Читать книгу Rattenjagd - Charleen Pächter - Страница 6

Jamie

Оглавление

Ich lasse den Wald langsam hinter mir und schleiche eine kleine Landstraße entlang. Geduckt gehe ich schnellen Schrittes neben dem Asphalt her und halte den Kopf gesenkt. Mein Magen knurrt, doch meine gesamten Vorräte musste ich in der Eile zurücklassen. Der Frost kriecht über die Felder zu meiner Rechten und lässt meine Umgebung hart und stumpf aussehen, doch wenn sich ein morgendlicher Sonnenstrahl einen Weg durch die dichten Wolken bahnt, glitzern die Eiskristalle in dem Meer aus Grashalmen, das sich um mich erstreckt und nur durch die schmale Straße durchbrochen wird. Wenn ich vor der Dämmerung nicht in der nächsten Stadt bin, werden sie mich finden. Ich lege einen Zahn zu und beschleunige meine Schritte.

Ein rostiger Cadillac rumpelt an mir vorbei und ich drücke mein Gesicht noch ein Stück tiefer in die gefrorene Erde. Nachdem er um die nächste Kurve verschwunden ist, rapple ich mich wieder auf, schultere mein M16 und führe meine schleunige Wanderung fort. Die Sonne steht nun schon etwas höher am Himmel und hat die schwarze Dunkelheit komplett vertrieben, nur unter den vereinzelten Bäumen, die ihre kahlen Äste in dem eisigen Wind wiegen, findet man Schatten der Nacht. Ich vergrabe meine Hände tief in meinen Hosentaschen und spüre einen kleinen schmalen Gegenstand zwischen meinen Fingern. Ein Projektil.

Vor ein paar Monaten, als ich noch nicht vollkommen allein war, waren meine Mom, Neo und ich auf der Flucht. Später erfuhren wir von Basis Alpha. Der vermeintlich einzig sichere Ort, der Schutz für uns Ratten bietet.

Nachdem im Juni das Einzugsgesetz erlassen wurde und die ersten Kinder in den Sammelstellen abgeben wurden, dauerte es nicht lange, bis Präsident Aloun ein Abkommen mit den Vereinten Nationen schloss. Dieses Abkommen basierte auf einem Handel, der beiden Seiten zugute kam. Die Vereinten Nationen verpflichteten sich, unser Land mit dem Notwendigen zum Überleben wie Lebensmittel oder Kleidung zu versorgen, während unser Land in eine völlige Isolation abtauchte.

Im Gegenzug versprach Aloun alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Ausbreitung des Anger- Virus zu unterbinden und die USA soweit abzuschotten, dass das Risiko möglichst gering blieb. Die Proteste und Demonstrationen nahmen ein schlimmes Ausmaß an, während die Politiker ihre schnöden Verträge schlossen, die Zahl der Opfer stieg immer weiter, bis das ganze Land im Chaos versank. Als der Winter hereinbrach, flüchteten wir schließlich und statteten uns mit Waffen aus.

Die Research Station of Army stampfte eine Spezialeinheit aus dem Boden, die alle Minderjährigen finden und in die militärischen Einrichtungen bringen soll, in denen versucht wird, die gefährlichen Viruszellen davon abzuhalten, in den Köpfen der Kinder herumzuspuken. Meine Familie ist im letzten Jahr das Wichtigste für mich geworden und doch bin ich daran Schuld, dass ich sie verloren habe.

Ich fühlte, dass etwas nicht stimmte, bevor wir auch nur einen Schritt in die Nähe des Gebäudes gesetzt hatten. Doch ich verdrängte das Gefühl und redete mir ein, dass ich paranoid sei, aber die kleine Stimme in meinem Kopf sollte Recht behalten.

Es stimmte etwas ganz und gar nicht mit dem Gebäude, in dem wir unser nächtliches Lager aufschlagen wollten.

Es handelte sich bei dem Gebäude um eine schicke Kirche, die durch ihre trostlose Umgebung ihren Glanz verloren hatte. Merkwürdigerweise fühlten wir uns zu diesem Haus Gottes hingezogen, wahrscheinlich dachten wir, dass uns in einer Welt der Zerstörung trotzdem der Schutz des Glaubens sicher war.

Ich will nicht benennen, was es war, dass uns auf genau dieses Gebäude zuzog, nein, ich kann gar nicht benennen, was es war, vielleicht so etwas wie Hoffnung. Und trotzdem schien uns dieses Gebäude, umgeben von der Einsamkeit des Todes die richtige Wahl, um eine Nacht lang die Kräfte zu regenerieren.

Neo öffnete die große Tür mit einem unheimlichen Quietschen und betrat den polierten Marmorfußboden, der unsere ausgehungerten Körper widerspiegelte. Mom machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem oder nur etwas Wasser, das wir zu uns nehmen hätten können, ja sogar Weihwasser hätte ich gierig verschlungen.

Denkst du, wir sind hier sicher?“, fragte Neo, breitete eine Decke auf einer der Gebetsbänke aus und sah sich misstrauisch um.

Ich weiß nicht, ich hatte vorhin so ein komisches Gefühl, das ...“ Ein Schrei, hoch und einem Sterbensschrei gleichend ließ mich innehalten. Neo erstarrte in seinen Bewegungen und schlich lautlos wie eine Katze durch die schmalen Gänge, durch die kurz zuvor unsere Mom gewandelt war. Eine dunkle Ahnung legte sich über mich und schnürte mir die Luft ab. Ich folgte ihm und zusammen betraten wir einen Raum, der mir immer in Erinnerung bleiben wird, solange ich lebe. Ein Soldat stand neben Mom, die Waffe auf sie gerichtet. Zwei weitere traten hinter uns durch die Tür, ihre Waffen bereit.

Neos Finger am Abzug seiner Glock, die er in der Hand hielt, zitterte und seine Augen waren weit aufgerissen, auf Mom gerichtet. Meine Mom war kreidebleich und sah mich eindringlich an, sie nickte kaum merklich mit dem Kopf, bevor der Soldat das Wort an uns richtete. Seine Uniform war komplett in Schwarz gehalten und mit einigen Fächern und Schlaufen für Waffen und Munition ausgestattet. Eine Maske bedeckte sein Gesicht, nur die Augen schauten uns stechend an.

