Читать книгу Rattenjagd - Charleen Pächter - Страница 7
Neo
ОглавлениеDie Sonne steht hoch am Himmel, als sie kommen. Die weißen Zeltwände glänzen in der strahlenden Mittagssonne, die vom Schnee reflektiert wird und sich in ihren Sonnenbrillen widerspiegelt. Sie schlängeln sich zwischen den Zeltreihen hindurch und kontrollieren jede einzelne kleine Behausung, so wie jede Woche. Die Menschen drängen sich eingeschüchtert aneinander, niemand wagt, etwas zu sagen.
Am Rand erkenne ich den hohen Zaun mit seinem Stacheldraht. Davor patrouillieren die Soldaten umher und haben ein wachsames Auge auf die schneeweiße Umgebung. In der Ferne erahne ich die hohen Gebäude Bostons und sehe einen Schwarm Raben über diese hinweggleiten, so als wären sie auf der Suche nach Etwas.
Immer mal wieder bleibt einer der Männer stehen und unterhält sich mit einem der Menschen. Sie reden korrekt und haben stets eine unbewegte Miene, auf der sich nie die kleinste Regung abzeichnet. Ich senke den Kopf und starre auf meine Schuhe, die vor Schmutz geradezu triefen. Irgendwie habe ich es im Gefühl. Heute werden sie mich entdecken, heute werde ich derjenige sein, den sie mitnehmen.
Ich streife mir möglichst unauffällig die Kapuze meines blauen Pullis über und stecke die Hände in die Hosentaschen. Das Murmeln der Leute um mich herum wird immer stärker und als eine Windböe über unsere Köpfe hinweg fegt, nehme ich den penetranten Schweißgeruch wahr, den ich nach all den Wochen schon längst ausgeblendet hatte.
Ein Paar schwarzer Lackschuhe tauchen am Ende des Ganges zwischen den Zelten auf und nähern sich meinem Standort. Ich grabe meine Hände noch weiter in meine Hose und balle sie zu Fäusten. Meine Zähne pressen sich, ohne dass ich darüber die Kontrolle habe, aufeinander. Der Mann im schicken Anzug bleibt ein paar Meter vor mir stehen, kontrolliert ein paar Zelte und verwickelt dann einen jungen Mann in ein Gespräch, das mehr einem Verhör gleicht. Eine kurze Handbewegung und die anderen Männer in Anzügen schleppen den jungen Mann davon. Sein Protestieren und sein Geschrei ist auch noch zuhören, als sie ihn durch das große Tor gezerrt und in einen Jeep gesetzt haben. Mein Atem qualmt in kleinen weißen Wölkchen unter meiner Kapuze hervor, während das dumpfe Geräusch der drohenden Schritte im Schneematsch immer näher kommt.
Ich atme einmal tief ein, bevor die polierten Schuhe vor meinen zum Stehen kommen. „Name?“, fragt eine monotone Stimme, die mich dazu verlasst den Kopf zu heben.
Dann starre ich geradewegs in die schwarze Sonnenbrille, die die Bäume hinter dem Zaun widerspiegelt. Aber ich bleibe stumm. Soll er mich doch dazu zwingen, mit ihm zu reden. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber ich glaube ein hämisches Zucken um die Mundwinkel des strengen Mannes zuerkennen. Immer noch stehe ich wie erstarrt vor ihm und mustere seine Erscheinung, hin und wieder wäge ich meine Fluchtchancen ab.
Unter dem akkurat sitzenden Jackett bildet sich deutlich der Umriss einer Handfeuerwaffe ab. Ich werfe einen Blick in die Massen der Leute und auf die Soldaten, die mit ihren Gewehren vor dem hohen Zaun hin und her wandern. Ich muss schlucken. Plötzlich packt mich der Mann am Kragen meines Pullovers.
„Name!?“, knurrt er und eine Zornesader pocht auf seiner Stirn.
„Neo Ty McMarley.“, presse ich hervor, bevor mich die Hand wieder loslässt und sich seinen Anzug glatt streicht. „Na geht doch. Alter?“ Wütend stiere ich ihn an und kann mich nur schwer zurückhalten, ihm nicht in seine dämlich grinsende Visage zu schlagen. „Neunzehn.“ Bösartig lächelnd winkt der Agent seine Kollegen heran und dreht sich noch einmal zu mir um, während ich davon gezerrt werde.
„Ich glaube, du wirst in nächster Zeit viel Spaß haben, Neo Ty McMarley.“
Sie setzen mich in einen Jeep, der schon vollkommen mit jungen Menschen in meinem Alter überfüllt ist. Das erste Fahrzeug, das mit einer ganzen Einheit Soldaten bestückt ist, setzt sich in Bewegung und unser Konvoi bahnt sich einen Weg auf den Highway.
Da ich recht weit hinten im Jeep sitze, beobachte ich wie die Zeltstadt und das dahinter aufragende Boston immer kleiner wird und schließlich endgültig vom Horizont verschluckt wird. Ich sehe mich im Jeep um und entdecke erschöpfte, verweinte und Zorn verzerrte Gesichter, die stur vor sich hinstarren.
Der Humvee, der unseren Konvoi abschließt und hinter uns fährt, hält Abstand und ich überlege, ob ich nicht einfach aus dem Jeep springen und mich im Wald verstecken könnte, doch als ich die vielen bewaffneten Soldaten auf den Ladeflächen der Fahrzeuge sehe, überlege ich es mir doch noch mal anders.
Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sind, aber viele in unserem Jeep rutschen bereits unruhig auf den harten Bänken hin und her, weil niemand mehr sitzen kann. Die Sonne berührt schon den Rand der Erde und wird nach einiger Zeit den Himmel komplett verlassen. Dann werden uns die Dunkelheit und das blasse Schimmern des Mondes begleiten. Ich lege meinen Kopf an die Außenverkleidung des Jeeps und schließe die Augen. Wie so oft in den letzten Wochen denke ich an Jamie und stelle mir vor, wie wir uns wieder sehen. Ich hoffe, dass sie noch lebt und den Huntern bis jetzt entfliehen konnte, aber sie schafft das, ich weiß es. Nach einer Weile werden meine angespannten Gliedmaßen ganz schlaff und das leise Rumoren der Motoren klingt wie ein weit entferntes Wasserrauschen. Irgendwann tauche ich ab und verdränge alle Sorgen aus meinem müden Kopf.
