihn hier arbeiten lassen, obwohl er so ein Stinkstiefel ist? Ob er sich vor Kunden auch so widerlich verhält?

Nathan öffnet eine Tür an der Wand und holt eine Art Staubsauger heraus und stellt ihn vor mir ab. „Du wirst die ganze Halle saugen.“

Ich blinzle und sehe den Staubsauger an. „Die ganze Halle?“

„Ja, die ganze Halle.“ Er geht wieder in den Raum und holt einen Eimer mit einem Putzlappen heraus. „Und danach wirst du die ganze Halle putzen.“

„Das werde ich alleine nie schaffen“, fiepe ich und sehe ihn entsetzt an.

Er verdreht die Augen und schließt die Tür. „Ich werde dir bei der Scheiße ganz bestimmt nicht helfen, ich habe selbst zu tun. Und … Moment mal.“ Nathan betrachtet mich etwas eindringlicher und ich sehe sofort weg. „Du bist doch … Ich fass es nicht. Verfolgst du mich?“

„Nein!“, platze ich sofort raus. „I-Ich … mein Grandpa ist der Inhaber des Hotels und … Ähm, ich soll hier über die Ferien arbeiten.“

Nathan sieht mich skeptisch an und scheint zu überlegen, ob ich die Wahrheit sage oder nicht. Wenn ich er wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso unsicher. Ich komme mir selbst vor wie eine Stalkerin. „Wie auch immer“, sagt er schließlich gleichgültig und geht wieder. „Mach einfach deine Arbeit.“

Mit zusammengepressten Lippen sehe ich auf den Staubsauger und den Putzeimer. Okay, ich habe entschieden, dass ich es besser finden würde, wenn Nathan nicht da wäre. Ich hätte eher eine freundliche Begrüßung geschätzt als so pampige Worte von ihm, auch wenn ich weiß, dass das normal bei ihm ist. Wenigstens hier hätte er doch netter sein können. Ich kenne wirklich keinen einzigen Menschen, der je so barsch mit mir umgegangen ist.

Argwöhnisch nehme ich den Stiel des Staubsaugers in die Hand und suche das Kabel, um Strom zu bekommen. Ich möchte sofort wieder nach Hause. Nicht, weil ich keine Lust habe zu arbeiten, sondern einfach, weil Nathan mir so ein ungutes Gefühl vermittelt. Als ich nach fünf Minuten immer noch kein Kabel finden kann, bin ich dazu gezwungen, Nathan zu rufen. Ich habe kurz überlegt, Grandpa anzurufen und zu fragen, aber dann würde ich mir doof vorkommen.

Nathan kommt mit schweren Schritten aus der Küche und ich höre ihn schon von Weitem fluchen.

„Ich finde das Stromkabel nicht“, erkläre ich kleinlaut und zeige auf den Staubsauger.

Schweigend geht er darauf zu und drückt einen Knopf, woraufhin der Sauger anspringt.

Oh. Das hätte ich auch selbst finden können. Beschämt sehe ich von ihm weg und bin froh, jetzt nichts mehr sagen zu müssen, da der Staubsauger so laut ist.

Gereizt dreht er sich wieder um und will gerade weggehen, da geht der Staubsauger aus. Er dreht sich erneut zu mir und scheint mir mit seinen Augen vorzuwerfen, dass ich ihn ausgemacht hätte.

„Ich war das nicht!“, sage ich sofort. „Er ist einfach ausgegangen!“ Ich knie mich nach unten und drücke den Knopf. Nichts passiert. Ich drücke ihn erneut, und wieder und wieder. Er geht einfach nicht mehr an.

„Klasse“, knurrt Nathan und atmet tief ein und aus.

Als wäre es meine Schuld, sehe ich ihn entschuldigend an, obwohl ich dafür genauso wenig kann wie er. „Was soll ich jetzt machen?“

Kurz überlegt er, dann dreht er sich wieder weg und geht zur Küche: „Komm mit mir.“

Ich lege den Staubsauger beiseite und folge ihm gehorsam. Ich frage mich, welchen Posten er wirklich hier im Hotel hat. Er sollte jetzt neunzehn Jahre alt sein, normalerweise ist man da doch noch kein Hausmeister. Zumindest nicht allein. Es muss noch einen älteren, erfahreneren Hausmeister hier geben. Vielleicht ist Nathan auch nur Aushilfe. Schon wieder bilden sich zehntausend Fragen in meinem Kopf wie zum Beispiel, welchen Schulabschluss er hat oder wie er zu diesem Job gekommen ist.

