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Kapitel 4
ОглавлениеPerplex sehe ich ihn an. „Was?“
Er zieht sich den Helm auf und tritt den Ständer seines Motorrads weg. „Ich gebe dir keine zweite Chance. Tu’s oder lass es. Ich werde auf jeden Fall jetzt verschwinden.“
Okay, es muss jetzt ganz schnell eine Entscheidung her. Ich tu’s oder ich lass es. Er wird mir keine zweite Chance geben. Er will mir etwas von seiner Welt zeigen. Oh, mein Gott, vielleicht werde ich es so bereuen, aber schließlich packe ich meinen Mut und setze mich hinter ihn auf sein Motorrad.
„Schlechte Entscheidung“, ertönt Nathans Stimme über den Klang seines lauten Motors, während ich versuche, mich irgendwie hinter ihm zu arrangieren. Er gibt kurz im Stand Gas, sodass der Motor noch lauter aufheult und ich vor Schreck meine Arme sofort um seinen Oberkörper schlinge. Auch wenn er mich dafür wahrscheinlich hassen wird, dass ich ihm so nahe komme, fahre ich keinen Meter mit ihm mit, ohne an ihm festgekrallt zu sein. Ich riskiere keinen Schädelbruch.
Es vergehen keine weiteren zwei Sekunden und Nathan fährt los. Ich drücke mich noch enger an ihn, sodass ich mir sicher bin, er wird mich jeden Moment runterschmeißen, aber ich bin noch nie auf so einem Teil gefahren und das auch noch ohne Helm. Ziemlich unromantisch die ganze Sache. In Filmen gibt der Junge dem Mädchen immer den Helm, damit sie nicht verletzt wird, aber ich muss mir wieder klarmachen, dass das hier kein Film ist und meine Arme nicht um Zac Efron, sondern um Nathan Cort geschlungen sind.
Wenn meine Mutter mich nur sehen würde. Sie würde mich eiskalt zu Hause einsperren. Ohne Helm bei einem quasi Fremden auf einem Motorrad mitzufahren, ist vermutlich das Letzte, das sie sich erhofft hat, als sie mich ins Hotel zum Arbeiten geschickt hat. Allerdings war das auch nicht mein Plan. Nathan war definitiv nie mein Plan, aber mal wieder ist meine Neugier größer als meine Vernunft.
Ich habe das Gefühl, dass Nathan in Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt fährt, nur um mich zu ärgern, weil er spüren muss, wie sehr ich zittere, aber ich bin mir fast sicher, dass es mir nur so extrem schnell vorkommt, weil meine Mütze mir fast vom Kopf fällt und meine Haare sich im Wind verknoten.
Mit jedem weiteren Meter, den wir fahren, merke ich, wie abgelegener die Gegend wird, zu der er fährt. In der Straße, zu der ich ihm gefolgt bin, bin ich auch nie gewesen, aber diese Straßen sehen beinahe noch gruseliger aus. Vor allem, weil es fast dunkel ist. Ich hoffe nur, dass er mich dann wenigstens wieder nach Hause fährt und mich nicht erneut allein hier stehen lässt wie beim letzten Mal. Das war vielleicht ein Desaster.
Nathan hält vor einem Haus, das relativ … alt aussieht. Sehr schäbig und heruntergekommen, aber es spiegelt perfekt die Gegend wider. Schäbig und heruntergekommen. Ich fühle mich auf Anhieb unwohl.
„Lass mich los und steig ab“, befiehlt er, als ich noch immer wie eingefroren meine Arme um seinen Oberkörper geschlungen habe.
Sofort lasse ich ihn los und steige fast stolpernd ab, weil das Motorrad doch höher ist, als ich dachte, und außerdem bin ich wegen der Fahrt noch total durch den Wind. Mein Adrenalinpegel ist mehr als auf hundertachtzig und mein Herz pocht mir bis zum Hals.
Nathan zieht sich den Helm vom Kopf, hängt ihn auf seinen Lenker und wuschelt sich kurz durch die Locken, worauf sie wieder unverschämt gut sitzen. Er zieht den Schlüssel heraus und schwingt sein Bein von dem Gefährt, als wäre er der Höllenreiter höchstpersönlich. Alles ist so schwarz und gefährlich an ihm. Sogar sein Motorrad.
„Wo gehen wir jetzt hin?“, frage ich mit fiepender Stimme und versuche trotzdem, stark zu klingen. Ich darf mir meine Unruhe jetzt nicht anmerken lassen, es darf nicht so wie früher sein.
„Angst?“, fragt Nathan höhnend und lässt seinen Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden.
„Nein“, sage ich. Klinge aber viel zu ängstlich.
„Na gut, dann komm mit.“ Er geht zu dem alten Haus, ein paar Treppen nach oben.
Ich folge ihm mit unsicheren Schritten und versuche, meine Haare mit meinen Fingern zu kämmen, weil sie wirklich sehr verknotet sind. Sollte ich denn Angst haben?
„Wohnst du hier?“, frage ich Nathan, während er die Tür aufschließt.
Kurz lacht er auf. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dir zeige, wo ich wohne.“
Ich schweige. Natürlich zeigt er mir nicht, wo er wohnt, wäre auch zu viel verlangt. Nathan muss immer noch der Typ mit den tausend Geheimnissen sein.
Die Tür öffnet sich mit einem Klick und sofort kommt uns ein unangenehmer Nebel entgegen, gemischt mit widerlichem Gestank. Augenblicklich halte ich mir die Nase zu, während Nathan gelassen das Haus betritt. Das ist abartig. Wie kann er so tun, als würde dieser eklige Geruch einem nicht die Brauen wegätzen? Ich folge ihm in das Haus und man hört sofort Klänge von Rockmusik durch den kleinen Flur.