Eine Hand rüttelt an meiner Schulter und lässt mich schlagartig die Augen aufreißen. Ich klammere mich an den Arm, der immer noch vor mir schwebt und sehe mich verwirrt um. „Ganz ruhig, ich wollte dich bloß wecken, bevor die Soldaten es auf ihre Art tun.“
Mein Sichtfeld wird wieder scharf und ich fokussiere die Person, die vor mir im Jeep hockt und deren Arm ich weiterhin krampfhaft umfasse.
Langsam lasse ich ihren Arm los und beobachte wie sie sich die rote Stelle reibt.
„Tut mir leid, ich bin im Moment nicht ganz bei mir.“, murmle ich und richte mich auf. Blinzelnd folge ich dem Mädchen aus dem Jeep und gliedere mich in die Reihe ein, die sich gebildet hat. Der Himmel ist so schwarz wie Teer und nur einzelne Sterne leuchten über unseren Köpfen. „Kein Problem, so geht es doch allen von uns.“, erklärt sie, steckt sich eine braune Locke hinter ihr Ohr und lächelt mich an.
Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und versuche, die vielen bewaffneten Soldaten um mich herum zu vergessen. Vor uns dominiert ein großes graues Gebäude die Umgebung und lenkt von dem Stacheldraht ab, der sich rings um das gesamte Gelände erstreckt. Noch mehr Soldaten patrouillieren davor und von den Wachtürmen aus schreit irgendjemand Befehle. Langsam frage ich mich, woher sie die ganzen Soldaten nehmen, irgendwann müssen die Kapazitäten an Männern doch ausgeschöpft sein. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder dem Mädchen zu, um nicht länger über die ganzen Waffen nachdenken zu müssen, die sich allesamt auf uns richten könnten.
„Weißt du zufällig, wo wir hier sind?“, frage ich sie und sie scannt mit einem ernsten Blick die Umgebung ab. Außer mehren Kasernen und Betonplätzen kann man in der Ferne nichts erkennen. Die Jeeps donnern mit dröhnenden Motoren durch das riesige Stahltor davon, bereit, die nächsten Insassen zu besorgen. „Nein, aber mir sieht es nach einem militärischen Stützpunkt aus. Keine Ahnung, in welchem Teil der Staaten wir sind, aber weit weg von Boston können wir nicht sein. So lange sind wir ja dann doch nicht gefahren.“ Schulterzuckend geht sie in der Schlange ein paar Schritte nach vorne.
Es geht vorwärts, aber langsam.
„Wie heißt du?“, frage ich sie als Nächstes und folge mit den Augen ihrem Finger, der ihre schwarze Brille wieder auf den richtigen Platz schiebt. Falten bilden sich auf ihrer Stirn und sie sieht mich so an wie eine Lehrerin einen dummen kleinen Jungen, der die einfachsten Aufgaben nicht versteht.
„Spielen Namen überhaupt noch eine Rolle? Wir werden doch sowieso bald alle sterben.“ Dafür, dass sie solche Gedanken äußert, sieht sie mir aber nicht sehr depressiv aus. Vermutlich hegt jeder von uns Ratten mittlerweile so eine Denkweise.
„Vielleicht nicht für dich, aber für mich ist es wichtig die Leute mit ihrem Namen anzusprechen, selbst wenn wir an der Klippe zum Abgrund stehen.“
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und warte mit einem herausfordernden Blick auf ihre Reaktion. Mit einem leisen Lächeln gibt sie nach.
„Jess. Mein Name ist Jess, einfach nur Jess.“ Es klingt, als würde sie es mehr zu sich selbst sagen, als zu mir, doch ich grinse trotzdem zufrieden und stelle mich vor.
„Neo…“, wiederholt Jess langsam und zieht jeden Buchstaben lang. „Ein interessanter Name.“, murmelt sie. Wir treten noch weiter auf das Gebäude zu und beachten die Soldaten nicht, die um uns herum stehen und jede unserer Bewegungen in sich aufsaugen. „Meine Mom liebte den Film Matrix, daher der Name.“, erwidere ich und schwelge kurz in Erinnerungen an meine Mom.
Jess berührt mich am Arm und ich erkenne pure Trauer und Verständnis in ihrem Blick. Sie sagt nichts, sondern sieht mich einfach nur an. Keine Entschuldigung oder dergleichen kommt über ihre Lippen und ich bin ihr sehr dankbar dafür, denn wir haben alle annähernd dieselben Verluste hinter uns. Es bringt nichts, diese noch mal zu erleben, indem man sie ausspricht. Der Himmel ist schwarz über unseren Köpfen, nur die weißen Laternen, die überall auf dem riesigen Gelände verteilt stehen, geben eine gewisse Aura an Licht von sich und ermöglichen uns eine Aussicht auf unsere nächsten Tage. Auf unsere Zukunft, die in Form eines militärischen Geländes vor uns liegt und durch die Kampfbefehle und das Rattern von Maschinengewehren unterbrochen wird.
Als sich alle Neuankömmlinge in dem grauen Gebäude des Militärgeländes versammelt haben, müssen wir alle in der engen Eingangshalle dicht an dicht warten. Soldaten kesseln uns ein als wären wir schmierige Tiere und drängen uns mit ihren Gewehren zurück, sodass wir den Schweiß des jeweils anderen riechen können.
Soweit ich das richtig beurteilen kann, werden wir wohl die nächste Zeit die Laborratten des Militärs sein, dass passt ja zu dem Namen, den uns die Gesellschaft verpasst hat.
Wir sind dreckige Ratten, die vernichtet werden müssen.