Wir kommen in die Küche und Nathan drückt mir einen Putzlappen in die Hand, ohne mich auch nur anzusehen, und setzt sich wieder an seinen alten Arbeitsplatz unter der Spüle. Er ist anscheinend kein Verfechter von vielen Worten.

„Soll ich etwas säubern?“, frage ich, weil er mir keine Anweisung gegeben hat.

„Offensichtlich.“

Ich muss einen Seufzer unterdrücken. Ihm fehlt jegliches Benehmen. Anscheinend hat er mich noch immer nicht als Honor erkannt und theoretisch bin ich für ihn irgendein fremdes Mädchen, doch trotzdem ist er so … so kalt. Wenn er Mädchen kennt, dann müssen sie ihn hassen. Hat er Freunde? Geht er vielleicht nur mit Mädchen so gemein um? Schon wieder so viele Fragen.

Als ich gerade den Putzlappen auf einer Kochplatte ansetzen will, ertönt wieder Nathans Stimme. „Vielleicht solltest du den Lappen nass machen und Putzmittel benutzen, denkst du nicht?“

Verwirrt sehe ich zu ihm. Er hat seinen Kopf noch immer unter der Spüle, doch selbst wenn er mich nicht sieht, ist er gemein. Doch eigentlich hat er recht. Nathan bringt mich so durcheinander, dass ich sogar mit einem trockenen Lappen sauber machen wollte. Ich gehe zu dem Waschbecken, wo er gerade nicht am Werkeln ist und mache den Lappen nass. „Wo sind die Putzmittel?“, frage ich und erwarte schon die nächste unfreundliche Antwort.

„Mach die Augen auf.“ Da stehen sie.

Ich sehe mich um und erblicke sofort mehrere Putzmittel, die auf dem Herd stehen. Ich gebe ein wenig davon auf den Lappen.

„War nicht so schwer oder?“

„Ja“, hauche ich leise und wische über die Kochplatte. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er etwas netter zu mir sein könnte, doch ich schweige. Jedes Mal, wenn ich es ihm früher gesagt habe, war er noch gemeiner und ich bin mir fast sicher, dass er sich in dieser Richtung genauso wenig geändert hat.

Für eine Weile arbeiten wir einfach schweigend vor uns hin. Und schließlich breche ich die Stille. „Ich heiße übrigens Honor.“

Er sagt nichts dazu.

Nachdenklich verziehe ich den Mund. Okay, ich darf nicht aufgeben, er kann mich nicht die ganze Zeit ignorieren. „Also eigentlich heiße ich Honor-Marie. Meinen Nachnamen kannst du dir vielleicht schon denken, wegen meinem Grandpa“, witzle ich und lache etwas. Weil er immer noch nicht redet, frage ich: „Darf ich vielleicht deinen Namen wissen?“

Ich höre, wie Nathan seinen Kopf aus der Spüle hervorholt und die Regaltür schließt. Er stellt sich hin, sodass ich ihn jetzt sehen kann. „Ich bin mir sicher, dass du ihn schon kennst“, meint er monoton und wirft sich einen Lappen über die Schulter, während er zur nächsten Spüle geht, was noch mehr Abstand in dieser riesigen Küche zwischen uns bringt.

„Woher sollte ich ihn wissen?“, frage ich und meine Stimme steigt ein paar Oktaven. Das passiert jedes Mal, wenn ich lüge. Ich bin eine grausame Lügnerin.

Nathan verdreht die Augen und verschwindet wieder in der Spüle. Er scheint Konversation wirklich zu hassen.

„Du heißt Nathan, oder?“, traue ich mich zu fragen.

„Du machst deinem Hobby als Stalker alle Ehre.“

Jetzt steht es fest. Er ist wirklich Nathan. Zwar war es mir die ganze Zeit schon klar, doch jetzt habe ich den direkten Beweis. Anscheinend hat er mich an meinem Namen nicht erkannt, doch ich muss unbedingt wissen, ob er sich an mich erinnert. Ich meine, ich war als kleines Mädchen wirklich oft bei ihm und die einzige Person, die Nähe zu ihm aufgebaut hat, er kann mich doch gar nicht vergessen haben.