Sie sind festgenommen. Madame, bitte treten sie zur Seite, damit wir die Zielpersonen abführen können.“ Er wandte sich Mom zu und nickte beruhigend.

Es ist besser so, Madame, glauben sie mir.“ Ich tauschte einen wissenden Blick mit Neo und dann ging alles ganz schnell. Ein Schrei zerriss dieses grausame Schauspiel, das Mutter und Kinder entzweireißen sollte, als ich den Abzug an meinem Finger spürte und mich der Rückschlag meines Gewehrs gegen die Wand presste. Der Soldat hielt sich die Schulter, Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch, die anderen beiden hatte Neo bereits erschossen. So leicht würden sie uns nicht mitnehmen können, nicht ohne Gegenwehr. Dies hatte uns der raue Kampf ums Überleben in den letzten Monaten gelehrt. „Beruhigt euch. Ich will euch nichts tun. Dort wo ich euch hinbringe, wird es euch besser gehen, begreift es doch.“ Beschwichtigend hob er die Schultern und krümmte sich unter den Schmerzen zusammen.

Sie werden uns niemals einbuchten, das können sie vergessen.“, feuerte ich ihm entgegen und klammerte mich an meine Waffe. Plötzlich schnappte sich der Soldat unsere verängstigte Mutter und benutzte sie als Schutzschild. Der Lauf seiner Handfeuerwaffe presste sich zwischen Moms Schulterblätter. Wütend funkelten uns seine blauen Augen an. „Ihr habt es nicht anders gewollt. Entweder ihr kommt mit mir oder ich kann nicht für die Sicherheit eurer Mutter garantieren.“ Neos Kieferknochen mahlten, während seine Augen hin und her huschten und einen Ausweg suchten.

Bitte, das können sie doch nicht tun. Sie sind doch noch Kinder.“, flehte meine Mom und hielt sich ganz still vor der Brust des Soldaten.

Madame, es tut mir inständig leid, aber sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Was ist nun? Kommt ihr mit oder nicht?“

Langsam sanken unsere Waffen nach unten, wir waren uns beide einig, uns abführen zu lassen, wenn er unsere Mom freiließ. Doch wir fixierten die müden Augen unserer Mutter. Erst schüttelte sie entschlossen den Kopf, nickte dann und lächelte sanft, als würde sie uns zu verstehen geben, dass sie uns immer lieben würde, egal was passierte.

Sie gab uns zu verstehen, dass es okay sei, dass sie sich es so wünschte, damit wir weiterleben konnten. Das Bild wie sie nickte, brannte sich in meinen Kopf ein und Neo vergewisserte sich mit einem Blick, dass auch ich die stille Botschaft unserer Mom verstanden hatte. Wieder dauerte alles nur einen Wimpernschlag. Ich presste die Augen aufeinander, um nicht zusehen zu müssen, was ich tat.

Etwas, das ich mir nie verzeihen würde können und das unsere Mom doch genau so wollte. Neo und ich hoben die Waffen und drückten ab, der Soldat ging endgültig zu Boden. Das, was ich befürchtet hatte, war eingetreten. Mom klappte ruckartig zusammen und wir stürzten beide sofort zu ihr. Ihre Stirn war schweißnass und so weiß wie der Schnee, der draußen auf die Erde nieder fiel. Blut lief ihren Bauch hinab und tränkte ihre Klamotten ganz dunkel. Ich riss meinen Blick von ihr los und betrachtete stattdessen meinen Bruder, der neben mir hockte und Tränen in den Augen hatte. Wir nahmen ihre Hand und strichen ihr sanft über die Haare. Verzweifelt entwich mir ein Schrei. Tränen sammelten sich in meinen Augen, doch ich wischte sie fort.

Nein… Mom… bitte…“, nur ein ersticktes Flüstern und das Rütteln meiner Brust beim Schluchzen erfüllte die Stille. „Es tut mir so leid, Mom. Es tut mir so leid.“, meine Stimme klang leise und hoch. Panisch versuchte ich, mit meiner Jacke ihre Blutung zu stoppen, doch meine Mom hob mit ihrer letzten Kraft ihre Hand gegen meine. Ihre Geste ließ mich innehalten. „Es ist nicht deine Schuld, Jamie. Ihr tragt keine Schuld. Es ist okay ... Ich wollte es so. Es ist okay ...“ Sie hustete und ein ungesundes Gurgeln drang aus ihrer Kehle, Blut lief ihren Mundwinkel hinab.

Ihr müsst ... verschwinden. Bringt euch in Sicherheit ... Bitte.“, ihre Lippen waren von der Kälte so trocken, dass sie aneinanderklebten, als sie uns die Worte entgegen wisperte. Ich spürte, wie mir Tränen über die eiskalten Wangen glitten und auf dem verstaubten Boden auftrafen. Ich drückte ihre Hand, um ihr Trost zu schenken. Schmerzenslaute drangen über ihre Lippen, während wir sie hielten und sie an die Decke starrte.

Ich hab dich lieb, Mom.“, flüsterte mein Bruder und küsste sie auf die Stirn. Mom schloss ihre Augen, die Augen, die mich mein ganzes Leben begleitet hatten und die ich nie wieder sehen würde. „Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen.“, flüsterte ich, während jeder Funken Leben aus ihrem Körper sickerte und nur Spuren der Erinnerungen hinterließ. Tränen rannen mir über die Wangen und tropften auf ihren leblosen Körper. Ihre Brust hatte aufgehört sich zu heben und auch Neo beugte sich nun über sie und weinte stumm. Es war einer dieser Momente, die man am liebsten vergessen und doch immer in Erinnerung behalten will. Lange saßen wir noch so da und trauerten unserer Mutter hinterher, bis wir uns zusammenrafften und ihren letzten Wunsch erfüllten.

Eine gute Stunde bevor die Dämmerung hereinbricht, komme ich in einer kleinen Stadt an, dessen Häuser noch halbwegs intakt zu sein scheinen. Die meisten Knotenpunkte der früheren Gesellschaft wirken menschenleer, doch oft gibt es geheime Lager oder Häuser, in denen eine kleine Gruppe von Jugendlichen oder Kindern kauert und auf das Ende dieser Hölle wartet. Dicke weiße Flocken sinken auf mich nieder und bilden helle Tupfen in meinem dunklen Haar. Ich vergrabe mein Kinn in meinem Schal und flüchte in einen Supermarkt, dessen Eingangstür ich gründlich mit leerstehenden Regalen verrammele.