Das laute Gemurmel der vielen Personen verstummt mit einem Mal, als ein strenger Mann in Militäruniform das Podest betritt, das vor uns aufgebaut ist. Soldaten drängen sich um das Podest und verfolgen jede unserer Bewegungen. Die plötzliche Stille lastet noch mehr auf meinen Ohren, als das vorige Gemurmel, das sich in mein Trommelfell eingebrannt hat. Jess steht dicht vor mir und richtet ihren Blick auf den Mann, der alle Aufmerksamkeit allein durch seine Erscheinung auf sich zieht. Da ich recht groß bin, kann ich ziemlich gut über die Köpfe der anderen hinweg schauen und das Szenario vor meinen Augen beobachten. Der Mann in Uniform mit den glänzenden Abzeichen an der Schulter hebt die Hände und sorgt somit für eine endgültige Stille, die sich wie von selbst zu einem spannungsgeladenen Knäuel zusammenrollt. Und plötzlich durchschneidet eine Stimme, die mir durch Mark und Bein geht die Halle und lässt die Luft vibrieren.
„Willkommen im Militärlager Boston. Es freut mich, dass ihr alle wohlauf hierher gefunden habt.“ Er legt eine kurze Pause ein, räuspert sich und verschränkt die Arme hinter dem Rücken. Alle Augenpaare sind auf ihn gerichtet und immer mal wieder hört man empörte Rufe oder verächtliches Schnauben.
„Ich bin Lieutenant Colonel Zachary White, der Kommandant der R.S.A. Ihr seid hier, weil ihr von einem Virus infiziert wurdet, welches euch verändert hat. Mit eurer Hilfe wollen wir diese Veränderung besser verstehen und einen Weg finden, die Schäden in euren Gehirnen rückgängig zu machen, beziehungsweise zu verhindern.“
Wieder legt er eine Pause ein.
„Ihr jungen Leute bekommt die ehrenhafte Aufgabe zu teil, unsere Wissenschaftler in ihren Forschungen zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, eure Schäden zu korrigieren. Vorher werdet ihr allerdings auf ein ähnliches körperliches Leistungslevel gebracht, was bei manchen einen längeren und bei anderen einen kürzeren Zeitraum in Anspruch nehmen wird. Deswegen seid ihr hier, damit euch unsere Sergeants in Topform bringen! Was sagt ihr dazu, Kadetten?! “, brüllt er durch die Halle und seine mächtige Stimme prallt von den nackten Wänden ab und echot im Raum. Alles bleibt still, niemand sagt etwas. Alle starren nur geradeaus oder ins Leere und versuchen zu verstehen, was dies für uns bedeutet.
Er sagt wir haben Schäden, deswegen wollen sie uns missbrauchen, wollen uns irgendwelchen Tests und kranken Experimenten unterziehen als wären wir kleine schäbige Ratten. Aber so sehen sie uns ja, wir sind kleine schäbige Ratten. Ratten, die man für kranke Experimente missbrauchen kann.
Eine unbändige Wut steigt in mir hoch und ballt sich in meinem Magen zusammen. Mir verschlägt es fast die Sprache, so viel Zorn erweckt diese Erkenntnis in mir. „Ehrenhaft?!“, schreie ich und kämpfe mich durch die ganzen verwirrt aussehenden Menschen nach vorne. Alle Augen sind auf mich gerichtet und ich spüre den brennenden Blick des Kommandanten auf mir, als ich mich immer weiter nach vorne durchschlage. „Sie denken, dass wir es ehrenhaft finden, irgendwelche abartigen Experimente mit uns machen zulassen? Sind sie vollkommen durchgeknallt? Wir werden ihnen nicht helfen irgendeine Scheiße abzuziehen nur damit sie sich einreden können, dass sie uns und den anderen Kids da draußen helfen! Sie wollen uns doch nur benutzen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen!“ Meine Stimme überschlägt sich und ich bemerke die bewundernden Blicke der anderen um mich herum. Mehrere Waffenläufe richten sich gleichzeitig auf mich und ich wundere mich, dass Kommandant White nur reglos über mir steht und auf mich nieder stiert wie auf einen ekligen kleinen Käfer, den man zerquetschen muss.
„Wissen sie, was der einzige Weg ist, um den Kids da draußen zu helfen?“, frage ich rhetorisch und etwas ruhiger.
„Sie können ihre total dämlichen Hetzjagden einstellen und den Kindern ihr normales Leben zurückgeben, denn sie haben nichts getan! Nichts! Sie sagen wir sind die Ratten, die man eliminieren muss, weil wir aggressiv sind, dabei sind es doch ihre Männer, die Tag für Tag kleine unschuldige Kinder und Jugendliche abknallen und sich darüber freuen.“ Der Finger, den ich auf ihn gerichtet habe, zittert vor Wut. Es ist mir egal, was mich dieser Wutausbruch kosten wird, denn ich bin endlich all das losgeworden, was sich schon so lange in mir aufgestaut hat. Und kosten wird es mich auf jeden Fall etwas, das sehe ich in Whites schwarzen Augen. Ganz leise erhebt sich seine Stimme, fast nur ein Zischen, dass durch den Raum schwebt und sich wie ein Messer an meine Kehle setzt. Langsam senke ich meinen ausgestreckten Arm und balle die Hände neben meinem Körper zu Fäusten.
„Du bist mutig, mein Junge. Doch du musst noch Einiges lernen. Aber dafür bist du ja hier. Um zu lernen…“ Mit katzenartigen Bewegungen schreitet er nun auf seinem Podest auf und ab. Es scheint nur mich und ihn in diesem Gespräch zu geben, doch ich merke, wie jeder Einzelne um mich herum die Luft anhält, obwohl ich derjenige bin, der dem Kommandanten diese Rede gehalten hat.