„Wir waren früher in der Grundschule in der gleichen Klasse“, fange ich vorsichtig das Verhör an.

Wieder schweigt er.

„Vielleicht erinnerst du dich an mich … Sagt dir der Name Honor nichts?“

„Nein.“

„Verstehe“, sage ich leise und wische weiter über die Platte. „Aber vielleicht erinnerst du dich an, ähm, so ein kleines blondes Mädchen, das immer mit dir spielen wollte? Ich habe oft versucht, mit dir zu reden.“

Nathan stellt sich wieder hin und legt ein paar Schrauben auf den Tisch. „Sagt mir nichts.“ Er klingt so extrem desinteressiert, dass es fast wehtut.

Doch so schnell gebe ich nicht auf. Er muss lügen. Er muss sich an mich erinnern. „An deinem letzten Tag hast du mir Taschentücher geschenkt. Kannst du dich noch an Jimmy erinnern?“

Er scheint tatsächlich zu überlegen. Eine Falte bildet sich zwischen seinen Brauen, während er gerade mit einem Tuch über seinen Schraubenschlüssel wischt. Er sieht ernst aus, doch dann bildet sich ein spöttisches Grinsen auf seinen Lippen. „Natürlich. Honor. Du bist diese kleine Heulsuse.“

Bei jedem weiteren Wort, das er gesagt hat, ist mehr Hoffnung in mir gestorben. Toll. Er erinnert sich an mich, doch betitelt mich sofort als Heulsuse. Jetzt sieht mich nicht mehr der erwachsene Nathan an, sondern der kleine, gemeine Junge, der mich ständig beleidigt hat.

Ich nehme verletzt meinen Blick von ihm und sehe auf meine Hand, die schon zum millionsten Mal über dieselbe Stelle wischt. „Ja … Das bin ich. Heute bin ich nicht mehr so.“

Er lacht leise und ich erkenne Grübchen in seinen Wangen. Das ist das erste Mal, dass ich sie sehe, weil er früher nie gelacht hat. Wirklich nie. „Hast dich trotzdem kein Stück verändert“, spottet er.

„Was?“

„Du verfolgst mich immer noch und gehst mir auf den Sack.“

„Ich verfolge dich nicht!“, stelle ich klar. Ich kann doch nichts für Zufälle.

„Sich hinter einem Auto verstecken und mich beobachten, willst du also wie betiteln?“ Er hebt gehässig eine Braue.

Ich werde rot. Wenn man es so sieht, hat er recht. Ein wenig seltsam klingt das schon, aber ich wollte doch nur wissen, ob er wirklich Nathan ist. „Keine Ahnung“, sage ich beschämt. Er verschwindet wieder unter der Spüle und es entsteht erneut Stille. Ich überlege, ob ich ihm einfach ein paar Fragen stellen sollte. Mehr als unfreundlich sein, kann er sowieso nicht und das ist er auch, wenn ich ihm keine Fragen stelle. „Wieso bist du damals in der dritten Klasse gegangen?“

Weil Nathan schon seit fünf Sekunden nicht mehr antwortet, bereue ich meine direkte Frage sofort. Ein etwas leiserer Knall ertönt und Nathan stellt sich mit angespannter Miene wieder hin, schmeißt unsanft den Schraubenzieher auf die Spüle. Diese Frage gefällt ihm anscheinend überhaupt nicht, denn er sieht noch böser aus als vorhin.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten“, versuche ich, die Situation zu beschwichtigen. „Es ist nur …“ Ich hoffe, dass ich mich nicht weiter erklären muss, denn ich fühle mich mehr als unwohl.

„Es ist nur, was?“, giftet Nathan und scheint mich mit seinen grünen Augen töten zu wollen.

Beinahe ängstlich sehe ich ihn an. „Es hat mich einfach interessiert.“

„Es hat dich aber nicht zu interessieren, verstanden? Das ist meine Scheiße. Kümmere dich um deinen eigenen Dreck und hör endlich auf, irgendwelche beschissenen Fragen zu stellen.“ Er schmeißt die Tür der Spüle zu und ich schrecke wegen des plötzlichen Knalls zusammen. Wieder schmeißt er sich den Lappen über die Schulter.