Mir die Nase zuhaltend, sehe ich Nathan hinterher, wie er durch den Flur in ein Zimmer geht, wo der Nebel rauskommt. Ich höre mehrere Stimmen. Ach du meine Güte. Das kann nur ein schlechtes Zeichen sein. Eilig folge ich ihm und bereue jetzt schon, dass ich mit ihm gekommen bin.
Ich betrete das Zimmer, das sich als Wohnzimmer rausstellt – mehr oder weniger –, und sehe, wie Nathan sich auf eine Couch fallen lässt, die um einen Tisch rum steht. Mir wird sofort klar, wovon dieser schreckliche Nebel kommt. Fünf Leute sitzen dort um den Couchtisch herum und rauchen.
„Wer’s das?“, fragt ein Kerl säuselnd mit schwarzen langen Haaren und mustert mich genauso wie der Rest der Bande, während ich total verspannt im Türrahmen stehe und mich sofort fehl am Platz fühle.
„Sie wollte euch unbedingt kennenlernen“, erklärt Nathan mit einer Zigarette zwischen den Lippen und zündet sie an.
„Dann wird sie uns kennenlernen“, raunt ein anderer der vier Kerle. „Setz dich zu uns, Hübsche“, ruft er zu mir rüber und klopft auf den freien Platz neben sich. „Wir beißen auch nicht.“
„Vielleicht“, fügt ein anderer hinzu und lacht darauf rau. Seine Stimme ist mehr als zerstört, ich nehme an, es kommt davon, dass sie ihre Zeit in Räumen verbringen, die so verraucht wie dieser sind.
Weil ich immer noch total perplex dort stehe, fragt Nathan spottend: „Was ist los, Honor? Sagtest du nicht, du willst meine Welt sehen?“
„Ja“, sage ich schwer schluckend und versuche, nicht zu viel von dem THC in der Luft einzuatmen. Ich raffe mich dazu auf, zu dem Tisch zu gehen.
Der Typ mit der kaputten Stimme klopft wieder neben sich und ich setze mich vorsichtig neben ihn, mit einem großen Abstand, weil er gruselig aussieht. Genauso wie der Rest. Einer der vier Kerle hat rot gefärbte Haare und eine Seite davon abrasiert und schwarz geschminkte Augen. Auf seinem Schoß sitzt ein Mädchen, ich würde sie auf nicht älter als ich schätzen, ihre Haare sind blau. Oder grün. Eine seltsame Farbe.
„Ich bin Connor“, säuselt mir der Typ neben mir zu und rutscht näher zu mir ran, legt seinen Arm um mich, worauf mich sofort eine Art von Ekel überkommt und ich mich gegen die Couchlehne presse, um seinem Mundgeruch aus dem Weg zu gehen. „Und du heißt Honor, huh?“
„Ich mag deine Haare“, nuschelt der Typ auf der anderen Couch neben uns und nimmt eine Strähne von mir in die Hand, wickelt sie um seinen Finger.
Mir schlägt das Herz bis zum Hals und ich fühle mich mehr als bedrängt. „Danke“, sage ich fast flüsternd und nehme ihm die Haarsträhne weg, versuche, meine Furcht nicht zu zeigen, doch es gelingt mir ganz und gar nicht.
„Und ich deine Haut“, sagt wieder der Typ mit dem Arm um mich rum und streicht mir mit seinem Zeigefinger und extrem schmutzigem Fingernagel über meine Hand.
Schnell drehe ich mein Gesicht weg und sehe Hilfe suchend zu Nathan. Er beobachtet die ganze Szene praktisch belustigt. Gleichgültig raucht er an seiner Zigarette und lehnt sich locker in den Sessel zurück.
„Magst du keine körperliche Nähe?“, fragt Connor und presst mich an seine Seite, sodass ich keine Chance habe, mich zu wehren. Er sieht beinahe wütend aus.
„Connor, lass sie“, sagt das Mädchen und funkelt ihn böse an. „Siehst du nicht, dass du ihr Angst machst?“
Connor sieht zu mir und zieht an seiner Zigarette. „Ist das so?“, fragt er und bläst mir den Zigarettenrauch ins Gesicht.
Schnell halte ich den Atem an und kneife die Augen zu. „Bitte“, krächze ich und versuche, mich aus seinem Griff zu winden. „Hör bitte auf.“
„Setz dich zu mir“, schlägt der Typ mit den langen schwarzen Haaren vor, der auf einem Stuhl sitzt, und klopft auf sein Bein. „Bei mir bist du sicher, Kleine … Ich verspreche es dir.“
Ich schaffe es, mich aus Conners Arm zu winden, und richte meine Jacke, quetsche mich erneut an die Lehne. „Schon okay“, hauche ich eingeschüchtert.
„Wo hast du die denn aufgegabelt?“, meckert Connor und sieht zu Nathan. „Noch langweiliger ging es nicht.“
„Willst du eine Zigarette?“, fragt mich leise der Typ rechts von mir und hält mir seine Schachtel entgegen.
Ich schüttle den Kopf.
Er runzelt die Stirn. „Was?“
„Ähm, ich rauche nicht.“
Nathan drückt seine Zigarette an der Sessellehne aus und sagt: „Ich habe sie nicht aufgegabelt, sie ging mir einfach nur ständig auf den Sack und hier nach wird sie mir nicht mehr auf den Sack gehen.“
„Wie, du rauchst nicht?“, fragt der Typ neben mir wieder leise, während Nathan mit den anderen redet.
Ich blinzle verwirrt. „Ich rauche halt nicht … Das ist sehr ungesund.“
„Ungesund?“, fragt er fast schon überfordert, als wüsste er nicht, was dieses Wort bedeutet.
„Ja … Das Nikotin ist sehr schlecht für deinen Körper.“
„Schlecht für meinen Körper“, wiederholt er perplex und nimmt die Schachtel zurück, starrt sie benebelt an.