„Weißt du, ich hatte auch einmal ein Kind. Einen Sohn genau genommen. Irgendwie erinnerst du mich an ihn, er hat auch nie ein Blatt vor den Mund genommen, doch irgendwann bemerkte ich Veränderungen in seinem Verhalten und schickte ihn zu unseren fähigsten Wissenschaftlern. Sie untersuchten sein Blut und führten verschiedene Tests an ihm durch, um herauszufinden, was ihn so verändert hatte. Irgendwann erkannten sie die Viruszellen in seinem Blut und isolierten sie, um sie zu untersuchen. Mein Sohn durfte viele Tests mitmachen, um ihnen dabei zu helfen ein Heilmittel oder eine Impfung zu entwickeln. Doch weißt du was, mein dummer dummer Junge getan hat?“
Kopfschüttelnd bleibt er stehen und sieht hasserfüllt auf mich nieder, ich muss mich beherrschen, um nicht den Kopf einzuziehen.
„Er ist einfach abgehauen. Er ist ausgerissen, obwohl ich nur sein Bestes wollte. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen. Und nun erinnere dich doch an all die Anschläge. Wer war es denn, der tausende Menschen sterben ließ, einfach ohne Grund und nur aus purem Jux? Waren es die verantwortungsbewussten Erwachsenen? Nein. Es waren Kinder. Kinder, die nicht wussten, was sie taten und es trotzdem taten. Kinder, die fehlgeleitet sind wie mein kleiner Junge. Dieses Töten muss ein Ende haben, auch wenn es bedeutet, dass ein paar von euch kleinen Ratten geopfert werden müssen.“
Mit diesem letzten verächtlichen Satz winkt er mit der Hand und sieht dabei zu, wie mich mehrere Soldaten beiseiteschaffen. Fluchend schlage ich um mich und erhasche einen kurzen Blick auf das hämische Grinsen des Kommandanten. Dieser breitet die Arme aus und zwingt sich ein tödliches Lächeln auf die Lippen.
„Ich heiße euch herzlich willkommen in der Obhut der Research Station of Army, Kadetten!“, schreit White, bevor er von seinem Podest verschwindet und ich aus der Sichtweite Meinesgleichen geschliffen werde.
Die Soldaten stoßen mich vor die Tür, während andere Einheiten die Jugendlichen in die Kasernen lotsen. Irgendwo in der Masse entdecke ich Jess braunen Lockenkopf und ihre Hand, die mir zuwinkt. Sie versucht, sich durch die Masse zu schlängeln, um zu mir zu gelangen, doch die Soldaten schubsen sie wieder in die Reihe.
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich an Whites erschrockenes Gesicht denke, das er für kurze Zeit aufgesetzt hatte, als ich die Stimme gegen ihn erhob. Einer der drei Soldaten packt mich am Kragen meines Pullovers und zieht mein Gesicht nah zu sich heran. Er stinkt gewaltig nach Schweiß und Zigaretten, keine angenehme Kombination. „Was gibt es da zu grinsen, du Ratte?“, fragt er angewidert und spuckt beim letzten Wort in mein Gesicht. Angeekelt wische ich mir über die Wange und kann mir das Grinsen immer noch nicht verkneifen, obwohl ich weiß, was jetzt kommen wird.
„Ich musste nur an die dämliche Visage eures Bosses denken, als sich endlich mal eine der Ratten gewehrt hat.“ Ein Lachen dringt plötzlich aus mir hervor und ich kann nicht mehr damit aufhören, bis mich auf einmal eine Faust mit voller Wucht in den Magen trifft.
Der Schlag löst eine Welle des Schmerzes in mir aus, die durch meinen ganzen Körper pulsiert. Die Welle steigt mir zu Kopf, ich beuge mich vornüber und übergebe meinen gesamten Mageninhalt dem aufgerissen Asphalt.
„Na? Jetzt lachst du nicht mehr, Kleiner, was?“ Seine beiden Kumpels kichern vor sich hin und wirken dabei mit ihren hohen Stimmen wirklich unglaublich männlich.
Ich benutze meinen Ärmel, um meinen Mund sauber zu wischen, stütze mich an der Gebäudewand ab und richte mich auf.
„Warte nur, bis ich wieder Luft geholt habe, du Soldatenarsch.“, erwidere ich und muss mich beherrschen nicht gleich wieder auf den Boden zu reihern. Jamie meinte mal, dass ich schon immer ein wenig lebensmüde war und mich gerne auf Prügeleien einließ. Sie stellte die Vermutung auf, dass ich mich dadurch lebendiger fühle, aber eigentlich gefällt es mir nur diesen Dreckskerlen die Meinung zu sagen, die sich sonst niemand traut zu äußern. Und warum nicht, wir haben doch freie Meinungsäußerung in unserem gelobten Land, oder nicht? Mit den Konsequenzen muss ich doch sowieso leben.
Die zwei dürren Soldaten krempeln sich die Ärmel ihrer Uniformen hoch und legen ihr Gewehr außer Reichweite, während ich immer noch damit kämpfe, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten. „Na warte du kleiner Hosenscheißer.“, knurrt der Obermacker von nebenan und verpasst mir gleich noch eine ins Gesicht.
Der brennende Schmerz bringt mein Abwehrsystem in Schwung und das Adrenalin pumpt durch meine Adern. Vielleicht hatte Jamie Recht, ich fühle mich tatsächlich etwas lebendiger, doch diese Arschlöcher haben es trotzdem verdient beleidigt zu werden. Kampflustig hebe ich die Fäuste und gehe in Kampfposition.
Bei dem nächsten Versuch, mir eine zu verpassen ducke ich mich und trete dem Pummelchen das Bein weg. Fluchend fällt er auf seine Vierbuchstaben, doch gleich darauf stürzen sich seine Kumpels auf mich und begraben mich unter einem Haufen Gliedmaßen. Zusammengekrümmt liege ich auf dem Boden und versuche, meinen Kopf mit den Armen abzuschirmen. Immer wieder treten sie in meinen Bauch und gegen meinen Brustkorb.
Ein heftiges Brennen und Pochen lässt mich bei jedem Tritt zusammenzucken.