„Tut mir leid.“ Ich knicke ein und sehe wieder schuldbewusst auf die Kochplatte.

„Mach die Scheiße hier fertig und dann geh jemand anderem auf die Nerven, ich bin ganz bestimmt nicht dafür zuständig, dich zu unterhalten.“ Und schon ist er aus der Küche verschwunden.

Man könnte behaupten, dass ein Mensch sich in seiner Entwicklungsphase verändert, doch Nathan ist noch genauso wie früher. Heute flucht er einfach nur mehr. Jetzt fehlt nur noch, dass ich weine, und es wäre ein perfektes Ebenbild von damals. Doch das mache ich nicht, auf keinen Fall, die Zeiten sind vorbei, egal, was er zu mir sagt. Ich bin mittlerweile eine achtzehnjährige heranwachsende Frau und so sollte ich mich auch benehmen. Nur fühle ich mich bei ihm immer noch wie ein kleines Kind, das viel zu neugierig ist.

Aber er muss doch verstehen, dass ich mich natürlich dafür interessiere, was damals passiert ist, und wieso er ständig Wunden auf seiner Haut hatte. Doch ich muss natürlich auch verstehen, dass ich ihn theoretisch gar nicht mehr kenne. Heute ist er wie ein Fremder für mich und ich bin für ihn ein Niemand. Ein nerviges kleines Mädchen. Wieso sollte er mir vertrauen? Ich nehme es ihm nicht übel, ich würde mir auch nicht vertrauen, immerhin kennen wir uns kaum bis gar nicht. Was habe ich auch erwartet, als ich ihn danach gefragt habe? Er wird mir kaum seine Lebensgeschichte auf dem Präsentierteller bieten.

Zwei Tage habe ich Nathan im Hotel kaum gesehen. Er spaziert den ganzen Tag durch das Gebäude und macht Dinge, die ein Hausmeister macht, und jedes Mal, wenn wir uns zufällig begegnen, verschwindet er ganz schnell. Er scheint mich wirklich nicht gerne in seiner Nähe haben zu wollen.

Bis ich ihn am Donnerstag in der Mittagspause in einer ruhigen Ecke im Hotelrestaurant sitzen sehe, während er gerade isst. Er scheint mich noch nicht gesehen zu haben, deswegen überdenke ich kurz meine Möglichkeiten. Entweder ich gehe mit meinem Teller zu ihm und esse mit ihm, kann wenigstens versuchen, ein Gespräch anzufangen, oder ich setze mich woanders hin.

Definitiv die erste Möglichkeit. Ich könnte ihn fragen, was er so in den letzten zwei Tagen gemacht hat oder wieso er mir ständig aus dem Weg geht, irgendetwas, aber ich will nicht mehr diese Spannung. Das macht mich einfach verrückt und setzt mir mehr zu, als es sollte.

Gestern bei der Probe mit Misses Baskin war ich noch unkonzentrierter als sonst, weil ich ständig an ihn denken musste. Doch allerdings nicht im guten Sinne. Ich habe einfach so viele Fragen, worauf ich keine Antwort weiß. Das macht mich verrückt.

Um uns herum sind viele Gäste, deswegen kann er gar nicht so pampig mit mir umgehen, wenn ich mich zu ihm setze. Eine gewisse Freundlichkeit sollte er – auch als Hausmeister – in einem Hotel schon ausstrahlen. Deshalb gehe ich mit meinem Salat zu ihm, beobachte ganz genau, ob er zu mir sieht oder nicht. Bisher hat er mich noch nicht entdeckt, er scheint in Gedanken zu sein.

Doch als ich meinen Teller genau vor ihn stelle und den Stuhl zurückschiebe, blickt er auf. Seine Miene ist verwirrt, doch wird dann schnell durch den üblichen Nathanblick ersetzt. Abweisung.

„Das kannst du vergessen“, meckert er sofort, als ich vor ihm sitze, und sieht mich vernichtend an.

Unschuldig wickle ich mein Besteck aus der Serviette. „Was meinst du?“

„Das da.“ Er zeigt mit seiner Gabel zwischen meinem und seinem Teller hin und her. „Ich esse allein, also setz dich woanders hin.“

„Aber ich kann mich hinsetzen, wo ich möchte.“ Ich piekse in meinen Salat und versuche, meine seriöse Miene beizubehalten und seine Worte nicht an mich ranzulassen. „Außerdem ist nirgends mehr Platz“, lüge ich.