Ich will nicht noch einmal mitten in der Nacht von einem verbitterten Elternteil überrascht werden. Ich verkrieche mich in die hinterste Ecke des großen Ladens und richte meinen Schlafsack auf dem Boden zurecht.

Dann schlüpfe ich hinein und mache es mir mit meiner M16 in dem einen Arm und einer großen Packung Salzstangen im anderen bequem. Langsam ist es draußen komplett dunkel geworden, nur ein paar vereinzelte Laternen am Straßenrand flackern hin und wieder und werfen ein schauriges Licht in den Laden, dessen Regale lange Schatten an die Wände malen. Ich höre einen Wolf heulen und betrachte die vielen geplünderten und umgestoßenen Regalreihen, zwischen denen früher Mütter mit ihren Kinderwagen geschlendert sind. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich das letzte Mal einkaufen war, jetzt wünsche ich mir die Normalität des einfachen Lebens zurück, die ich früher verabscheut habe.

Ich liege noch lange so da, stopfe Salzstangen in mich hinein und starre an die Decke. Meine steifen Finger spüre ich schon seit Tagen nicht mehr richtig, doch irgendwann gewöhnt man sich daran. Ich schließe meine Augen und umklammere mein Gewehr noch ein Stückchen fester. Basis Alpha. Das ist mein Ziel. Das Ziel, von dem jedes Kind und jeder Jugendliche träumt. Es heißt, dass der Anführer dieser Rebellengruppe das Versteck eigenhändig aufgebaut und organisiert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob die Gerüchte um die Sicherheit an diesem Ort hundertprozentig stimmen und auch den genauen Aufenthaltsort dieses Unterschlupfs kennt niemand genau, doch ich habe eine gewisse Richtung, in die ich will und das scheint noch meine einzige Hoffnung zu sein.

Und dann werde ich Neo finden.

Ich nehme die Straße, die auf den Highway führt und folge ihr. Links und rechts der vierspurigen Asphaltschlange bieten mir dichte Wälder einen guten Sichtschutz, wenn man davon absieht, dass die Äste kahl sind. Ich stiefle am Rand des Highways entlang und verberge mich in den Schatten der Stämme, damit mich die paar vorbeifahrenden Autos nicht sehen können. Nur selten rauscht ein Fahrzeug vorbei, denn in den Städten wohnt ja niemand mehr. Nachdem Präsident Aloun den Notstand ausgerufen hatte, wurden alle Erwachsenen in spezielle Zeltlager an den Rändern der großen Städte gebracht.

Dort werden sie alle rund um die Uhr bewacht, damit sich auch kein Kind an sie heranwagt. Manche Eltern haben ihre Kinder freiwillig den Huntern übergeben, andere hat man erschossen, als sie sich weigerten ihre Kinder auszuliefern und manche ließen ihre Kinder einfach zuhause zurück und brachen zu den Sammelpunkten auf.

Aber selten gab es auch Eltern, die mit ihren Kindern fliehen und sich gemeinsam verstecken oder auswandern konnten. Meine Mom war eine der Wenigen, die versucht hat uns zu beschützen, doch sie ließ ihr Leben dabei. Vielleicht hätte sie uns auch einfach zurücklassen sollen, dann wäre sie wenigstens noch am Leben.

Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, das milchige Licht bricht sich in den gefrorenen Pfützen, die sich am Straßenrand gebildet haben und mein keuchender Atem geht rasselnd. Meine Wangen brennen von der Kälte und die Haarsträhnen, die aus meiner Mütze schauen, sind leicht eingefroren. Vögel huschen zwischen den Ästen hindurch und erinnern mich an einen Waldspaziergang im Sommer, als ich noch kleiner war.

Damals war man so sorglos und nur mit den banalen Gedanken einer scheinbar unzerstörbaren Welt erfüllt. Das Einzige was mich damals interessierte, war, welches Eis ich am liebsten aß oder warum mein Bruder nicht mit mir spielen wollte.

Jetzt denke ich nur noch daran, ob ich auch genug Munition bei mir trage und was ich mache, wenn mich wieder ein Hunter erwischt. Meine Füße schmerzen, daher lege ich eine kurze Pause am Straßenrand ein. Erschöpft lasse ich mich gegen einen Ahornstamm sinken und nehme ein paar Schlucke aus der Flasche, die ich mit vielen anderen Sachen aus dem Supermarkt hab mitgehen lassen. Den Ladenbesitzer interessiert das jetzt sowieso nicht mehr. Ein surrendes Geräusch ertönt über mir und ich hebe den Kopf, um die silbrig glänzende Drohne zu sehen, die ganz weit über mir, hoch über den Baumgipfeln durch die Luft schwirrt. Als ich die Augen zusammenkneife, kann ich sogar die kleine farbige Flagge auf der Flanke der Drohne erkennen, die sie als Besitz der Vereinten Nationen kennzeichnet. Da unser Land komplett abgeschottet ist und niemand hinein- oder hinauskommt, ist es nur noch den Vereinten Nationen möglich, Informationen über unsere Situation zu erhalten, indem sie Drohnen hierherschicken und sie Aufnahmen aufzeichnen lassen.

Ich forme mit einer Hand einen Schneeball und werfe ihn auf die Straße.

Dort zerplatzt er zu abertausenden Bruchstücken und matscht zu der einheitlichen schlammigen Masse, die sich auf dem grauen Grund angesammelt hat.

Seufzend stemme ich mich nach einer Weile wieder hoch. Plötzlich ertönt ein Schuss und ich ziehe instinktiv den Kopf ein. Ein Schwarm Krähen fliegt aufgescheucht von den Ästen herunter und zieht seine Kreise über den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Mein Herz schlägt dumpf in meiner Brust und ich presse den Lauf meines Gewehrs an meinen Körper. In den letzten Monaten voller Flucht und Angst ist es wie ein Teil meines Körpers geworden. Mein Beschützer. Ich hocke mich auf den Boden und luge hinter einem Stamm auf die Straße, die ganz still daliegt. Nirgends ist ein Auto zu sehen, dass über den rissigen Boden rattert und Schneematsch zu allen Seiten spritzt.