„Ja“, meine ich irritiert. Anscheinend wusste er das nicht. Er sieht aus wie fünfundzwanzig, doch wirkt wie ein kleiner Junge.
Was ist nur los mit diesen Leuten? Sie wirken alle so befremdlich. Solche Leute wie hier sieht man normalerweise nur auf der Straße oder in Filmen. Ich gehöre hier nicht hin. Ganz und gar nicht. Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause beim Abendessen mit meinen Eltern, während ich ihnen von meinem Tag erzähle. Ich hätte nicht mit Nathan hierherkommen sollen, ich hätte es wissen sollen. Natürlich unterscheidet sich meine Welt stark von seiner, was hatte ich auch erwartet? Er ist verrucht, genauso wie die Menschen hier in diesem Zimmer. Sie strahlen alle das Gleiche aus. Diese rabenschwarze Aura.
Das Mädchen mit den grünen Haaren sieht mich an und ich wage zu behaupten, dass Mitleid in ihrem Blick zu erkennen ist. Der Typ, auf dem sie sitzt, sieht mich ebenfalls nur gleichgültig an, doch er scheint nicht wegsehen zu wollen.
„Hast du was von Eduard gehört?“, fragt der Kerl mit den langen schwarzen Haaren Nathan, der sich eine weitere Zigarette anzündet.
„Nein, habe ich nicht“, sagt Nathan genervt. „Fang nicht schon wieder mit der Scheiße an, ich kümmere mich darum.“
„Das hast du schon vor zwei Monaten gesagt.“
„Mir scheißegal, ich kümmere mich darum.“
Ich würde Nathan gerne fragen, wer dieser Eduard ist und was es mit ihm auf sich hat. Letztens in der Stadt hat er mich auch schon gefragt, ob Eduard mich geschickt hat. Doch es wäre sinnlos. Er würde ja doch nicht mit mir reden, sondern mich wieder beleidigend abblocken.
„Willst du mal ziehen?“, fragt mich der Typ wieder neben mir und hält mir ein langes Glasgestell hin. Ich betrachte es überfordert und er erklärt: „Das ist eine Bong. Keine Zigarette.“
Sofort gehen bei mir die Alarmglocken an. Eine Bong. Von einem Referat in der Schule weiß ich, dass diese Teile mit Drogen in Verbindung stehen und dass das noch viel schlimmer als Nikotin ist. „Nein, danke“, lehne ich deshalb ab.
Wieder nimmt der Typ verwirrt die Bong zurück. „Wieso? Rauchst du auch nicht Bong?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein … Ich nehme keine Drogen.“
„Jasper, gib’s auf“, lacht der Typ mit den schwarzen, langen Haaren. „Die Kleine ist mehr als langweilig. Reich das Ding mal durch.“
Der Typ neben mir, anscheinend heißt er Jasper, reicht nickend die Bong durch.
„Ich bin nicht langweilig“, verteidige ich mich, weil ich nicht ständig auf mir rumhacken lassen will. „Ich rauche einfach nur nicht und nehme keine Drogen. Daran ist nichts langweilig. Das ist Anstand.“
Connor lacht laut auf und nimmt dem Typ die Bong ab. „Wir scheißen auf Anstand, bei uns bist du scheiße langweilig.“ Er hält ein Feuerzeug daran und nimmt einen tiefen Zug, dann atmet er es aus und hustet. „Trinkst du wenigstens Alkohol?“
„Wenn es einen Anlass dazu gibt, ja.“
„Dann ist heute ein Anlass dazu“, säuselt Jasper und holt eine Glasflasche hervor mit durchsichtigem Inhalt und stellt sie auf den Tisch.
Ich schlucke schwer. Nein, heute ist definitiv kein Anlass dazu, Wodka zu trinken, dazu gibt es nie einen Anlass. Ich trinke höchstens mal Sekt auf Geburtstagen oder Familienfesten, aber doch keinen Schnaps.
Connor greift sich die Flasche und öffnet sie und nimmt einen kräftigen Schluck. Perplex beobachte ich ihn dabei. Ich würde mich danach sofort übergeben. Er setzt die Flasche ab und zischt auf. Anschließend hält er sie mir hin. „Hier.“
Schnell schüttle ich den Kopf.
„Was? Trink einen Schluck, ich dachte, du trinkst Alkohol.“
Ich beiße mir auf die Zunge. Ich will nach Hause. Mit meinen Augen bettle ich Nathan an, dass ich gehen möchte und ich mich mehr als unwohl fühle. Das hier ist vielleicht seine Welt, aber nicht meine. Doch Nathan sieht mich nur mit leicht erhobener Braue an, ihm scheint es total egal zu sein.
Mich trifft etwas an den Kopf, worauf ich sofort wieder zu Connor sehe, der mich erbost anblickt. „Trinkst du jetzt? Du nervst langsam mit deiner Scheiße. Stell dich nicht so an.“
„Wenn sie nicht will, dann lass sie“, sagt wieder das Mädchen. „Nicht jeder trinkt Wodka wie Wasser so wie du.“
„Halt endlich deine Fresse, Suzi“, stöhnt Connor. „Du gehst hier ebenfalls jedem auf den Sack, also einfach die Fresse halten.“ Er sieht wieder zu mir und hält mir erneut die Flasche hin. „Trink jetzt.“
„Nein“, traue ich mich zu sagen, doch es ist eher ein heiseres Wispern.
Plötzlich weiten sich seine Pupillen und seine Miene ist mehr als zornig. „Trink.“
Wieder schüttle ich den Kopf und rutsche weiter von ihm weg, weil er mir Angst macht. „Ich möchte nicht.“ Wieder sehe ich zu Nathan. Wie kann er einfach ganz ruhig zusehen und zulassen, dass Connor sich so verhält? Auch wenn er mich vielleicht nicht sonderlich mag, könnte er doch wenigstens sagen, dass er mich endlich mit diesem blöden Alkohol in Ruhe lassen soll.