Nathan atmet jetzt schon gereizt durch und legt seine Gabel auf seinen Teller. „Was zum Fick soll das? Hier ist genug Platz, also setz dich gefälligst auch woanders hin.“

„Du solltest vor den Gästen nicht so fluchen“, belehre ich ihn lässig und gehe seinem aggressiven Blick aus dem Weg.

„Und du solltest verschwinden.“

„Und du solltest vielleicht einen Antiaggressionskurs belegen.“

Er atmet wieder genervt aus und wischt sich durchs Gesicht.

„Ich tue doch nichts, als hier sitzen“, sage ich. „Ich werde dich nicht nerven. Versprochen.“

Kurz starrt er mich noch an, dann nimmt er genervt wieder seine Gabel und isst weiter. Ab und zu versuche ich, ihn heimlich zu beobachten und seine Bewegungen genau zu scannen. Es ist einfach höchst interessant, wie er sich bewegt und einfach vor sich hin lebt. Die Narbe, die er unter seinem Auge hat, sieht man nicht mehr so stark wie damals, doch sie ist noch gut sichtbar. Ich weiß noch, wie heftig die Wunde damals aussah, als sie frisch war. Es sah einfach nur grauenvoll aus, doch niemand wusste – natürlich –, wovon sie stammt. Niemand wusste allgemein etwas über ihn.

„Wo hast du eigentlich die Narbe unter deinem Auge her?“, frage ich, ohne nachzudenken, und bereue es sofort die Sekunde darauf.

Ohne mich auch nur ein weiteres Mal anzusehen, knallt Nathan seine Gabel auf den Teller, nimmt ihn und steht auf, verschwindet im Personalraum.

Ich drehe mich schnell um, um ihm wenigstens hinterherzurufen, dass ich es nicht so gemeint habe, aber dann taucht auch schon Grandpa vor meiner Nase auf.

„Na“, sagt er grinsend und setzt sich auf Nathans ehemaligen Platz. „Wie ich sehe, hast du schon mit Nathan Bekanntschaft gemacht.“

„Mehr oder weniger“, murmle ich und picke enttäuscht von mir selbst im Salat rum. Ich muss sachter an die Sache mit Nathan rangehen.

„Was ist los? Du wirkst müde. Willst du früher Schluss machen?“

Ich schmunzle Grandpa an. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich komme nur noch nicht ganz mit Nathan klar“, sage ich wahrheitsgemäß, weil Vertrauen in unserer Familie schon immer ganz oben stand, auch bei Opa.

„Nathan also.“ Er seufzt. „Ja, er ist ein sehr … spezieller Mensch.“

„Ein sehr spezieller Mensch?“ Verhält Nathan sich vor anderen Kollegen, sogar vor seinem Chef, auch so dreist?

„Na ja, er ist halt ein aufmüpfiger Bengel. Sehr aufmüpfig. Also wirklich sehr, sehr aufmüpfig.“

„Das habe ich bemerkt. Aber wieso hast du ihn überhaupt eingestellt, wenn er so unfreundlich ist? Ich meine, er ist ja wirklich nur unfreundlich.“

„Er ist billig und gut. Ich hätte nirgends einen so zuverlässigen Hausmeister bekommen können wie ihn, immerhin findet er sonst keinen Job, also arbeitet er hier für einen Hungerlohn. Dafür nehme ich gerne seine freche Art in Kauf.“

Grandpas Worte schocken mich beinahe. Er sagt das so gleichgültig, als wäre es Alltag, Leute so auszubeuten. Auch wenn es nur Nathan ist. Eine Sache steht auf jeden Fall schon mal fest. Er muss einen schlechten oder gar keinen Schulabschluss haben, wenn er sonst keinen Job bekommt.

„Wieso bekommt er denn keinen anderen Job?“

„Das kann ich dir nicht sagen, dazu bin ich nicht befugt, auch wenn du meine Enkelin bist“, lacht er.