Das Pummelchen hat sich wieder aufgerafft und zieht mich hoch, damit mein Gesicht auf seiner Höhe ist. Seine dürren Kumpane halten mich an den Armen fest.
Mein Kopf baumelt leblos nach unten und mein Blick verschleiert langsam. Wieder und wieder schlägt er mir ins Gesicht, Blut spritzt und meine Haut platzt auf.
Er tritt mir in den Schritt, was definitiv die schlimmste Qual von allen ist. Stöhnend gehe ich zu Boden und lehne mich gegen die Wand. Blut läuft mir in die Augen und tropft von meiner geschwollenen Lippe. Überall pocht und sticht es in meinem Körper.
Ich scheine nur noch aus einem einzigen pulsierenden Schmerz zu bestehen und dennoch liegt es nicht in meiner Natur aufzugeben. Klar, das hat nichts mehr mit Stärke zu tun, sich einfach die Seele aus dem Leid prügeln zu lassen, doch was habe ich zu verlieren? Der einzige Grund, warum ich noch lebe, ist meine Schwester und bei ihr kann ich mir nicht sicher sein, dass sie überhaupt noch lebt. Also warum die Mühe? Warum?
„Und, fühlt ihr euch jetzt groß und stark, nachdem ihr zu dritt auf einen Jüngeren eingeschlagen habt, sogar nachdem er am Boden lag? Fühlt ihr euch jetzt besser?“, presse ich hervor und spucke das Blut aus, das sich in meinem Mund gesammelt hat.
Ich hasse den metallischen Bleigeschmack und doch befriedigt mich der zornige und ungehaltene Ausdruck in den Gesichtern der Soldaten, die schon wieder drohend auf mich zugehen. Die Faust saust schon wieder drohend auf meinen lädierten Körper zu, doch plötzlich lässt sie eine autoritäre Stimme innehalten.
„Aufhören! Wie lautete der Befehl? Sag schon Soldat, wie lautete der Befehl?“, schreit der Kommandant, der auf einmal in meinem Sichtfeld aufgetaucht ist und sich den pummeligen Soldaten zur Brust genommen hat.
„Sir, Wir sollten die kleine Ratte ein wenig zurechtstutzen, Sir.“, stottert er und der Kommandant zwingt ihn mit einem festen Griff, mich anzusehen. Meine Augen schwellen bereits zu, sodass ich nur die Schemen ihrer Gesichter erkennen kann, doch es reicht, um zu sehen, wie mir die fette Ader auf Whites Stirn fast entgegenspringt. „Sieht das für dich nach ein wenig Zurechtstutzen aus, Soldat?“, brüllt White und schüttelt seinen Untergebenen. „Sir, Nein, Sir.“, murmelt dieser ehrfürchtig und strauchelt schnell davon, als White ihn loslässt. „Genau, der sieht eher wie halbtot aus. Und jetzt verpisst euch und macht euch irgendwo nützlich!“ Seine Stimme dröhnt über eine so weite Strecke, dass die Vögel in den Bäumen vor dem Tor aufgescheucht werden und davon flattern.
Mein Herz pocht sanft in meiner Brust und jeder Atemzug ist eine Höllenqual.
White beugt sich zu mir runter und mustert meinen erschlafften Körper. Dann spricht er etwas in sein Funkgerät und geht davon. Im Weggehen ruft er mir noch etwas zu.
„Mut kann manchmal lebensgefährlich sein, das hast du jetzt hoffentlich gelernt, Kleiner.“
Nachdem White aus meinem Sichtfeld verschwunden war, wurde alles um mich herum schwarz und mein Kopf sackte zur Seite. Das Nächste, an das ich mich erinnere, sind sehr viele Stimmen, die durcheinanderreden und ein stechender Kopfschmerz, der mich zwingt, wieder die Augen zu schließen und in die ruhige Schwärze abzutauchen.
Irgendwann ist es die Stille, die mich schließlich weckt. Stöhnend setze ich mich auf und sehe mich um. Ich taste meinen Kopf und mein schmerzendes Gesicht ab und spüre weichen Mullverband, der sorgsam darum gewickelt wurde.
Ich befinde mich in einer der Kasernen, doch sie ist leer. An den zwei Wänden stehen eine Menge Feldbetten, die nur durch winzige Metalltische voneinander abgegrenzt sind. Der freie Weg in der Mitte führt zu den Bädern in den hinteren Teil der Kasernen.
Ich hätte damit gerechnet ein buntes Treiben aus aufgebrachten Jugendlichen vor zu finden, doch niemand ist hier. Die verkratzte Stahltür, die nach draußen führt, ist nur ein paar Meter entfernt, doch ich glaube, ich würde mich sofort übergeben, wenn ich auch nur versuchen würde, aufzustehen, deshalb bleibe ich lieber sitzen und warte.
Es gibt keine Fenster, nur nackte deprimierende Betonwände, die immer enger zusammenzurücken scheinen. An der Decke sind alte Neonröhren angebracht, deren unangenehmes Licht mir in den Augen brennt. Plötzlich wird die Tür aufgezogen und ein Mädchen in blauer Tarnuniform tritt herein. Hektisch sieht sie sich um, entdeckt mich und kommt auf mich zu. Erst als sie nur noch ein paar Schritte von meinem Bett entfernt ist, erkenne ich, wer da vor mir steht. Jess lächelt mich mitleidig an und setzt sich auf das Bettende. Vielleicht sind meine Augen doch noch ganz schön zu geschwollen.
„Und wie geht’s dir?“, fragt sie leise und wirft der Tür einen Blick zu.
„Erwartest du noch jemanden?“, kontere ich mit einer Gegenfrage, weil ich selber nicht weiß, ob mir zum Kotzen zumute ist oder ich froh bin, noch zu leben. Sie schiebt ihre Brille nach oben und zieht ihren Zopf fester.