„Du bist so fucking langweilig“, stöhnt der Typ mit den langen schwarzen Haaren und wirft eine leere Zigarettenschachtel nach mir, die mir in den Schoß fällt, worauf ich sie sofort runterschmeiße.
„Ich möchte einfach nicht rauchen und trinken“, versuche ich mich unsicher zu erklären. „Was ist denn so schlimm daran?“
Plötzlich taucht eine kleine Explosion vor meinem Auge auf, die mich leise aufkreischen lässt und ich sofort zusammenzucke. Entsetzt sehe ich zu Conner, der einfach genau vor meinem Gesicht sein Feuerzeug aufgedreht hat.
„Das ist das Problem“, sagt Connor und funkelt mich an. Seine Augen sind rot wie Feuer. Anscheinend zeigt die Bong ihre Wirkung. „Du bist eine verdammte Schisserin und das fuckt ab.“
„Es tut mir leid, aber …“ Wieder trifft mich etwas. Jasper hat ebenfalls seine Zigarettenschachtel nach mir geworfen und lacht jetzt lauthals. Was ist denn hier los? Was habe ich getan? Und wieso zum Teufel schreitet Nathan nicht ein?
Doch noch bevor ich Jasper die Schachtel zurückwerfen kann, spüre ich plötzlich eine unangenehme Kälte auf meinem Gesicht.
Connor schüttet mir den ganzen Wodka über den Kopf, während er heftig lacht.
Kreischend springe ich auf und versuche, mir den Wodka aus den Augen zu wischen, weil es brennt wie die Hölle. Und es stinkt. Und es ist kalt. Und es tut einfach weh. „Was ist nur los mit euch?“, frage ich zu laut für meine Verhältnisse in die Runde, während ich den widerlichen Geschmack des Wodkas auf meinen Lippen schmecke, der mich fast dazu bringt, mich zu übergeben. „Was habe ich euch getan?“
Connor wirft wieder lachend den Deckel der Wodkaflasche nach mir. „Halt’s Maul und heul nicht so rum. Du bist hier nicht weiter erwünscht, du machst alles nass.“
Wie vor den Kopf geschlagen, starre ich Connor an, dann sehe ich zu Nathan, der – zu meinem Entsetzen – lachend in seinem Sessel sitzt. „Und du willst nichts dazu sagen?“, brülle ich ihn an.
Er sieht mich amüsiert an. „Wozu?“
Ich würde ihm am liebsten den Kopf abschlagen. „Darüber, wie deine Freunde mit mir umgehen?“
„Mir doch egal, wie die mit dir umgehen. Dein Pech, wenn du dich verhältst wie die beschissene Jungfrau Maria.“
Mir klappt der Mund auf. Was fällt ihm ein? Mag ja sein, dass Nathan einen schlechten Charakter hat, aber selbst so etwas hätte ich ihm niemals zugetraut. Das ist unter aller Sau. „Du bist widerlich“, zische ich und gehe eingeschnappt um den Tisch herum, remple mit Absicht seine Beine an, die mir im Weg stehen. „Ich werde gehen.“
Auf hundertachtzig stürme ich aus dem Haus, ziehe mir währenddessen die durchnässte Mütze vom Kopf und stopfe sie angewidert in meine Jackentasche. Das ist das Allerletzte. Ich hatte viel erwartet, als ich auf Nathans Motorrad gestiegen bin, doch ganz bestimmt nicht das. Meine Mutter wird mich umbringen, wenn ich nach Rauch und Alkohol riechend nach Hause komme. Sie wird mich anbrüllen und ich bekomme Ärger, nur weil ich so naiv war und dachte, Nathan und ich könnten vielleicht Freunde werden.
Ich laufe die mittlerweile dunkle Gasse entlang und ziehe mir die nasse Jacke von den Schultern. Ich kann sie keinen Meter mehr tragen, sie widert mich nur noch an. Ich kann sie nie wieder tragen. Sie wird wohl im Müllcontainer landen. Dank Nathan. Dank seinen bescheuerten Freunden.
„Hey!“, ruft jemand nach mir, der eindeutig Nathan ist.
Doch ich ignoriere ihn und stampfe weiter. Er kann mich mal. Ich lasse mir diese Beleidigungen nicht mehr bieten. Ich wollte immer nett zu ihm sein, immer, doch er ist noch genauso gemein wie damals.
„Honor, jetzt bleib stehen, man!“, höre ich seine Stimme, die immer näher kommt.
Als ich gerade um die Ecke gehen will, zieht er an meinem Arm, worauf ich mich aufgebracht zu ihm umdrehe. „Was?“, schreie ich. „Was willst du?“
Er sieht mich ernst an. „Schrei mich nicht an, du hast dir die Scheiße selbst zuzuschreiben!“
„Ich habe es mir selbst zuzuschreiben? Ich habe nichts getan!“
Er lacht. „Wenn du nicht so beschissen langweilig wärst, würde dir der Mist gar nicht erst in den Haaren kleben.“
„Du meinst wohl eher, wenn ich genauso asozial wie deine Freunde wäre!“
„Nein, ich meinte, wenn du nicht so scheiße langweilig wärst“, sagt er locker.
„Wieso rede ich überhaupt noch mit dir?“, rufe ich aufgebracht und werfe die Hände in die Luft. „Es hat doch keinen Zweck!“
„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass du dich nicht für meinen Mist interessieren solltest.“
Erzürnt drehe ich mich von ihm weg und gehe in irgendeine Richtung. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, aber ich will einfach weg. Ich will von ihm weg.