Was mache ich, wenn sie mich gefunden haben und das ein Warnschuss war?

Hektisch sehe ich mich um, doch außer lauter Bäumen und Büschen erkenne ich nichts, wo ich mich verstecken könnte. Was soll ich nur tun?

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich gespannt auf die Straße und warte, dass irgendetwas passiert. Irgendetwas, egal ob es Hunter sind, die mich erschießen, es soll einfach irgendetwas passieren, damit diese ätzende Spannung endlich endet.

Es ist, wie der Moment bevor man von dem Fünfmeter Turm im Freibad ins Wasser springt. Man steht auf der Betonplatte, die Zehen um die Kante gekrallt und starrt hinunter in die Tiefe. Und im Inneren herrscht ein Kampf gegen einen selbst.

Doch schließlich nimmt man sich zusammen und wagt den Sprung nach unten. Man spürt, wie einen das Wasser verschluckt und auf der Haut prickelt. Nach wenigen Zügen taucht man wieder auf und schnappt nach Luft. Und noch während man zum Beckenrand schwimmt, erkennt man, wie viel Spaß dieser Sprung, diese Überwindung gemacht hat. Und man zieht sich, triefend vor Wasser aus dem Becken und stellt sich gleich noch einmal an dem Sprungturm an. Süchtig nach der Überwindung, nach dem Gefühl des Sprunges, nach dem Auftauchen und dem Luftschnappen.

Plötzlich erkenne ich Schemen, Schatten von bewaffneten Männern, die sich durch das Unterholz schlagen, auf dem Weg zur asphaltierten Betonschlange, die sich wie eine von Gott auferlegte Strafe durch die dichten Wälder zieht und die wunderschöne Natur zerschneidet. Das Grollen eines Motors rollt heran und dröhnt in meinen Ohren.

Mein Herzschlag nimmt zu und der kalte Schweiß klebt an meinen Händen. Schüsse knallen auf der anderen Straßenseite und übertönen die Geräusche des nahenden Autos. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, wie aus dem Nichts springt ein Junge aus dem Gebüsch und rennt auf die Straße zu. Seine dunkle Haut ist sehr gut in dem weißen Nichts aus Schnee erkennbar. Zu gut. Gefährlich gut. Kugeln fliegen ihm um die Ohren und zersplittern das Holz auf meiner Straßenseite. Der Typ hat einen gehetzten Blick in den schwarzen Augen und steuert geradewegs auf die andere Seite des Highways zu.

Meine Seite. Stimmen rufen ihm drohend zu und noch mehr Schüsse lassen mich zusammenzucken. Hunter erscheinen zwischen den dunklen Stämmen der Eichen auf der anderen Seite und bahnen sich einen Weg über den Randstreifen auf den Highway zu.

Die Gewehre in der Hand, ratternd, schießend.

Der Typ sprintet um sein Leben, er hechtet, die letzten paar Meter, als ein Auto herbei rauscht und mit einer Vollbremsung vor ihm zum Stehen kommt. Der Fahrer gestikuliert laut hinter seinem Steuer, doch der Junge steht nur da, vor der Motorhaube und starrt wie hypnotisiert auf die Stoßstange des Wagens.

Ich rapple mich auf, atme tief durch und lege den Finger an den Abzug meines Gewehrs. Das ist meine Chance. Meine Chance, von hier zu verschwinden, meinem Leben den Rücken zu kehren und Neo zu finden. Und ich werde sie nicht verstreichen lassen.

Mein Herz klopft, ich stolpere den leichten Abhang zu der Straße hinauf und fuchtle wild mit meinem freien Arm. Ich mache einen Schritt, ich stehe an der Kante des Sprungbretts, ich sehe hinunter in die Tiefe des Wassers. Ich spüre den harten Untergrund der Straße unter meinem Schuh und ich springe, ich springe in die Fluten und überwinde mich, um das zu erreichen, was ich will, um aus dem Wasser auftauchen und das Leben schmecken zu können. „Hey! Beweg dich! Los rein in das Auto! Mach schon!“, schreie ich und stürme unter einem Kugelhagel, der zur Hälfte von dem SUV verschluckt wird auf den Typen zu. Dieser schreit schmerzerfüllt auf, als ihn eine Kugel in den Arm trifft, doch wenigstens ist er endlich aus seiner Starre erwacht. Er sieht mich an und stürmt zu der Fahrertür. Schlitternd komme ich zum Stehen und ducke mich hinter das Fahrzeug, unser einziger Schutz vor dem Kugelhagel. Wütend packt der Junge den Mann, der verängstigt hinter dem Steuer sitzt, am Kragen seines gestreiften Hemdes und wirft ihn regelrecht auf die Straße. „Los rein da!“, brüllt der Junge und gleich darauf lasse ich mich auf die Rückbank des SUV fallen. Im selben Augenblick, in dem ich meine Tür zu reiße, drehen die Räder des Wagens durch und wir rasen über den Highway davon.

Die Kugeln schlagen immer noch in das Heck des Fahrzeuges ein, weshalb ich mich flach auf die Rückbank lege und meinen Kopf schütze, doch bereits nach wenigen Minuten haben die Soldaten aufgegeben und der Beschuss stellt sich ein.

Langsam richte ich mich auf und kralle meine eisigen Finger in den dunklen Stoff des Sitzes. Ich glaube einfach nicht, was gerade passiert ist. Verwirrt und vollkommen verängstigt breche ich in ein hysterisches Lachen aus, das über das Dröhnen des Motors merkwürdig geisteskrank wirkt.

Doch zu meiner Überraschung dreht sich der Typ am Steuer zu mir um, schenkt mir ein breites strahlendes Grinsen, richtet seinen Blick wieder auf die Straße und fällt in meinen Lachanfall mit ein.

Sobald wir weit genug vom Highway entfernt sind und über eine einsame Landstraße hinweg tuckern, bricht der Junge am Steuer das Schweigen, das nach unserem hysterischen Lachanfall den Wagen dominiert hatte.

