Читать книгу REMEMBER HIS STORY - Celine Ziegler - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление„Stop, stop, stop, stop, stop!“, ruft meine Violinlehrerin aus und hält sich entsetzt die Ohren zu.
Sofort nehme ich den Bogen von den Saiten und lasse die dunkelbraune Violine seufzend sinken.
„Das war grauenvoll, Honor.“ Misses Baskin schüttelt, sich die Brille von der Nase nehmend, mit dem Kopf. „Johann Sebastian Bach hat sich diese Violinsonate bestimmt nicht ausgedacht, damit du es mit deinen ständig davonschweifenden Gedanken falsch spielen kannst.“
„Tut mir leid“, sage ich kleinlaut. „Ich bin sehr unkonzentriert heute.“
Sie seufzt und streicht sich eine graue Strähne hinters Ohr. „Das mag sein, aber bald hast du das Vorspiel und du kannst es dir nicht erlauben, dich dort zu verspielen. Also noch mal, a-Moll.“
Tief durchatmend halte ich mir wieder die Violine ans Kinn und sehe auf den Notenzettel vor mir. Ich setze den Bogen an und spiele die ersten beiden Töne.
„Okay, stop!“, unterbricht Misses Baskin wieder das Stück. Ich lasse die Violine hängen und sie sieht mich streng an. „Honor-Marie. Das ist jetzt heute dein siebter Versuch und nicht mal die ersten zwei Töne triffst du. Was geht denn in deinem Köpfchen vor?“
Ich lasse mich erschöpft auf einen Hocker fallen und lege die Violine auf den Flügel neben uns. „Ich habe so Angst vor dem Vorspiel. Ich bekomme das Stück doch nie in den zwei Monaten hin … Es ist viel zu schwer für mich.“
„Das Stück ist vielleicht nicht das einfachste, ja, aber du willst die Jury doch von dir überzeugen, nicht wahr? Du musst dich konzentrieren. Und hör auf zu behaupten, dass du das nicht packen würdest. Rede dir das gar nicht erst ein, das machen nur Verlierer. Du bist kein Verlierer.“
„Dann würde ich es ja hinbekommen. Stattdessen verspiele ich mich immer und immer wieder.“
„Vielleicht sollten wir die Violine erst mal beiseitelegen.“ Misses Baskin steht auf und stellt sich an den Flügel. „Lass uns mit dem Flügel weitermachen. Eventuell brauchst du einfach mal Abwechslung. Komm, hopp, hopp.“
Ich stehe auf und verstaue meine Violine in meinem Violinenkoffer, auf dem Musafia eingestickt ist. Meine Mutter legt viel Wert auf gute Qualität meiner Musikausrüstung. Sie kauft keine Utensilien unter zweitausend Pfund, weswegen wir Stammkunden bei Musafia sind. Umso sorgsamer muss ich mit dem Koffer umgehen, deswegen schließe ich ihn vorsichtig. Ich setze mich an den Flügel und lege meine Notenblätter zurecht, um das vorgegebene Stück zu spielen.
„Okay, jetzt volle Konzentration“, befiehlt Misses Baskin und setzt sich wieder die Brille auf die Nase, damit sie die Noten auf den Zetteln lesen kann. „Setz dich bitte gerade hin. Ein gerader Rücken ist sehr wichtig.“
Sofort ändere ich meine Haltung und lege die Finger auf die Tasten. Ich weiß, dass ich es nicht hinbekommen werde. Heute ist ein Tag, an dem es mir schwerer als sonst fällt, mich zu konzentrieren. Da es in letzter Zeit oft gewittert und ich deswegen nicht schlafen kann.
Ich beginne, die Noten zu spielen, und bewege meinen Kopf zu der Melodie, lasse meine Finger über die weißen und schwarzen Tasten gleiten. Es wundert mich, dass Misses Baskin mich noch nicht unterbrochen hat, denn ich habe das Gefühl, dass ich mich gerade schon zum dritten Mal verspielt habe.