„Alle Rekruten sind momentan beim Abendessen. Ich hab mich eher raus geschlichen, um vor den anderen bei dir zu sein. Hier, das habe ich raus geschmuggelt.“ Mit einem weiteren Blick zur Tür kramt sie einen Apfel und ein trockenes Stück Brot heraus.
Als ich ihr Geschenk dankbar entgegennehme, verspüre ich, zum ersten Mal einen heißen Hunger in mir aufsteigen. Innerhalb weniger Minuten habe ich mein Abendbrot verschlungen und mich gegen die Wand hinter mir gelehnt.
„Hast du zufällig auch eine Schmerztablette geklaut? Mein Kopf bringt mich um.“, scherze ich und erhoffe wenigstens ein Lächeln, doch sie sieht mich nur tadelnd an.
„Weißt du was, ich finde das gar nicht lustig. Du hättest dich mal sehen sollen, als dich die Sanitäter halbtot hier rein geschleppt haben. Du sahst aus wie…“, sie zögert kurz.
„Eine Leiche.“ Schnell schaut sie weg und steht auf. Ich greife nach ihrer Hand und hindere sie am Weggehen.
„Ich weiß. Aber ich kann einfach nicht anders. Wenn wir uns nicht wenigstens noch ein bisschen Galgenhumor bewahren, dann haben wir doch gar nichts mehr zum Lachen, oder?“ Mit schief gelegtem Kopf betrachtet sie mich nachdenklich von oben.
Sie öffnet den Mund, doch in diesem Augenblick fliegt die Tür auf und eine Meute von Jungs strömt in den Raum. Sobald die Tür hinter ihnen zugeschlagen wurde, wechselt ihre trübsinnige ernste Stimmung in eine Ausgelassene.
Hier wird man wenigstens nicht die ganze Zeit von Soldaten beobachtet. Jess gesellt sich zu den anderen Mädchen, die definitiv in der Unterzahl sind und wirft mir hin und wieder noch einen Blick zu. Ein breitschultriger Typ mit geschorenen Haaren löst sich aus der johlenden Masse und kommt auf mich zu. Ich kann den Ärger, der in der Luft liegt und von ihm ausgeht, förmlich riechen und richte mich auf.
„Na, wer ist denn da von den Toten auferstanden? Der gute alte Leichenjunge beehrt uns auch mal mit seiner Gesellschaft, wie freundlich von dir.“, flötet er und sofort wird es ruhiger. Seine grinsenden Kumpels geben ein ekliges Lachen von sich und klopfen ihm anerkennend auf die Schulter.
„Was willst du?“, frage ich gelangweilt und sehe von unten möglichst abweisend zu ihm hoch. Was ich jetzt gar nicht gebrauchen kann, ist noch eine Prügelei oder irgendeine Macho- Führer- Auseinandersetzung. Ich kenne solche Typen, die immer nur auf Stress aus sind und sich vor ihren Leuten beweisen wollen, sie denken sie sind dann besonders männlich, doch eigentlich wirken sie nur wie streitsüchtige Neandertaler, die ihre Kämpfe nur mit Fäusten austragen können.
„Was ich will?“ Gespielt erschrocken dreht er sich zu seinen Jungs um. Ich erspähe Jess mit anderen Mädchen am Rand der Horde und zwinkere ihr zu.
„Jungs, was will ich wohl?“, fragt der Großkotz in seine Anhängerrunde und bekommt Johlen und kampflustiges Gebrüll als Antwort.
„Brad. Brad. Brad.“, rufen sie alle im Chor und klatschen sich ab. Kopfschüttelnd rutsche ich auf meinem Bett noch ein Stück höher. Ich würde wirklich gerne aufstehen und dem Typen einfach aus dem Weg gehen, doch ich möchte mir nicht auch noch den Spitznamen Kotzjunge einfangen.
„Leichenjunge, eins muss man dir lassen, du hast schon Mumm, doch hier bei uns solltest du dich an ein Gesetz halten.“ Brad beugt sich über mich und zeigt mit seinem fetten Zeigefinger drohend auf mich. Ich rieche seinen Schweiß und verziehe mein Gesicht.
„In dieser Kaserne bin ich der Boss. Alles hört auf mich, du auch. Und wenn du nicht spuren willst, dann bekommst du es mit mir und meinen Jungs zu tun. Kapiert?“
Mein Gesicht brennt auf alle erdenklichen Weisen und ich will nichts, außer mich wieder hinlegen, also soll dieser Obermacker doch machen, was er will. Ich nicke und funkle ihn wütend an. Brad grinst schweinisch und wird von seinen Jungs stolz empfangen.
Den Rest des Abends liege ich einfach nur da, lege mir meinen Unterarm über die Augen, sodass mich das grelle Licht nicht blendet und lausche den Geräuschen der Jugendlichen um mich herum. Kurz bevor ich eindämmere, spricht mich jemand an.
„Brad ist ein Arsch, achte einfach nicht auf ihn.“
Blinzelnd öffne ich meine Augen und mustere den Jungen, der neben mir auf seinem Bett sitzt. Seine langen Beine sind zu einem Schneidersitz verknotet und er beobachtet das wilde Treiben von Brads Bande, die irgendein Spiel mit Wetten spielt.
Seine Finger beschäftigen sich mit einer Münze, die er immer und immer wieder zwischen seinen Händen dreht. „Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber danke.“, entgegne ich und deute auf seine Münze. „Was ist das?“, frage ich ihn und zum ersten Mal blickt er auf.
„Die Münze? Ach, nur ein Familienerbstück.“ Mit einer Handbewegung tut er es ab, doch ich erkenne in seinen braunen Augen, dass ihm die Münze etwas bedeutet.
„Ich bin Matt.“, erklärt er irgendwann. Ich muss ein wenig lächeln, weil ich früher einen Hamster hatte, der auch so hieß. „Neo.“ Mit einem Lächeln sieht er mich an.
„Sorry Neo, aber du siehst wirklich schlimm aus mit all den Verbänden und blutigen Stellen im Gesicht.“ Sein Blick richtet sich wieder auf seine Münze, ich kann’s verstehen, ich fühle mich ja sogar scheiße.
