Читать книгу Rattenjagd - Charleen Pächter - Страница 5

Prolog

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Sie haben sich gegen uns gerichtet.

Sie werden uns finden. Uns alle.

Und sie werden uns töten.

Ich plumpse in die weichen Decken und halte mir den Bauch vor Lachen. Tränen steigen mir in die Augen und meine Wangen schmerzen, als hätte ich die letzten zwei Tage nichts getan außer gelächelt. Neo baut sich über mir auf und zeigt mit einem Zeigefinger auf mich. In seinem rundlichen Gesicht bilden sich kleine Grübchen, weil er ein breites Grinsen auf den Lippen trägt. Die schwarzen Haare stehen ihm wild vom Kopf ab und ein belustigtes Funkeln tritt in seine blauen Augen. „Jetzt hab ich dich! Ich hab doch gesagt, dass du gegen mich nicht ankommst.“ Ich sehe mich in seinem Kinderzimmer um und entdecke ein großes buntes Kissen neben seinen vielen Spielzeugautos. Im nächsten Moment feuere ich ihm das Kissen ins Gesicht und stürze mich kichernd auf ihn.

„Das hast du dir wohl so gedacht!“, kreische ich und meine hohe Kinderstimme vermischt sich mit dem Regen, der draußen auf die Erde niederprasselt. Auf die heile Erde. Die Erde, die mein zuhause ist. Die Erde, die mich sonst immer behütet hat und mir Schutz bot.

Ein Poltern lässt mich aus meinem leichten Schlaf erwachen und Sekunden nachdem ich die Augen aufgeschlagen habe, bin ich auch schon in höchster Alarmbereitschaft. Meine schweißnassen Finger kriechen über den eiskalten Beton, bis sie das glatte kühle Metall erreichen, das mein Herz sofort um ein paar Takte langsamer schlagen lässt.

Wieder ein Poltern. Und dann Stille. Mein Atem bildet weiße bauschige Wölkchen in der Luft, während ich mich so leise wie möglich aus meinem Schlafsack schäle und mein M16- Gewehr schussbereit auf die Tür richte.

Als ich aufstehe, zittern meine Knie, weil es so frostig ist. Das Adrenalin pumpt bereits durch meine Adern und hinterlässt ein dumpfes Pochen hinter meiner Schädeldecke. Kalter Schweiß rinnt mir den Nacken hinunter und verursacht mir eine Gänsehaut.

Ein Kratzen ertönt an der Metalltür, dann ist es wieder still. Meine klammen Finger am Abzug meines Gewehres warten darauf, endlich Erlösung zu finden, doch ich gebe ihnen keine, noch nicht.

Bilder flackern vor meinem geistigen Auge auf und ich sehe Neo. Wie er mit seinen schwarzen Haaren vor mir steht und mich anlächelt, so als wäre alles normal, als würde ich nicht in der Garage eines Fremden wohnen und mich mit einem M16- Gewehr in den Schlaf wiegen. Als würde er nicht gerade irgendwo die Hölle durchmachen und vielleicht sogar schon gestorben sein. Und als wäre das nicht meine Schuld.

Er lächelt mich an. Warm. Warm und liebevoll, so wie man seine kleine Schwester anlächelt. So wie früher.

Plötzlich landet etwas Schweres in der Tür und ich erkenne das scharfe Metallblatt einer Axt, die sich in die Tür bohrt. Noch ein Schlag und noch einer. Das Dröhnen und Vibrieren des Metalls, das auf Metall trifft, lässt meine Ohren klingeln.

Das Blut rauscht in meinem Kopf und mein Herz scheint mir fast aus der Brust springen zu wollen, doch ich atme tief durch und umklammere mein M16 noch ein wenig fester. Jamie, komm schon. Denk nach. Was würde Neo tun? Was würde er tun, um zu überleben? Ich presse die Zähne aufeinander und sehe mich um, indes die Axt immer mehr von der schmalen Tür nieder hackt. Ich bin umgeben von Kisten. Kisten mit Werkzeug, Kisten mit Deko und Weihnachtsschmuck und Kisten voll Spielzeug, das den Kindern gehört, die jetzt sicher schon tot sind. Ein Rasenmäher steht in der einen, eine lange Werkbank in der anderen Ecke und hier am hinteren Teil der Garage bieten aufgestapelte Kartons sowie altes Mobiliar einen guten Sichtschutz. In Sekundenschnelle, die mir wie Stunden vorkommt, hetze ich hinter den Wall aus Gerümpel und presse mein M16 an mich.

Ich luge durch einen Spalt zwischen einem riesigen Pappkarton und einem schäbigen Regal, das voller Keramikkännchen ist. Ein letztes Mal schlägt die Axt beunruhigend kraftvoll in die Tür ein, bevor diese nachgibt.

„Wo bist du? Komm raus, kleine dreckige Ratte!“, brüllt die Gestalt durch die Türöffnung. Ein robuster Stiefel tritt den letzten Rest des Metalls aus dem Weg und bevor sich die Person, die in meinen Schlafplatz eingedrungen ist, richtig aufrichten und das Innere betrachten kann, fällt sie auch schon schreiend in sich zusammen.

Mein Finger zittert am Abzug. Meine Augen sind geweitet, geschockt schaue ich auf den gekrümmten Mann am Boden, der sich kreischend windet und dessen Schreie schon bald verstummen.