Im Moment passieren einfach zu viele Dinge um mich herum, die mich belasten, weswegen ich oftmals erschöpft bin. Bald mache ich meinen Abschluss an der Privatschule hier in Cardiff und die Prüfungen rücken immer näher. Ich schreibe gute Noten und hatte nie sonderlich viele Probleme in der Schule, doch es ist viel, was auf mich zukommt. Und da ich gerne an der Musikhochschule in Birmingham studieren würde, muss ich die Violine und den Flügel perfekt beherrschen können, weil ich in zwei Monaten dort das Vorspiel habe, das über meine Zukunft entscheiden wird. Entweder ich schaffe es oder ich schaffe es nicht. Das macht mir Angst und raubt mir so manchen Nerv, den ich eigentlich mehr als gebrauchen könnte.
Ich beende das Stück und sehe Misses Baskin erwartungsvoll an.
Sie schüttelt nur langsam mit dem Kopf und verzieht ihren faltigen Mund. „Eine Katastrophe.“
Sofort fallen meine Schultern wieder. Das ist wirklich eine Katastrophe.
Ich ziehe mir meine schwarzen Lederhandschuhe über und laufe dann mit meinem Violinenkoffer und meiner Schultasche aus der U-Bahn in die Stadt. Ich bin sehr froh, wenn ich endlich zu Hause bin. Es kommt oft vor, dass ich nicht vor sieben Uhr nach Hause komme, da mein Schulunterricht bis vier Uhr geht und ich vier Mal die Woche nach der Schule Violin- und Klavierunterricht habe. Ich bin froh, wenn in einer Woche endlich Weihnachtsferien sind und ich wieder meine Freizeit genießen kann. Wenigstens morgens ausschlafen und lange wach bleiben. Meine Zeit mit meinen Freunden verbringen und einfach wieder Spaß haben. Die letzten Wochen bestehen nur noch aus lernen, lernen und proben.
Ich betrete die Apotheke, um Beruhigungstabletten für meinen Vater zu kaufen. Er mag Gewitter auch nicht, deswegen braucht er nachts etwas, womit er ruhig schlafen kann. Ich lächle einer Verkäuferin freundlich zu und gehe dann zwischen die vielen Regale. Da ich schon genau weiß, wo die Tabletten stehen, greife ich danach und nehme gleich zwei Packungen, damit ich übermorgen nicht wieder nach der Schule hierherlaufen muss. Als ich gerade zur Kasse gehen will, piept mein Handy in meiner Jackentasche. Ich versuche all mein Gepäck fest zu halten, damit ich die Nachricht lesen kann. Meinen Violinenkoffer kann ich nicht einfach auf den schmutzigen Boden stellen. Fast fällt mir die Medizin aus der Hand, doch ich schaffe es gerade noch so, mein Handy hervorzuziehen.
Bring bitte noch Milch aus dem Supermarkt mit, Schätzchen. Mama
Seufzend will ich das Handy wieder in die Jackentasche meines Mantels schieben, da fällt mir doch die Medizin runter. Als ich mich bücke, rutscht mir fast das weiße Plakat unter dem Arm raus, doch ich arrangiere mich noch schnell.
Als ich zur Kasse gehe fällt mein Blick auf einen Jungen, der im selben Gang steht wie ich. Ich erkenne sein Gesicht nicht, da er eine Kapuze trägt und sich etwas von mir wegdreht, doch trotzdem entgeht mir nicht, dass er ab und zu mal wieder zu mir sieht. Er hält ein paar Medikamente in der Hand. Wer weiß, was er hat. Ich schultere meine Tasche wieder ordentlich.
Doch mir entgeht nicht, was der Junge gemacht hat, als ich mich gerade wegdrehen wollte. Er hat die Medikamente in seine Jackentaschen geschoben. Deswegen hat er so umher geguckt! Er wollte nicht erwischt werden.
Ich sollte ihn nicht so offensichtlich anstarren. Doch ich bin zu entsetzt. Er kann doch nicht einfach in einer Apotheke stehlen.