„Wir sollten das Fahrzeug wechseln. Sie werden unser Kennzeichen kennen und möglichst schnell die Verfolgungsjagd aufnehmen.“

Ich nicke bestätigend, obwohl er mich gar nicht sehen kann. Kurze Zeit später hält er in einem kleinen Dorf und schließt einen verlassenen Truck mit Ladefläche kurz. Ich schaue ihm dabei über die Schulter und versuche zu verstehen wie er das macht.

Nachdem der Motor angesprungen ist, macht der Typ Anzeichen sich wieder hinter das Steuer zu setzen, doch ich entdecke im selben Moment das Blut, das aus einem Loch in seiner Jacke quillt. Jetzt erst fällt mir wieder ein, dass er angeschossen wurde.

Gequält lächelnd sieht er mich an, als ich ihn auffordere mir die Wunde zu zeigen. Meine Mom war früher Ärztin und sie hat mir Einiges beigebracht.

„Ich wollte erst mal so schnell und so weit wie möglich von dort weg und mich erst später darum kümmern.“, rechtfertigt er sich. Tadelnd sehe ich ihn an, während er seine Jacke auf die Ladefläche legt und den Ärmel seines Hemdes nach oben rollt.

„Und was wäre passiert, wenn du am Steuer ohnmächtig geworden wärst? Dann könnte dich selbst das Fliehen nicht mehr retten.“ Ich hebe seinen Oberarm an und untersuche die Rückseite. Er verzieht das Gesicht, als ich ein wenig auf seinem Arm herumdrücke. „Hmm… Das ist schlecht. Die Kugel ist nicht glatt durchgegangen, sondern stecken geblieben. Wir müssen sie rausholen, sonst entzündet sich das.“

Geschockt sieht er mich an und schaut auf seinen Arm, über den das dunkelrote Blut läuft und in den weißen Schnee tropft.

„Du willst ernsthaft das Ding aus meinem Arm pulen?“, fragt er mich irritiert und stützt sich am Auto ab, um besseren Halt zu finden. Bestimmt hat er schon eine Menge Blut verloren. Ich gehe um den Truck herum und hole meinen Rucksack heraus.

„Ja, das will ich. Oder willst du deinen Arm verlieren?“

Ich krame Verbandszeug, Schmerztabletten und Desinfektionsmittel heraus, das ich mal mit Neo in einem leerstehenden Krankenhaus abgestaubt habe. Mittlerweile hat sich eine kleine Pfütze dunklen Blutes in dem Schnee gesammelt und ein Zittern läuft durch den Körper des Jungen. Ich schätze, er ist ein paar Jahre älter als ich, doch durch den ängstlichen Ausdruck in seinem Gesicht wirkt er deutlich jünger. Kein Wunder, ich will ihm ja auch eine Kugel aus dem Arm pulen. Ich halte ihm meine Flasche und drei Schmerztabletten hin. „Schluck das. Dann geht es nachher besser.“

Gierig spült er die Tabletten hinunter, indes ich seinen Arm abbinde, um so den Blutfluss zu stoppen. „Okay. Du solltest dich vielleicht hinsetzen. Ich weiß nicht, ob du aufrecht stehen kannst, wenn ich…“ „Ja, ich weiß, was du meinst.“, unterbricht er mich und lässt sich am Truck nieder. Mit dem Rücken an den Reifen gelehnt sitzt er da und kneift die Augen zusammen. Ich reibe mir meine Hände mit Desinfektionsmittel ein und gebe etwas davon auf seine Wunde. Er zuckt zusammen und ein Zischen dringt aus seinem Mund, als das Brennen einsetzt.

„Bevor ich anfange, muss ich dich noch etwas fragen.“

Mit geschlossenen Augen lächelt er mich an. „Alles was du willst.“

„In welche Richtung soll ich fahren?“ Verwirrt blickt er mich an, kurz bevor das Verstehen in seinen braunen Augen aufblitzt und er sie wieder schließt.

„Ist mir egal. Hauptsache weg von diesen Soldatenärschen.“ Schmunzelnd ziehe ich sein Hemd noch ein wenig höher und greife mit Daumen und Zeigefinger in die Eintrittstelle. Das warme Blut klebt an meinen Fingern. Ein Schrei entfährt dem Jungen und er muss sich zusammenreißen, um nicht den Arm wegzuziehen. Ich schnappe mir mit der freien Hand ein Stück Verbandszeug und halte es ihm vor den Mund.

„Hier beiß da drauf. Und halte den Arm still, denk dran, es ist besser, wenn das Mistding draußen ist.“

Ein Glucksen dringt über seine Lippen, obwohl alle Farbe aus seinem dunklen Gesicht gewichen ist. Er strampelt mit den Beinen und die erstickten Schreie drängen mich, mich zu beeilen. Schweiß perlt von seinem bleichen Gesicht, während ich mich mit meinen Fingern tiefer in die Wunde grabe und plötzlich etwas Hartes an meiner Fingerspitze spüre. Leise flüstere ich tröstende Worte, um ihn zu beruhigen. Vorsichtig und mit Bedacht ziehe ich das metallene Projektil aus der Wunde und wische das Blut von meinen Händen ab. Dann reinige ich die Wunde und verbinde sie gut, damit sie heilen kann. Ich schmeiße meinen Rucksack auf den Beifahrersitz und knie mich neben ihn.

„Geschafft. Sie ist draußen. Jetzt musst du nur noch einsteigen und kannst dann schlafen.“ Er nickt und dicke Schweißtropfen laufen über seine Stirn. Ich helfe ihm hoch und bedecke ihn mit seiner Jacke, als er sich auf der Rückbank ausgestreckt hat.

„Schlaf gut.“, murmle ich, doch der Junge ist schon in einen Schlaf voller verschleierter Träume gefallen. Ich setze mich hinters Steuer und gehe im Kopf die einzelnen Fahrstunden bei Jack, meinem ehemaligen Fahrlehrer durch. Schließlich starte ich den Motor und ruckle über die schmale Landstraße durch die Felder dem Horizont entgegen.

Ich sitze am Straßenrand und betrachte die untergehende Sonne, während ich in einen Apfel beiße und Gummibärchen in mich rein stopfe. Mein Kopf ist schwer und meine Finger schmerzen vom Umklammern des Steuers.

Der feuerrote Ball taucht die Landschaft in ein goldenes Licht und lässt die dicke Schneedecke auf dem Feld, das sich vor mir erstreckt, silbrig funkeln.