„Wo willst du hin?“, ruft er mir hinterher und ich höre seine Schritte. „Du hast doch keine Ahnung, wo du bist!“
„Mir egal!“, rufe ich zurück und sehe nicht mal zu ihm. Ich bin froh, dass wir allein hier sind, denn Nathan ruft definitiv nicht die beste Seite in mir hervor. „Ich will einfach keine weitere Sekunde hier bei dir verbringen!“
„Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du mit mir gekommen bist, meinst du nicht?“
Diesmal ist er derjenige, der mir folgt, und ich diejenige, die ihn nicht in ihrer Nähe haben will.
Außer mir vor Wut drehe ich mich wieder zu ihm um.
Er ist ungefähr zwei Meter von mir entfernt. Er steht in der Dunkelheit, als wäre er dort geboren. Nathan passt perfekt hierhin.
„Ich hätte mir vielleicht auch vorher überlegen sollen, ob ich überhaupt auch nur einen einzigen Gedanken an dich verschwende!“, schreie ich ihm zu. „Ich wollte immer nur nett sein, Nathan, immer! Aber heute hast du mir einfach bewiesen, dass alles umsonst war, schon als ich klein war!“
„Ich habe dir tausend Mal gesagt, dass ich kein Bock auf dich habe, also rede hier nicht so einen Mist!“
Ungläubig schüttle ich den Kopf und drehe mich wieder um, gehe weiter geradeaus, spüre die Kälte, die meinen Kiefer zum Zittern bringt, weil die Nässe mich noch mehr zum Frieren bringt.
„Warum renne ich dir eigentlich hinterher?“, höre ich Nathan fluchen. „Sieh zu, wie du nach Hause kommst, ich habe dir gesagt, dass es eine beschissene Entscheidung war, mit mir zu kommen!“
Ein großer Teil von mir wusste, dass so was passieren würde, als ich auf Nathans Motorrad gestiegen bin, und ein anderer, kleinerer, dümmerer Teil hatte gehofft, dass man vielleicht leibhaftig mit ihm reden könnte und er mal kein arroganter Vollidiot ist. Schon seit einer Stunde frage ich mich selbst, wieso ich überhaupt zugelassen habe, dass er so viel Platz in meinem Kopf einnimmt.
Er hat mir doch schon als Achtjährige ständig wehgetan, wieso lasse ich das selbst zehn Jahre später noch zu?
Nathan ist ein arroganter Mistkerl mit einem riesigen Ego und so jemanden sollte ich nicht in mein Leben lassen, vor allem, wenn er mich schon zum zweiten Mal allein in der Kälte lässt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, mein Handy ist kaputt durch den Wodka und ich stinke nach Alkohol, außerdem friere ich mich beinahe zu Tode, weil meine Haare einfach nicht trocknen wollen.
Schlechte Entscheidung hat er gesagt, als ich mit ihm gekommen bin. Hätte ich doch nur auf ihn gehört. Mittlerweile ist es schon nach neun Uhr und meine Eltern werden stinksauer sein, weil ich nicht mal Mama geschrieben habe. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Polizei rufen, wenn ich nicht vor zwölf Uhr zu Hause bin. Meine Mutter ist in solchen Fällen sehr pingelig, dennoch wäre es mir recht, wenn sie nach mir suchen würde, denn ich bin mir sicher, dass meine Haarspitzen bereits Eispartikel bilden vor lauter Kälte.
Ich presse meine Knie noch enger an meine Brust und lege meine mittlerweile nur noch halbnasse Jacke über mich. Den Wodkageruch ignoriere ich einfach, indem ich nur durch den Mund atme und an etwas Schönes denke.
Blumen. Ja, Blumen. Ich stelle mir vor, ich würde in einem Blumenbeet liegen und ein paar davon in mein Buch kleben, das ich Papa zum Geburtstag schenken möchte.
Ich schrecke auf, weil plötzlich ein lauter Motor gemischt mit quietschenden Reifen auf der Straße neben mir ertönt.
Ich erkenne erst Nathans Gestalt, als er stehen bleibt und sein Licht ausschaltet, das direkt in meine Richtung geleuchtet hat. Er zieht seinen Helm ab, stemmt sein Motorrad auf den Ständer und kommt auf mich zugestampft. Nathan sieht mehr als zornig aus.
Ich wende mich von ihm ab und beachte nicht mal ansatzweise seinen wütenden Ausdruck. Er beeindruckt mich damit nicht mehr, für mich ist er nur noch lächerlich.
„Hast du Connors Brieftasche geklaut?“, fragt er mich aggressiv und stellt sich einen Meter von der Bank hin.
Ich sehe ihn ungläubig an. Das kann doch nicht sein Ernst sein. „Wie bitte?“
„Du hast mich verstanden“, zischt er. Selbst durch die Dunkelheit kann ich das Düstere in seinen Augen erkennen.
„Warum sollte ich seine Brieftasche stehlen?“
„Um dich zu rächen, um … keine Ahnung, mir scheißegal. Sag einfach, ob du sie hast oder nicht.“
„Natürlich habe ich sie nicht! Ich habe es nicht nötig zu stehlen, frag lieber mal den Rest deiner netten Freunde!“ Vor lauter Kälte wieder zitternd, ziehe ich mir die Jacke enger um den Körper und lasse mich mehr in die Bank sinken. „Und jetzt lass mich allein. Ich habe Besseres zu tun, als mich mit dir zu unterhalten.“
Nathan lacht feindselig auf und verschränkt die Arme. „Das sehe ich. Du stinkst bis hier hin und siehst gleichzeitig noch beschissener aus, als ich dachte.“
„Wow“, sage ich halb lachend und sehe von ihm weg. „Selbst in Momenten wie diesen bist du noch so.“
„Wie?“
„Gemein.“
„Gemein“, amüsiert er sich.
Ich sehe ihn giftig an. „Ja, gemein. Und damit du mich nicht länger ertragen musst, kannst du jetzt gehen. Du hast es geschafft. Ich will definitiv nichts mehr von dir wissen.“
„Das ging einfacher als gedacht“, lacht er und setzt sich neben mich, allerdings mit großem Abstand.