Keine Sekunde später sieht er wieder zu mir. Er merkt sofort, dass ich ihn dabei gesehen habe, wie er die Packungen eingesteckt hat. Kurz sehen wir uns einfach nur an. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Soll ich ihn verraten? Oder einfach so tun, als hätte ich nichts gesehen?
Schließlich setzt er sich als Erstes in Bewegung. Er steckt seine Hände in die schwarze Jacke und sieht mich die ganze Zeit an, während er auf mich zuläuft. Ich muss zugeben, dass er beängstigend aussieht. Da ändern auch die Locken nichts, die aus seiner Kapuze raushängen. Wie eingefroren bleibe ich auf der Stelle stehen und mein Herz pocht immer schneller, je näher er mir kommt.
Kurz bevor er bei mir ankommt und ich mir sicher bin, dass er mir etwas androhen wird, damit ich ihn nicht verrate, läuft er einfach an mir vorbei, als wäre nichts gewesen. Verwirrt drehe ich mich zu ihm um und beobachte, wie er ganz locker in Richtung Ausgang läuft. Die Verkäuferin an der Kasse beäugt ihn zwar misstrauisch, sagt dennoch nichts, denn er sieht wirklich nicht aus wie jemand, der sich nicht trauen würde, zu stehlen. Groß, schwarz gekleidet, böse Augen. Einfach einschüchternd. Kein Wunder, dass die Verkäuferin sich nicht traut, ihn aufzuhalten, ich traue mich immerhin auch nicht.
Die glasigen Schiebetüren öffnen sich und er läuft hinaus. Total perplex stehe ich noch in dem Gang und sehe ihm weiter hinterher. Er dreht sich etwas in meine Richtung und sieht über meine Schulter genau in meine Augen. Es fühlt sich an wie eine stumme Warnung, ihn jetzt besser nicht zu verraten.
Und es hat gewirkt. Ich bezahle meine Medikamente und laufe nach Hause.
„Papa! Mama!“, rufe ich durchs Haus, als ich die Haustür hinter mir schließe und meine Tasche mit dem Koffer ordentlich auf den Boden stelle. „Ich bin zu Hause!“
„Wir sind in der Küche, Liebling!“, ruft meine Mutter zurück und ich gehe mit den Tabletten und der Milch in die Küche.
Ich stelle die Milch zu Mama neben den Herd, an dem sie steht und gerade eine Suppe kocht, und küsse sie auf die Wange. Dann setze ich mich zu Papa an den Tisch, der mich erstarrt anblickt.
„Wie war die Probe?“, fragt Mama.
Ich spiele mit der Gabel neben meinem Teller rum und ignoriere Papas Blick. „Gut“, lüge ich. „Es könnte nicht besser laufen.“ Mama soll nicht wissen, dass ich mich ständig verspiele und hinterherhänge. Sie würde mich sonst nur noch öfter zu den Proben schicken, auch an den Wochenenden, anstatt mich etwas mit Freunden unternehmen zu lassen.
„Das freut mich.“ Mama stellt den Kochtopf auf den Tisch und setzt sich neben Papa, dem sie etwas in seinen Suppenteller schöpft.
Seine Augen sind immer noch groß, während er mich perplex anstarrt. „Wer bist du?“, fragt er leise.
Ich lächle ihm zu und schütte ihm Tee ein. „Honor, Papa. Deine Tochter.“
Sein Blick zeigt Verwirrung. „Meine Tochter?“
„Ja, Liebling“, sagt meine Mutter und streicht ihm liebevoll über die Hand. „Du scheinst noch viele Kopfschmerzen zu haben. Aber jetzt iss erst mal, ja?“
Kurz sieht er mich noch eindringlich an, dann nickt er wie benebelt und nimmt den Löffel in die Hand. Mama und ich beginnen ebenfalls zu essen.