Die Wipfel der Bäume in der Ferne kitzeln die letzten Sonnenstrahlen, die noch einen letzten Rettungsversuch wagen, doch die Dunkelheit dringt immer weiter vor. Ich strecke die Beine aus und stütze mich auf die Hände, um den Kopf in den Nacken legen zu können und in den Himmel zu sehen.

Das Kerngehäuse des Apfels werfe ich in einem hohen Bogen in das Feld, wo er mit einem leisen Plopp in der dichten Schneedecke verschwindet. Ein Rascheln ertönt hinter mir und meine Finger greifen sofort nach meiner Glock, die ich in kürzester Entfernung auf den Boden gelegt habe. Doch ich erkenne das dunkle erschöpfte Gesicht des Jungen mit der Schusswunde, der sich langsam und bedächtig aus dem Auto schält und die paar Meter zu mir schlurft. „Na, gut geschlafen?“, frage ich ihn mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen und setze mich auf. Ein trockenes Lachen dringt aus seinem Mund, als er sich mühsam neben mich auf den Boden gleiten lässt.

„Na ja, geschlafen kann man das nicht gerade nennen. Ich würde eher bewusstlos verwenden.“ Eine Weile betrachten wir die Sonne, wie sie den Rückzug antritt und mit ihrer flammenden Schönheit jeden Beobachter in ihren Bann zieht. Die Sonnenstrahlen sind ungewöhnlich warm für den Winter, aber die Kälte kriecht trotzdem in jede Spalte meiner Klamotten und verursacht mir eine Gänsehaut.

„Danke.“, sagt er neben mir irgendwann und blickt mir tief in die Augen. Sein Kinn ist recht kantig und die kurz geschorenen schwarzen Locken sind spröde und zerzaust. Eine schwere Müdigkeit liegt in seinem schwarzen Blick und die Verzweiflung, die meine Augen widerspiegeln, treibt mich fast den Tränen nah. Ich wende den Blick ab und fummle mit meinem Handschuh im Schnee herum.

„Wofür?“, frage ich leise und halte ihm die Gummibärchen hin. Gierig greift er hinein und schüttet sich eine Handvoll in den Mund.

„Na, du hast mich gerettet. Gleich zweimal. Erst auf dem Highway, als du mich aus der Starre gerissen hast und dann hast du mir die Kugel entfernt. Auch wenn ich auf diese Erfahrung gerne verzichtet hätte.“ Mit einem Glucksen kaut er auf einem grünen Bärchen herum und beißt ihm den Kopf ab. Ich zucke nur mit den Schultern.

„Na ja, eigentlich war das rein eigennützig. Die Geschichte mit dem Auto kam mir ganz gelegen. Ich wollte sowieso weg von dort und in eine ganz andere Richtung.“ Neugierig mustern mich seine Augen.

„Ach so? Wo willst du denn hin?“ Ich überlege kurz und knete den Schnee zwischen meinen Händen. Sollte ich ihm wirklich meinen Plan anvertrauen? Er ist einer von uns, er wird gejagt, ich glaube, ich kann ihm vertrauen. Zumindest vorläufig.

„Ich suche Basis Alpha. Und dann werde ich meinen Bruder finden.“ Entschlossen sehe ich ihm in das zerschrammte Gesicht, balle meine Hand zur Faust und zerquetsche dabei den Schnee, als ich an Neo denke. Der Junge nickt nur ein paar Mal und betrachtet wieder den Sonnenuntergang. „Ich habe davon gehört und ich war auch auf dem Weg dorthin. Das war das Einzige, das mich noch davon abgehalten hat mich auszuliefern.“

Er schweigt eine Weile und ich lasse ihn seine Gedanken weiterverfolgen

„Mein Vater verließ uns, kurz nachdem der Präsident die Nachricht kundgegeben hatte. Er verschwand einfach eines Nachts und hinterließ nur einen Zettel, auf dem *Es tut mir leid* stand.“ Seine Stimme trieft vor Trauer und Enttäuschung.

„Na ja, ich nehme es ihm nicht mal übel, dass er mich zurückgelassen hat. Meine Mom starb, als ich fünf war an Brustkrebs und ab da war er total überfordert. Es half ihm auch nicht, dass ich einfach nur Scheiße gebaut hab.“ Wütend wirft er einen Schneeball Richtung Feld und verzieht kurz darauf sein Gesicht, weil sein Arm schmerzt.

„Doch warum… warum musste er auch Harper zurücklassen? Warum konnte er sie nicht einfach mitnehmen und sich irgendwo mit ihr verstecken? Sie war doch unschuldig, so unschuldig und so klein. Sie war so klein… Und ich... ich habe sie nicht beschützt… ich habe es nicht geschafft…“ Stotternd sitzt er neben mir und dicke Tränen tropfen ihm von den Wangen in die weiße Decke. Sein Kiefer mahlt und ich spüre den Schmerz, der von ihm ausgeht, bis zu mir pulsieren. Ich fühle einen Kloß in meinem Hals und innerlich ohrfeige ich mich dafür, dass ich mich die ganze Zeit, die ganze verdammte Zeit einfach nur selbst bemitleidet habe, obwohl andere auch Leid erfahren haben. Ihre Geschwister verloren haben oder von ihren Eltern verraten wurden.

Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und ziehe ihn an mich. Sein Kopf gleitet mit zusammengepressten Augen gegen meine Schulter und ich schlinge meine Arme fest um seinen Rücken. Ich sage nichts. Ich sitze nur da und halte ihn, denn in so einer Situation kann man einfach nichts Richtiges oder Tröstendes sagen. Alles was aus meinem Mund kommen würde, würde sich falsch und merkwürdig gekünstelt anhören.

Also sitze ich einfach nur da und halte diesen fremden Jungen in meinen Armen. Ich halte ihn und schließe die Augen, ich schließe die Augen und genieße das Gefühl, endlich jemanden zu haben mit dem man reden kann, einen Menschen, der genauso ist wie ich und der meinen Schmerz, diesen nagenden Schmerz in meiner Brust, der mich dauerhaft begleitet, versteht. Schluchzer rütteln die Brust des Jungen, den ich halte und ich drücke ihn noch ein wenig stärker an mich und öffne die Augen, um der Sonne zuzusehen, wie sie vom Erdball verschluckt wird. Wie sie verschluckt wird und all unsere Schmerzen und unser Leid mit sich nimmt.