Entsetzt blicke ich zu ihm. „Was wird das? Willst du jetzt plaudern, mich noch mehr beleidigen? Ich will nicht, dass du hier bist, schon vergessen?“ So zickig kenne ich mich gar nicht. Ich würde niemals mit jemandem so respektlos reden, doch vor Nathan habe ich einfach keine Achtung mehr. Zwar weiß ich immer noch nicht, was damals in seiner Kindheit passiert ist, doch ich möchte ihn einfach aus meinem Leben streichen. Er hat mich enttäuscht.
Jetzt sieht er spottend zu mir. „Ich bin gemein, schon vergessen? Wieso bist du überhaupt hier? Hast du keine überfürsorglichen Eltern, die dich suchen?“
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, meckere ich und rutsche weiter von ihm weg, ganz an den Rand, sodass ich beinahe auf dem Boden lande, doch das ist mir egal. In seiner Nähe fühle ich mich mickrig und ich mag dieses Gefühl nicht.
„Also was hast du vor? Hier die Nacht verbringen?“
„Das geht dich nichts an. Geh und kümmere dich um … Keine Ahnung. Nehm deine Drogen und rauch deine Zigaretten, aber lass mich einfach in Ruhe.“
„Du hast recht“, sagt er und greift in seine schwarze Jacke, holt eine Packung Zigaretten hervor. „Ich könnte tatsächlich eine rauchen.“ Er steckt sich den Krebsstängel zwischen die Lippen und sieht mich an. „Du hast nicht zufällig Feuer?“
Ich sehe ihn nur mit zusammengekniffenen Augen an.
„Dachte ich mir schon“, nuschelt er gleichgültig und greift in seine Hosentasche, holt ein silbernes Feuerzeug hervor, zündet damit die Zigarette an. „Willst du auch eine?“
„Sag mal, was soll das werden?“, frage ich genervt und ignoriere seine dumme Frage. „Willst du mir den Abend noch unerträglicher machen? Denkst du nicht, dass du und deine Freunde mich schon genug bloßgestellt habt?“
„Ich tue doch nichts, als hier sitzen. Wenn du meinst, wie ein Penner hier zu schlafen, dann kann ich dafür auch nichts. Das ist ein öffentlicher Platz.“ Er kann wirklich kaum einen Satz sagen, ohne mich nicht zu beleidigen. Anscheinend hat er das schon richtig drauf. Ihm kommen die Sätze flüssig von der Zunge, als hätte er jahrelang nichts anderes gemacht. Oh, stimmt ja, er hat schon damals jahrelang geübt.
Doch es macht sowieso keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Er ist arrogant und überheblich, mit einem riesigen Ego. Wie soll man auch mit so jemandem normal reden können?
„Okay“, sage ich beinahe erschöpft und lege mich auf die Seite, doch mache mich so klein, wie ich kann, damit ich ihm nicht zu nahe komme. „Dann sei wenigstens still.“ Seufzend schließe ich die Augen und wünschte, ich würde in meinem warmen Bett liegen.
„Du willst ernsthaft hier pennen? Das ist beinahe lustig“, höre ich seine tiefe Stimme.
„Sei bitte still. Ich will einfach nur die Nacht rumbekommen.“
Nathan lacht leise brummend und ich höre, wie er an seiner Zigarette zieht und den Rauch ausatmet. „Wenigstens gehst du mir auf der Arbeit nicht mehr auf den Sack.“
„Allerdings“, sage ich. „Ich werde nicht mehr dort arbeiten.“
Nach einer kurzen Pause fragt Nathan: „Wieso?“
„Wegen dir. Ich will nicht mit dir zusammen arbeiten müssen, nach dem, was du mit mir gemacht hast.“ Ich erschaudere kurz, weil ich wirklich sehr friere. Die Kälte beißt sich quasi durch meine Jeans.
„Du bist also doch noch die gleiche beschissene Heulsuse wie damals“, gibt Nathan locker zurück.
Ich setze mich erbost wieder auf und sehe ihn an. Mir ist egal, wie schlimm ich aussehe. „Ich bin keine Heulsuse, hör auf, das zu behaupten!“
Er sieht mich mit erhobener Braue an und zeigt auf mein Gesicht. „Und was ist das?“
Ich wische mir verwirrt über die Wange und muss tatsächlich feststellen, dass mir die Tränen fließen. Zornig über meine eigene Schwäche, die Nathan wieder in mir hervorruft, presse ich die Lippen aufeinander und schwinge mich schnell von der Bank. Einen Schluchzer unterdrückend binde ich mir die Jacke enger um den Körper und gehe von der Bank weg.
„Jetzt rennst du heulend weg?“, ruft Nathan mir hinterher und ich höre, wie er aufsteht.
„Lass mich einfach in Ruhe!“, rufe ich schließlich doch weinend zurück und gehe einen Schritt schneller in irgendeine Richtung. Hauptsache, von ihm weg. „Du bist einfach ein Arsch!“ Ich biege um eine Ecke und nach ein paar Momenten höre ich Nathans Motorrad hinter mir auf der Straße immer näher kommen. Ich ignoriere ihn, als er langsam neben mir herfährt.
„Jetzt hör auf zu heulen!“, ruft er mir zu. „Ich fahr dich nach Hause!“
Ich schüttle den Kopf und gehe weiter geradeaus. „Vergiss es, ich gehe nirgends mit dir hin!“
„Hör auf, so stur zu sein, und tu es einfach, man!“
„Warum? Willst du mich wieder irgendwo hinbringen, damit einer deiner anderen Freunde mich anzünden kann?“
Nathan stöhnt auf und stoppt den Motor. Während ich weiter von ihm weggehe, steigt er von dem Motorrad und läuft mit schnellen Schritten zu mir. Er packt mich unsanft um die Taille und trägt mich beinahe schon zu seinem Gefährt.