„War schon echt cool von dir, dem Kommandanten mal die Meinung zu geigen, aber an deiner Stelle würde ich das nicht noch mal versuchen.“
„Warum nicht?“ Zögernd zupft er an seiner Uniform herum.
„Du hast noch keinen Tag hier erlebt, morgen Abend verstehst du mich sicherlich.“
An morgen will ich noch gar nicht denken, denn ich habe immer noch das Gefühl, dass mich ein tonnenschwerer LKW überfahren hat und ich dann vom Asphalt gekratzt wurde. „Bist du Spanier?“, frage ich, um das Thema zu wechseln und deute auf seine bronzene Hautfarbe. Er lacht kurz und steckt dann die Münze ein.
„Nein, ich komme aus Mexiko, doch vor ein paar Jahren beschlossen, meine Eltern hier her zu ziehen, um bessere Arbeit zu finden.“ Er wirft verzweifelt die Arme in die Luft. „Und was ist jetzt? Meine Eltern sind tot und ich sitze hier fest. Wären wir mal dageblieben.“ Traurig lässt er den Kopf hängen. Jetzt wo er es sagt, fällt mir der leicht gebrochene Akzent in seiner Sprache auf.
„Mach dir nichts draus, uns geht es allen so.“ Nickend streckt sich Matt auf seinem Feldbett aus und starrt an die Decke.
„Du solltest jetzt schlafen. Wir werden morgen sehr früh geweckt.“, murmelt er und schließt ebenfalls die Augen.
Zum Glück gibt es hier nicht nur solche Idioten wie Brad.
Beim Frühstück setze ich mich zu Matt und Jess, die sich anscheinend bereits kennen. Stumm würgen wir unseren Haferschleim hinunter. Meinen Kopfverband habe ich heute zum ersten Mal abgelegt, doch unter meiner Uniform bilden sich bereits riesige Blutergüsse und Schorf, sodass ich ihn dort lieber dran gelassen habe.
Bis jetzt war ich noch nicht bereit in den Spiegel zu schauen, denn ich will ehrlich nicht sehen, wie erbärmlich ich aussehe. Matt erzählte mir, dass ich bereits drei Tage verpennt hatte und der Sergeant kurz davor war, mich aus dem Bett zu treten, doch dann bin ich ja zum Glück aufgewacht. Eine sehr nette Sanitäterin namens Molly untersuchte mich noch einmal, bevor ich vollkommen am Training teilennehmen durfte und gab mir eine ganze Dose Schmerztabletten. Sie bestand darauf, mich noch ein paar Tage zu schonen, da mein Rippenbruch und -prellungen noch nicht soweit verheilt waren, dass ich in der Lage war wieder loszulegen, doch der Sergeant verpasste ihr eine Ohrfeige und ließ mich als Strafe eine Einheit Liegestütze machen. Ich war kurz davor auf ihn loszugehen, weil er Molly geschlagen hatte, doch ich besann mich eines Besseren, sonst wäre ich wieder bei den Soldaten hinterm Gebäude gelandet.
Das Gute ist, dass die Experimente bis jetzt noch nicht begonnen haben, da wir erst einmal alle ein körperliches Leistungsniveau erreichen müssen. Dafür quälen uns die Sergeant durch ihre Übrungen, doch dass macht mir nichts aus, solange wir mit den Tests noch eine Weile verschont bleiben. Immer wieder versuche ich, mit Matt und Jess einen Fluchtplan auszutüfteln, doch jeder Weg scheint vergebens.
Der Sergeant steht plötzlich in der Doppeltür des Essensaals und mit einem Mal wird es mucksmäuschenstill. Das Besteck wird beiseitegelegt und die angeregten Gespräche werden eingestellt. Jeder achtet nur noch auf den großen Mann mit den vielen Abzeichen an der Brust und den grauen akkurat sitzenden Haaren. Bedächtig schreitet er durch die Reihen und baut sich schließlich vor der Essensausgabe auf. Jedem von uns ist ein Ausdruck der Angst ins Gesicht geschrieben und das lässt den Sergeant grinsen. Ich sehe die Befriedigung, über die Macht, die er besitzt in seinen stahlblauen Augen funkeln.
„Rekruten, ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass heute eine ganz besondere Übung auf dem Plan steht. Ich erwarte euch alle in 2 Minuten vor diesem Gebäude in voller Montur.“, seine Stimme donnert wie ein Peitschenhieb durch den flachen Raum. Nachdem seine hallenden Schritte hinter der Tür verklungen sind, springen alle panisch auf und stürmen in ihre Kasernen. Ich schlage mich mit Matt und Jess durch das Getümmel, sodass wir als einige der Ersten wieder ans Tageslicht kommen. Die eiskalte Luft verschlägt mir sofort den Atem und ich muss erst einmal tief Luft holen, bis ich weiter rennen kann. Wir sprinten quer über das Gelände vorbei an Einheiten von Soldaten, die über die Parcours im Matsch hechten und an Schießständen, deren laute Schüsse uns noch ein ganzes Stück verfolgen.
„Das ist voll unfair, unsere Kaserne liegt ganz am Ende des Geländes und wir haben genauso wenig Zeit wie die Anderen.“, keucht Matt neben mir und ich werfe ihm einen schnellen Blick zu.
„Ist dir schon mal aufgefallen, dass es denen egal ist, ob etwas fair ist?“, schnauft Jess und streicht sich einige, verirrte Haarsträhnen aus der Stirn, während sie ihr Tempo anzieht und uns überholt. Vollkommen außer Atem treffen wir ein und schmeißen uns in unsere Kampfmontur. Ich reiße mein Metallschließfach auf, das im hinteren Bereich der Kaserne mit den anderen in einem großen Block steht und schnappe mir mein Gewehr, bevor wir wieder zurück über den Platz hechten. Das Gras ist noch gefroren und die Sonne hat erst einige rosafarbene Strahlen über den Himmel entsandt.