Der Typ sieht mich von der Seite an und reibt sich nervös den Nacken. „Ähhm…Wie heißt du eigentlich?“, fragt er schließlich. „Jamie McMarley. Ich heiße Jamie.“, sage ich, den Blick stur auf die gerade Straße vor der Scheibe gerichtet.

„Ich bin Ace. Ace Kennedy.“ Grinsend sieht er mich an, während ich einen anderen Gang einlege und um eine scharfe Kurve fahre.

„Dein Name passt zu dir, Ace. Ich hoffe, du hast manchmal echt ein Ass im Ärmel.“

Sein kehliges Lachen erfüllt den Innenraum des Fahrzeugs und ich beginne das Geräusch öfter hören zu wollen.

Wir widmen uns eine gute halbe Stunde der Landschaft vor dem Fenster, bevor Ace das Schweigen bricht. „Wieso warst du auf diesem Highway, Jamie? Was hat dich dort hingeführt?“ Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu und klammere mich an das Steuer, weil ich an meine Mutter denken muss. Ihr bleiches Gesicht und das eine Nicken, das ihren Kopf bewegte und mich auf ewig verfolgen wird. In meinem Kopf, in meinem Herzen und in meiner Seele.

Meine Fingerknöchel treten weiß hervor und Ace betrachtet meinen angespannten Körper mit gerunzelter Stirn. „Schon gut, du musst es mir nicht erzählen, ich war bloß neugierig.“ Langsam schüttle ich den Kopf und zwinge mich dazu, ihm ein winziges Lächeln zu schenken, weil er es verdient hat, nicht einfach im Regen stehen gelassen zu werden. „Nein, alles gut.“ Mein Blick richtet sich wieder auf die Straße, die sich nun durch ein verlassenes Dorf schlängelt. „Es ist nur so, dass… ich hab das alles noch nicht richtig verarbeitet. Ich brauche etwas Zeit, um mir selbst darüber klar zu werden, was passiert ist, aber irgendwann werde ich’s dir erzählen, versprochen.“

Eine Weile sagen wir nichts und Ace schaut aus dem Seitenfenster, eine Hand nachdenklich an das Kinn gelegt.

„Weißt du, ich war schon so lange allein und bin durch die verlassenen Wälder und Städte gezogen, ich hatte mich schon selbst aufgegeben. Ich weiß schon gar nicht mehr wie es in Gesellschaft so ist.“ Er wirft mir einen Blick zu, bevor er sich räuspert. Seine Stimme ist rau und krächzend.

„Ich wollte auf diesem beschissenen Planeten eigentlich gar nicht mehr leben und war schon am Überlegen, ob ich mich nicht einfach den Huntern stellen soll. Dann hätte das ganze Verstecken und Flüchten wenigstens ein Ende… Doch dann stand ich vor diesem Auto und mir wurde klar, dass es doch einen Sinn in meinem Leben gibt. Ich stand dort und wäre fast überfahren worden und das Einzige, an das ich dachte, war Harper. Ich sah ihr Gesicht und mir wurde bewusst, dass ich überleben muss, ihretwegen. Verstehst du?“

Verwirrt sieht er mich an und ich deute ein knappes Nicken an. Er weiß gar nicht wie sehr ich ihn verstehe. Wenn ich nicht wüsste, dass Neo noch lebt, dann würde ich womöglich auch keinen Sinn mehr in meinem Leben sehen und mich aufgeben, doch die Hoffnung, dass ich Neo irgendwann einmal wieder sehen werde, lässt mich weitergehen, weiteratmen.

„Und dann sah ich dich. Du warst so hektisch und voller Schmutz und ich hab mir gedacht, dass du dasselbe wie ich durchgemacht haben musst. Ich wusste in der ersten Sekunde, in der ich dich sah, dass ich endlich jemanden gefunden habe, der so ist wie ich und mit dem ich meine Gedanken teilen kann.“

Plötzlich taucht ein Einkaufszentrum auf der rechten Straßenseite auf und ich biege auf den Parkplatz ab und halte an. Mit einem intensiven Blick drehe ich mich zu Ace und begegne seinen dunklen Augen, die mich durchbohren.

„Was willst du damit sagen, Ace?“, frage ich ein wenig irritiert über seine Offenbarungen und muss mir zeitgleich eingestehen, dass es mir nicht anders geht. Endlich kann ich mit jemandem über meine Probleme reden und das Gefühl haben nicht allein auf dieser großen verdammten Erde zu sein. Er mustert mein Gesicht und sieht mir dann wieder fest in die Augen. Irgendwie weiß ich genau, was er sagen will, bevor auch nur eine einzige Silbe über seine Lippen kommt, weil ich dasselbe empfinde. Doch bis jetzt ist es mir noch nicht richtig bewusst geworden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich diesen fremden Jungen schon ewig kenne. „Jamie. Du hast mich gerettet.“

„Was hältst du hiervon?“, fragt mich Ace und brüllt durch den gesamten leerstehenden Laden. Ich suche die langen Kleiderbügelreihen nach seinem dunklen Kopf ab und entdecke ihn in der Cocktailkleiderabteilung der Frauen. Grinsend hält er mit seinem gesunden Arm ein pinkes paillettenbesticktes Kleid an seinen Körper und tänzelt nun mit gekünsteltem Hüftschwung durch die langen Reihen. Ich muss so heftig lachen, dass mein Bauch weh tut und mir die Tränen kommen.

Lächelnd schmeißt er das Kleid auf den nächsten Haufen und drückt mir ein paar Pullover und Hosen in die Hand. „Hier das sollten wir wirklich mitnehmen.“

Ich stopfe das Zeug in meinen Rucksack und muss mich beherrschen nicht noch einen Lachflash zu bekommen, weil mir die Vorstellung von Ace in diesem Kleid immer noch im Kopf umherschwirrt.

Nachdem wir uns mit dicken Sachen und genug Lebensmitteln eingedeckt haben, kontrolliere ich Aces Wunde, um sicher zugehen, dass sich nichts entzündet hat und er womöglich doch noch den Arm verliert. Vorsichtig schäle ich den schmutzigen Verband ab und kann ein mitleidiges Schmunzeln nicht unterdrücken, als Ace schmerzerfüllt das Gesicht verzieht. Seine Finger krallen sich in den weichen Ledersitz des ehemaligen Chinarestaurants, indem wir sitzen und die Shoppingcenterstimmung genießen.