„Was soll das?“, fluche ich und will mich aus seinem Griff befreien, während er mich auf seinem Motorrad absetzt.
Ich will gerade runterspringen, da hält er mich fest an den Schultern und sieht mich böse an. „Ich warne dich. Bleib verdammt noch mal sitzen.“
Wie vor den Kopf geschlagen, schweige ich. Dieser dunkle Schein in seinen Augen hat wohl doch noch diese Wirkung auf mich, die mich einschüchtert. Doch ich frage mich, wieso er das überhaupt macht. Er muss etwas aushecken.
„Und hör endlich auf zu flennen“, murrt er noch und setzt sich den Helm auf, steigt auf das Motorrad.
Ich schniefe daraufhin leise. „Du weißt nicht, wo ich wohne.“
Er nimmt das Motorrad vom Ständer. „Doch, weiß ich. Halt dich fest.“
Ich weigere mich.
Gestresst greift er nach hinten zu meinen Armen und legt sie um seinen Bauch. „Ich sollte dich hier liegen lassen.“
„Wieso tust du es nicht?“, frage ich eingeschüchtert, als ich an ihn gepresst werde.
Nathan dreht den Schlüssel. „Rede dir einfach ein, ich hätte ein Gewissen.“
Als ich von Nathans Motorrad absteige und auf das große graue Tor sehe, das den Eingang zu unserem Hof trennt, überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich denke, ich müsste mich schlecht fühlen, weil Nathan in heruntergekommenen Verhältnissen lebt und ich in einem riesigen Haus mit riesigem Garten. Ich weiß, ich sollte mich nicht schlecht dafür fühlen, denn ich wurde hier hineingeboren, das ist nun mal das Zuhause, das meine Eltern mir bieten.
„Danke“, sage ich leise zu Nathan und streiche mir eine verirrte Strähne hinter mein Ohr. Ich traue mich nicht mal, ihn anzusehen. Wahrscheinlich hasst er mich noch mehr dafür, dass meine Familie in solch einer Villa lebt.
Er startet wieder den Motor seines Gefährts und antwortet mir nicht mal, da ist er schon davongefahren. Dass er kein Freund von vielen Worten ist, wird mir mit jeder Sekunde mehr bewusst, die ich mit ihm verbringe. Doch trotzdem bleibt die Frage: warum? Und ich frage mich, woher er wusste, wo ich wohne. Früher hatten wir nie mehr Kontakt als heute und unsere Gespräche waren nicht wirklich aufschlussreich, sodass ich ihm hätte erzählen können, wo ich lebe. Vielleicht hat er es damals irgendwo mitbekommen, wer weiß.
Nathan ist sowieso ein Mysterium. Erst beleidigt er mich und lässt mich in der Kälte stehen, dann fährt er mich nach Hause. Und das obwohl ich Nein gesagt habe. Vielleicht hat er ja doch eine gute Seite. Doch das ist eher unwahrscheinlich und wäre reines Wunschdenken meinerseits. Es wäre zu schön, wenn man mit ihm normal reden könnte, sodass ich vielleicht etwas über seine Vergangenheit rausbekomme und endlich erfahre, was er so treibt und wieso, verflixt noch mal, er damals in der dritten Klasse einfach verschwunden ist.
Doch der Abend hat mir mehr als bewiesen, dass Nathan nicht diese Art von Mensch ist, mit dem man Kontakt haben möchte. Er ist gemein und unausstehlich.
Trotzdem kann ich mir so viele Vorwürfe machen, wie ich möchte, ich weiß jetzt schon, dass ich mir gleich eine Standpauke von Mama anhören kann. Eventuell noch von Papa, wenn er wach ist. Sie hassen es, wenn ich zu spät nach Hause komme und dann auch noch, ohne Bescheid zu sagen.
Also gehe ich reumütig zu dem großen Tor und drücke auf den Knopf, wo Ealswirth steht. Mama wird mir mehr als nur eine Standpauke halten.
„Hallo?“, ertönt die Stimme von Mama aus dem Lautsprecher.
„Ich bin’s“, gebe ich mich kleinlaut zu erkennen.
Kurz schweigt sie nur, dann höre ich, wie sie auflegt und das Tor öffnet. Oh je. Ich kann mich auf etwas gefasst machen. Ob sie mir vielleicht mehr vergibt, wenn ich ihr sage, wie grausam mein Abend war? Besser nicht. Wenn sie wüsste, wo ich war, wäre meine Strafe nur viel höher. Sie sollte besser auch nicht von Nathan erfahren. Schon als ich klein war, mochte sie ihn nicht, genauso wie der Rest der Elternschaft, denn er war damals einfach der kleine Junge, der alle Kinder verprügelt hat.
Das Tor öffnet sich und ich laufe über den gepflasterten Weg durch unseren großen Garten mit den kunstvoll verzierten Büschen und Hunderten von Blumen, die ich mit unserem Gärtner Jose eingepflanzt habe. Als ich an der Haustür ankomme, steht Mama schon mit verschränkten Armen und Schlafanzug im Türrahmen und tippt mit ihrem Fuß gereizt auf den Boden.
Mit gesenktem Kopf gehe ich an ihr vorbei ins warme Haus und mache mich schon auf das Schlimmste gefasst. Ich ziehe mir die Schuhe aus und spüre Mamas strengen Blick auf mir. Vielleicht sagt sie auch gar nichts und lässt mich einfach in mein Zimmer gehen, weil sie sieht, wie schäbig ich aussehe.
Ich will gerade die Treppe hochlaufen, da sagt sie: „Wo warst du?“
Seufzend drehe ich mich zu ihr um. „Ich habe mich verlaufen“, lüge ich und sehe auf den Boden.