Papa hat schon vor ein paar Jahren begonnen, dement zu werden. Es gibt Tage, an denen man es ihm kaum anmerkt und dann gibt es Tage – wie heute –, an denen er vergisst, dass ich seine Tochter bin. In der sechsten Klasse hat es angefangen. Mittlerweile habe ich mich schon daran gewöhnt, dass er mich vergisst und ich ihm immer wieder sagen muss, dass er tatsächlich mein Vater ist, doch es tut immer noch ein wenig weh, wenn das passiert. Es ist einfach traurig. An manchen Tagen wird er auch wütend. Er rastet einfach aus, weil ihm alles zu viel wird, doch das dauert oft nicht lange an, weil die Erinnerungen in seinem Kopf wie Flashbacks wieder zurückkehren. So hat es der Arzt zumindest beschrieben. Doch Mama und ich können damit umgehen. Es ist Alltag für uns und er ist trotzdem noch immer mein Vater, mit dem ich an manchen Tagen in seinem Zimmer sitze und seine Eisenbahnen aufbaue, während wir seine alten Platten auf seinem Plattenspieler hören.
Das Einzige, das alles nur schlimmer macht, ist, dass es nicht besser wird, eher jeden Monat schrecklicher. Manchmal vergisst er sogar Mama. Sie versucht dann, nie ihren Schmerz dahinter zu zeigen, doch ich merke es immer wieder. Es macht sie einfach traurig. Vor allem, weil er gerade mal sechsundfünfzig ist.
Während des Essens erzählt Mama von ihrer Arbeit im Krankenhaus und ich höre ihr neugierig zu. Ich räume den Tisch ab und sie sagt, als sie ins Wohnzimmer geht: „Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Was denn?“
„Hier.“ Sie holt eine Vase mit ein paar kleinen rosa Blumen hervor. „Ein Patient hat sie mir geschenkt und du kannst sie mehr gebrauchen als ich.“
Glücklich nehme ich ihr die Vase ab und drücke sie liebevoll. „Danke! Die sind echt schön.“ Sanft fahre ich über die rosa Blüten. „Das sind Bartnelken, solche habe ich noch nicht.“
„Dann kannst du ja von Glück reden, dass sie mir geschenkt wurden“, lacht Mama und setzt sich neben Papa auf die Couch, der gedankenverloren durch die Sender schaltet.
Ich trage erst die Blumen in mein Zimmer und hole dann meinen Violinenkoffer und meine Schultasche, um gleich noch Hausaufgaben machen zu können. Doch erst ziehe ich ein Buch aus dem Regal. Ich setze mich damit auf mein Bett und schneide die Köpfe der Blumen ab, um sie vorsichtig zwischen die Buchseiten zu legen, damit sie dort gepresst werden. Zufrieden stelle ich es wieder ins Regal.
Schon seit ich klein bin, presse ich Blumen und klebe sie dann in Bücher mit leeren Seite, um eine Art Album zu kreieren. Nur eben nicht mit Fotos, sondern mit Blumen. Ich habe mindesten schon zwanzig Stück davon und alle stehen in meinem Regal. Sie machen viel Arbeit, doch ich liebe es. Blumen sind, neben der Musik, meine große Leidenschaft. Meine Granny hat das damals mit mir gemacht, als ich klein war, und heute kann ich nicht mehr aufhören. Vor zwei Jahren ist sie gestorben, doch ich trage ihr Hobby weiter. Das verbindet mich irgendwie mit ihr.
Um Punkt zehn Uhr bin ich fertig mit meinen Hausaufgaben und gehe ins Bett, nachdem ich mir eine warme Dusche gegönnt habe. Die Abende sind meine tägliche Entspannung. Die Stunden von morgens bis abends um sieben sind mehr als anstrengend, weil ich diesen Stress nicht gewohnt bin.
Doch es muss sich auszahlen. Ich muss dieses Stipendium für die Musikhochschule in Birmingham einfach bekommen. Ich denke, dass ich es verdient hätte. Ich lerne wirklich hart, auch wenn es nicht immer klappt.