Neo erscheint mir wieder und winkt mir fröhlich zu, sein Gesicht ist zu einem schelmischen Grinsen verzogen, das mich an früher erinnert und nicht so recht zu seinem Alter passt. Er lacht und winkt mich zu sich, ich gehe auf ihn zu, nehme seine Hand und schaue nach oben. In sein Gesicht. In das Gesicht, das ich schon mein ganzes Leben kenne, das mich jeden Tag begleitet hat. In das Gesicht, das plötzlich von einer Kugel durchbohrt wird und zu einer fleischigen Masse aus Blut und Knochen zersplittert. Das Gesicht, das nicht mehr bei mir ist. Das ich im Stich gelassen habe. Neos Hand fällt aus meiner und langsam, wie in Zeitlupe sinkt sein steifer Körper in sich zusammen.

In dem kalten Wind, der durch die Öffnung pfeift, schwingen die Überreste der Metalltür quietschend hin und her. Ich löse mich aus meiner Starre und schultere mein M16- Gewehr, bevor ich mir meinen Rucksack greife, alle Sachen darin verstaue und zu dem Mann im karierten Flanellhemd an der Tür trete. Ich beuge mich über ihn und sehe ihm in die starren Augen. Er ist ein ganz normaler Mann. Vielleicht hatte er eine Frau, hatte Kinder, die ihm genommen wurden oder hat sie breitwillig weggegeben, weil die Regierung durch ihre monatelange Propaganda den Erwachsenen eine solche Angst vor Jugendlichen eingetrichtert hat, dass sie alle Lügengeschichten glauben.

In ihnen wurde eine brennende Angst vor uns Ratten herangezüchtet, der sie mit Wut und Gewalt begegnen. Ich schüttle traurig den Kopf, wende den Blick von der Leiche ab und trete über sie hinweg.

Zügig durchquere ich den Garten des Hauses, das hinter mir liegt, nehme das Knirschen meiner Stiefel im Schnee unter meinen Füßen wahr und verschwinde in dem Wald, aus dem ich vor ein paar Tagen gekommen bin. Gekommen um Schutz zu suchen. Schutz und Geborgenheit. Dinge, die man in einer Welt wie dieser nur noch selten findet. Schneeflocken schweben sachte auf mich nieder, der Himmel dunkel und grau über und der harte gefrorene Boden unter mir. Gekommen um Schutz zu suchen und gegangen, um zu flüchten. Zu flüchten vor dem Tod. Dem Tod, der mich heimsucht, mich und all die anderen Kinder in diesem Land.

Und Neos Gesicht taucht vor mir auf, lächelnd. Er will mich aufmuntern und mir zeigen, dass er trotzdem da ist, in meinem Herzen.

Doch alles was ich sehe, ist das, was ich verloren habe und nie wieder zurückbekomme.

Sie haben Angst vor uns. Vor uns, den Kleinen, der jungen Generation. Niemand weiß, was sie mit denjenigen machen, die sie mitnehmen, doch ich gehe davon aus, dass sie sie nicht zu Disney World fahren, damit die Kinder dort ihren Spaß haben.

Angefangen hat alles mit den Anschlägen am Day One. Sehr vielen Anschlägen und Schießereien überall in den Staaten. Die Regierung rief einen Ausnahmezustand aus und untersuchte das Geschehen. In den Nachrichten wurde dann publiziert, dass die Täter Jugendliche sein sollten. Die genaue Ursache, weshalb diese Kinder das getan hatten und warum so viele Menschen dabei sterben mussten, war noch unklar.

Doch wenige Monate später erklärte unsere Regierung, dass dies ein allgemeines Problem sei. Ein gefährlicher Virus, ausgelöst durch den gravierenden Anstieg der Chemikalien in der Luftschicht über den USA habe in den letzten Jahren zu einer Veränderung in den unentwickelten Gehirnen der Kinder und Jugendlichen geführt. Dieser Virus sei so aggressiv, dass er sich durch das bloße Einatmen der infizierten Luft übertragen ließe und bestimmte Arsenale im Gehirn beeinflusse. Erwachsene seien davon jedoch ausgenommen, da ihr vollständig entwickeltes Gehirn über biochemische Abwehrmechanismen verfüge, diese seien jedoch bei Jugendlichen in der Pubertät noch nicht ausgebildet. Wissenschaftler erklärten im Fernsehen möglichst einfach die Veränderungen, die der Virus hervorruft. Der Anger- Virus schleuse seine Erbinformationen in die Zellen im Gerhin ein und programmiere diese so um, dass sie weitere infizierte Viruszellen produzieren, sodass der ganze Mensch nach kurzer Zeit mit infiziert sei. Dieser Vorgang sorge dafür, dass sich das Aggressionspotenzial erheblich steigere und die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinke, da die Viruszellen verstärkt das Aggressionszentrum im Gehirn angreife.

Seit dieser Nachricht hat sich alles verändert. Menschen hatten plötzlich Angst vor mir und den anderen Kindern, Erwachsene kehrten uns den Rücken oder beschimpften uns grundlos als Abschaum und wertlos, weil wir infizierte Ratten seien.

Nach dieser Erklärung wurde das Einzugsgesetz erlassen, das besagt, dass sich alle Kinder und Jugendlichen einer Untersuchung unterziehen und von den Erwachsenen abgeschottet werden müssen. Natürlich unter militärischer Bewachung. Die nachfolgenden Wochen bestanden nur aus wutentbrannten Demonstrationen sowie Aufständen der Eltern, die ihre Kinder ganz sicher nicht weggeben wollten, misstrauischen Blicken und gehässigen Bemerkungen von manchen Erwachsenen. Zu dieser Zeit ahnten wir noch nicht, wie uns die Regierung verändern und regelrecht jagen wollte.

Es begann eine Hetzjagd der grausamsten Art.

Die Kinder mussten weg, so oder so.

Rattenjagd

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