„Du hast dich verlaufen. Und wieso hast du mich nicht angerufen? Wofür hast du ein Handy?“ Sie glaubt mir sofort. Das ist verständlich. Ich lüge Mama normalerweise nie an und sie vertraut mir sehr. Nur wegen Nathan lüge ich sie an.
„Es ist kaputt gegangen“, gebe ich zurück.
„Wieso?“
„Es ist mir ins Wasser gefallen, als ich auf der Arbeit geputzt habe.“
Mama nickt mit skeptischem Blick. „Okay. Du musst besser aufpassen.“
„Versprochen, Mama.“ Ich sehe sie an und lächle etwas, weil ich hoffe, sie lässt mich gehen.
„Wieso siehst du so …“ Sie kommt zu mir und nimmt eine verklebte Strähne in die Hand, betrachtet sie angewidert. „So schäbig aus? Und wieso …“ Verwirrt riecht sie an einer Strähne. Dann reißt sie ihre Augen auf und ich gehe einen Schritt zurück. „Honor-Marie, was ist das in deinen Haaren? Ist das Schnaps?“
Ich muss schwer schlucken. Mama ist normalerweise keine strenge Mutter, aber bei Alkohol und vor allem Jungs ist sie extrem empfindlich. Ehrlich nicke ich. „Ja … Es war ein Unfall.“
„Ein Unfall?“, schreit sie fast und ich gehe noch einen Schritt zurück, presse meine Jacke an meine Brust. „Wie kann das ein Unfall gewesen sein? Deine Haare sind voll von diesem Teufelszeug!“
„J-Ja“, sage ich eingeschüchtert. „Es war, ähm, da war so ein Obdachloser und e-er hat mir im betrunkenem Kopf Alkohol über die Haare geschüttet.“ Ich lüge schon zum zweiten Mal. Das gefällt mir nicht. Und wenn Mama die Wahrheit rausbekommt, wird ihr das auch nicht gefallen.
„Zwei Wochen Hausarrest“, urteilt meine Mutter schließlich erbost.
Innerlich verfluche ich mich selbst. Ich hätte damit rechnen müssen. Die Lüge mit dem Obdachlosen war zu dick aufgetragen und dazu kommt noch mein kaputtes Handy. Theoretisch habe ich es verdient. Noch dazu habe ich sie angelogen, wofür ich mir noch mehr Vorwürfe mache. Ergeben nicke ich.
„Du wirst nur noch zur Arbeit ins Hotel gehen und sofort danach wieder nach Hause kommen. Zu den Proben mit Misses Baskin wirst du auch gehen, verstanden?“, redet meine Mutter weiter. „Keine Widerrede und keine faulen Ausreden mehr, ich möchte das nicht mehr hören. Außerdem musst du dich auf das Vorspiel in Birmingham vorbereiten, solche Fehler wie heute Abend sollten nicht noch mal vorkommen, das ist sehr wichtig für dich, das weißt du.“
Wieder nicke ich nur. Sie hat schließlich recht. Die Musikhochschule bedeutet mir alles und das sollte mein nächstes Ziel sein, nicht irgendwelche Informationen aus irgendeinem belanglosen Jungen rauszuquetschen, der mich nur beleidigt. „Darf ich wenigstens in den Garten?“, frage ich. „Wegen meiner Blumen …“
Mama atmet etwas beruhigter tief ein und aus. „Natürlich, mein Schatz, das könnte ich dir niemals verbieten.“
Etwas lächle ich, obwohl ich bedrückter bin, als ich zugeben mag. Wenn sie mich so zurechtweist, komme ich mir immer vor wie eine Zwölfjährige. Dabei bin ich achtzehn Jahre alt und erwachsen. Doch niemals würde ich mich trauen, dieses Argument gegen sie zu verwenden, denn wenn ich in Birmingham auf eine andere Schule gehe, werde ich sie kaum noch sehen und deswegen möchte ich mich so wenig streiten wie möglich.
„Bitte sei mir nicht böse“, sagt Mama und Reue klingt in ihrer Stimme mit. „Aber ich habe mir einfach große Sorgen um dich gemacht.“
„Ist schon okay … Ich kann dich verstehen.“
Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich liebevoll an sich. „Also bist du mir nicht böse?“
Nach einer kleinen Pause sage ich: „Nein, ich bin dir nicht böse. Ich habe immerhin die Fehler gemacht.“
„Ja, da hast du recht.“ Sie lässt mich wieder los und sieht auf mein Haar. „Und geh bitte jetzt noch duschen, du riechst fürchterlich, ich möchte nicht, dass du morgen so auf die Arbeit gehst.“
„Mama“, sage ich noch, bevor sie ins Schlafzimmer zu Papa gehen kann. „Kann ich vielleicht … ähm … Ich möchte nicht mehr im Hotel arbeiten.“
Sie runzelt die Stirn. „Wieso?
Kurz überlege ich, sie erneut anzulügen, doch ich sage: „Ich fühle mich dort nicht wohl. Das alles ist nichts für mich.“
„Ist etwas vorgefallen?“
Ich kratze mich nachdenklich am Hinterkopf. „Also, ähm, nicht direkt, aber …“
„Dann wirst du weiterhin dort arbeiten. Du musst lernen, wie es ist, Geld zu verdienen, Papa und ich können dir nicht dein Leben lang alles bezahlen. Hör auf, dich zu drücken.“
Und weil ich wieder nicht widersprechen möchte, nicke ich niedergeschlagen. „Okay ... Ich dachte vielleicht, du … schon okay.“ Ich drehe mich zur Treppe und sehe noch etwas über meine Schulter. „Gute Nacht, Mama.“ Dann laufe ich in mein Zimmer. Na super. Jetzt muss ich Nathan doch noch weitere drei Wochen sehen.