Die niederschmetternden Stimmen der Sergeants knallen über den Platz und schreien Schimpfwörter und Befehle, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe.
Mit den schwarzen Gewehren in den Armen setzen wir unseren Rückweg fort und kommen an anderen vorbei, die eben erst in ihre Kasernen eingetroffen sind.
Eilig ordnen wir uns in die bereits vorhandene Reihe ein und nehmen die übliche stramme Haltung an. Der Sergeant hat sich bereits vor uns aufgebaut und blickt auf die Stoppuhr in seinen großen Pranken, als die letzten von uns keuchend ankommen und sich in die Reihe einordnen wollen.
„Hiergeblieben ihr kleinen Lahmärsche! Für euch Missgeburten habe ich eine besonders schöne Aufgabe.“ Drohend baut er sich vor einem Jungen auf, der mindestens drei Köpfe kleiner ist als er selbst. Mit den schlotternden Knien und dem Gewehr in seinen dünnen Armen, das fast größer wirkt, als er selbst würde ich ihn höchstens auf vierzehn schätzen. „Und wenn ich schön sage, dann meine ich grauenvoll und so qualvoll, dass du dir am Ende deine Lunge aus dem Leid kotzt, verstanden?“, brüllt er und ich sehe, wie der Junge nochmals mehrere Köpfe zusammenschrumpft. „Sir, Ja, Sir.“, antwortet er flüsternd und wird mit ein paar anderen Zuspätkommern vom Sergeant weggeschliffen.
Nach einer Weile kommt er wieder und lässt uns hinter ihm her joggen. Er fährt in einem Jeep und beleidigt uns über ein Megafon, während wir im Gleichschritt hinter ihm her traben. Mein Gewehr schlägt mir bei jedem Schritt schmerzhaft gegen meine stechenden Rippen und sorgt für ein leichtes Schwindelgefühl in meinem Kopf, doch ich weiß bereits, was der Sergeant mit Ratten macht, die beim Joggen zusammenbrechen.
Der alte Jimmy, so wie wir ihn irgendwann genannt haben, ist vor ein paar Tagen bei einem Morgenlauf zusammengebrochen und konnte nicht mehr atmen, weil er an Asthma litt. Dazu kam, dass Jimmy einer von den etwas beleibten Jugendlichen war und generell schon keine gute Ausdauer besaß, da war es ja nicht weit hergeholt, dass er irgendwann schlapp machen würde.
Viele von uns hielten natürlich an, um ihm zu helfen und bekamen sofort eine Einheit Liegestütze und eine weitere Runde um das Gelände verordnet. Natürlich fragten wir uns alle, was der Sergeant mit Jimmy machen und ob er die Sanitäter rufen würde. Stattdessen brüllte er uns an, warum wir denn nicht weiter liefen und ignorierte den am Boden liegenden Jungen einfach, der vor sich hin röchelte. Widerwillig gehorchten wir dem Sergeant und sahen uns noch öfter nach Jimmy um, obwohl wir schon längst außer Sichtweite waren. Als wir später von unserer Runde zurückkamen, war der alte Jimmy bereits tot. Wir beobachteten wie er von einer Einheit Soldaten davongetragen wurde.
Die Bilder werde ich nie vergessen. In diesem Moment hätte ich dem Sergeant gerne das leichte Lächeln aus seinem Gesicht geschlagen, doch damit hätte ich mich nur noch mehr in Schwierigkeiten gebracht. Und der Junge war ja ohnehin bereits tot. Traurig, aber wahr.
Der Schweiß läuft mir bereits aus allen Poren und klebt meine Haare auf der Stirn fest, als wir an einem entfernten Waldstück ankommen. Ich wusste gar nicht, dass das Gelände so riesig ist. Der Sergeant schaut von seinem Jeep auf uns erschöpfte Gestalten nieder und erklärt uns die Übung, die uns bevorsteht.
Nachdem er fertig ist, teilt er uns in Gruppen von vier Personen ein und ich komme mit Jess, Matt und Brad in eine Gruppe. Ich mustere Brad abschätzig und frage mich, wie das mit diesem Vollidioten werden soll. Grinsend klopft er mir so hart auf den Rücken, dass ich das Gefühl habe, dass meine Rippe erneut bricht.
„Na, Leichenjunge, das wird sicherlich ein Spaß mit uns beiden.“, flüstert er mir ins Ohr. Gleich darauf muss die erste Gruppe in den Wald laufen und wir achten gespannt auf die Geräusche, die aus der Ansammlung an Bäumen zu uns dringen. Schüsse und Schreie weht der kalte Wind zu uns hinüber und die kahlen Bäume erinnern mich mehr an die knorrigen Arme der Toten, die der Wald beherbergt und die uns in ihn hineinziehen wollen. Matt rückt ein Stück näher zu mir.
„Und… das ist jetzt wie beim Paint Ball, bloß mit echter Munition?“, fragt er leise und schluckt heftig. Auch ich kann nur auf die dunklen Stämme der Bäume starren, indes eine ekelhafte Abscheu für diese Übung in mir aufsteigt. „Sieht so aus.“, erwidere ich und schnalle meinen Helm auf dem Kopf fest. Jess nimmt meine Hand und sieht mich an. Ihre Brille ist verrutscht und sitzt schief auf ihrer Nase, doch diesmal schiebt sie sie nicht zurecht.
„Neo?“ „Ja?“ Sie wirft dem Wald einen Blick zu und zuckt bei dem nächsten Schrei zusammen. Ich drücke ihre Hand. „Ich möchte, dass du auf jeden schießt, der uns zu nahe kommt, okay?“ Ich nicke ernst und umklammere mein Gewehr fester. Mein Herz pumpt stark in meiner wunden Brust und die Spannung lässt nicht nach, auch nicht als der Sergeant unsere Gruppe aufruft. „Ich bin mal gespannt, wer von euch das überlebt.“, gibt er uns mit auf den Weg in den Wald.