„Hmm, okay. Und weißt du, wo er wohnt?“

Opa hebt eine Braue. „Marie.“

„Ja?“

„Du hast dich doch nicht verguckt, oder?“

Ich blinzle. „Was?“

„Du weißt schon, was ich meine“, lacht Grandpa wieder. „Verguckt, verknallt, verliebt, das, was Jugendliche eben so tun.“

„Um Gottes willen, nein!“, sage ich sofort und hebe beide Hände. „In Nathan absolut nicht. Er ist, wie gesagt, ein aufmüpfiger Stinkstiefel.“

Erleichtert wischt Grandpa sich imaginären Schweiß von der Stirn. „Gott sei Dank. Er ist wirklich nicht das, was ich dir wünschen würde. Vor allem nicht deiner Mutter.“

Ich verdrehe die Augen. „Wenn es nach Mama gehen würde, wäre ich sowieso für den Rest meines Lebens alleinstehend.“

„Sie will nur nicht, dass dich so ein Idiot wie Nathan verletzt. Ich kann sie da verstehen, du bist ein hübsches Mädel. Die Jungs müssen dir reihenweise hinterherrennen.“

„Grandpa“, lache ich. „Jetzt bleib mal auf dem Boden der Tatsachen.“

„Hach, in der Richtung bist du wie deine Mutter. Sie wollte auch nie einsehen, dass sie der Männerschwarm schlechthin war.“

Um halb sechs abends ziehe ich mir meine hellbraune Winterjacke an und dazu noch meine dicke Wollmütze. Ich bin nur froh, dass momentan kein Schnee liegt, also kann ich ohne nasse Füße nach Hause laufen. Ich verlasse mit dem Handy in der Hand das Hotel, um Mama eine Nachricht zu schreiben, dass ich pünktlich um sechs zum Essen zu Hause sein werde.

Bis mir jemand auf dem Parkplatz auffällt. Ich blicke auf und sehe Nathan, wie er gerade auf ein Motorrad steigt. Er hat ein Motorrad? Es sieht nicht wirklich billig aus, deswegen wundere ich mich, wie er es sich leisten kann, wenn Grandpa doch meinte, dass er nur für einen Apfel und ein Ei arbeitet.

Unmittelbar gehe ich zu ihm, stecke mein Handy wieder in die Jackentasche, ohne Mama zu schreiben. „Hey“, sage ich zu Nathan, der sich gerade den Helm aufsetzen will.

Er blickt zu mir auf und lässt den Helm wieder sinken. Argwöhnisch beobachtet er jeden Schritt, den ich ihm näher komme.

„Ich wusste gar nicht, dass du ein Motorrad hast“, versuche ich freundlich, ein Gespräch zu starten. Ich muss versuchen, so viel wie möglich aus ihm herauszubekommen.

„Du scheinst auch anscheinend nicht zu wissen, dass du mir auf die Nerven gehst, also wundert es mich nicht.“

Ich ignoriere seinen blöden Spruch und mustere das schwarze Gefährt unter ihm. „Das Teil sieht wirklich krass aus.“

Er hebt eine Braue. „Krass“, wiederholt er spöttisch.

„Ja, richtig fetzig!“ Ich bin dumm. „Ähm, ja, also einfach richtig cool.“

„Wunderbar“, meint er monoton und will sich wieder den Helm aufsetzen.

„Was ist das für eine?“, frage ich, worauf er den Helm wieder stöhnend sinken lässt. „Eine YUMAHA?“

Nathan lacht gehässig. „Yumaha. Du meinst wohl eher YAMAHA und nein, das ist keine YUMAHA.“

„Oh.“ Ich laufe sofort rot an. Was quatsche ich hier eigentlich? Ich blamiere mich mehr, als eine ordentliche Konversation mit ihm zu führen. „Meinte ich ja.“

Kurz wartet Nathan, ob ich noch etwas Blödes zu sagen habe, dann hebt er wieder den Helm zu seinem Kopf.

„Stop!“, sage ich schnell. „Ich, ähm, wo, äh, wo fährst du denn jetzt hin?“

Zum gefühlten hunderttausendsten Mal atmet Nathan heute gestresst durch. Für einen Moment sieht er mich nachdenklich an, dann sagt er: „Du scheinst wirklich interessiert an meinem Shit zu sein, oder?“

Unsicher zucke ich mit den Schultern. Eigentlich schon. Am liebsten würde ich alles wissen.

„Okay.“ Er dreht den Schlüssel seines Motorrads. „Steig auf und ich zeig dir ein wenig von meiner Welt.“

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