Obwohl wir hier ganz alleine sind. Das letzte Stück des Verbandes löst sich schmatzend von der klebrigen Wunde und gibt den Blick auf ein etwa murmelgroßes Loch in seinem Oberarm frei. Ich drehe seinen Arm im Licht hin und her und drücke an der Haut darum herum. Ace schaut mich gespielt dramatisch an.

„Und? Werde ich sterben?“, fragt er in selbstironischem Humor. Ich verdrehe die Augen und mache mich ans Säubern und Verbinden der Wunde. „Eigentlich sieht es ganz gut aus. Auf jeden Fall beginnt schon der Heilungsprozess. Du darfst deinen Arm bloß nicht so stark belasten, sonst reißt sie wieder auf.“ Ich reiche ihm eine weitere Schmerztablette, die gleichzeitig durch die enthaltenden Antibiotika eine Infektion vorbeugt. „Aber eine Waffe kann ich trotzdem halten, oder?“ Seufzend erhebe ich mich aus der Sitznische und streife mir meinen Rucksack über. Ich übergehe seinen Kommentar und als ich offensichtlich mit den Augen rolle, grinst er über beide Ohren.

„Komm, wir müssen uns noch einen geeigneten Schlafplatz suchen.“

Die bunten Glasfenster der Mall erinnern mich an die Mosaikfenster in den Kirchen, in denen ich früher mit meiner Oma war, obwohl wir gar nicht kirchlich waren. Das rostrote Sonnenlicht, das uns die Dämmerung hineinwirft, bricht sich in den klaren Fensterscheiben, die die bunten Elemente einschließen und lässt die dichten Staubwolken, die in der stickigen Luft umherwirbeln sichtbar werden.

Links und rechts reihen sich die verschiedensten Läden aneinander und in der Mitte nehmen Bänke und vertrocknete Pflanzen in riesigen Kübeln den meisten Platz ein. Ich kann mir nur allzu gut das fröhliche Treiben, das früher hier geherrscht haben muss, vorstellen. Die kleinen Kinder mit ihren Müttern, die bettelnd auf die Knie fallen, damit sie ein Eis bekommen. Die verliebten Paare, die sorglos durch die Gänge wandelten und sich an der freudigen Atmosphäre des Trubels ergötzten. Oder die Gruppen von Jugendlichen, die in den dunkelsten Ecken herumlungerten und sich stets dem neusten Trend der Modewelt versuchten anzupassen.

„Hey, Jamie! Komm mal hier rüber!“, ruft Ace und seine raue Stimme schallt in dem riesigen Gebäude wider. Ich verschwende noch einen sehnsüchtigen Gedanken an die friedliche Zeit damals und lande dann wieder im Hier und Jetzt, um Aces Stimme in ein Möbelgeschäft zu folgen. Ich bahne mir einen Weg durch die vielen unterschiedlichen Schränke, Teppiche und Lampen und finde mich in dem hinteren Teil des Ladens wieder. Ausgelaugt von den letzten Tagen werfe ich meinen Rucksack, meine Jacke und meine Schuhe in die nächste Ecke und lasse mich neben Ace in die federweichen Laken eines Bettes fallen. Mein Rücken entspannt sich und tief seufzend schließe ich meine schmerzenden Augenlider.

„Ist das nicht unglaublich? Endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen? Ich kann es nicht fassen…“, flüstert Ace neben mir und ich merke wie sich das Bett unter mir bewegt und eine Decke über mich gezogen wird. Ein Gähnen erfüllt die Luft und kurz darauf entweicht auch mir eines, welches sich so befreiend anfühlt wie eine bequeme Jogginghose nach einem anstrengenden Tag anzuziehen.

Endlich satt und mit einem halbwegs sicherem Gefühl schlafen wir ein.

Ein lautes Knallen und entferntes Geschrei ohrfeigt mich regelrecht aus meinem tiefen Schlaf und lässt mich im nächsten Moment kerzengerade dasitzen.

Ich rüttle Ace wach und ziehe ihm die Decke vom Körper.

„Wach auf. Schnell! Ace, wach auf!“, flüstere ich und greife nach meiner Glock, die neben dem Bett liegt. „Was isn?“, knurrt er unzufrieden und dreht sich auf die andere Seite.

Ich baue mich vor ihm auf und knalle ihm eine. Plötzlich hellwach schlägt er die Augen auf und hält sich ungläubig die Wange. „Ey?! Warum schlägst du mich?“, fragt er sichtlich empört und mustert meine alarmbereite Haltung und die Waffe in meinen zitternden Händen. „Ich habe Schüsse gehört. Und Schreie. Hier zieh dich an, wie müssen hier weg.“, sage ich eindringlich, während ich meine Schuhe anziehe und meinen Rucksack überwerfe. Ich schultere mein Gewehr und stecke die Glock in meinen Hosenbund. Mittlerweile hat sich Ace angezogen und steht mit seinem Gewehr in der Hand vor mir. „Sollten wir uns nicht vielleicht hier verstecken und abwarten bis sie wieder weg sind?“, fragt er leise und eine Falte tritt auf seine Stirn.

Ich schüttle den Kopf und luge um ein Regal. „Nein. Die Hunter durchsuchen immer alles, sie würden uns finden. Wenn es denn Hunter sind.“ Bilder von durchgeknallten Eltern, die mit Messern und Baseballschlägern auf mich und Neo losgehen, flackern vor meinem geistigen Auge auf. „Wir müssen hier um jeden Preis verschwinden. Sofort.“, sage ich und sehe Ace dabei fest in die dunklen Augen, die mich betrübt, fast schon traurig ansehen. Letztendlich nickt er und folgt mir bedächtig aus dem Laden.

Es ist auf einmal so still im Einkaufszentrum geworden, dass ich schon daran zweifle die Schüsse wirklich gehört zu haben. Wir pressen uns an die Wand und schleichen so leise wie möglich Richtung Ausgang. Ich kann die große gläserne Flügeltür schon in der Ferne erkennen. Das seichte Licht des Mondes, der am Himmel steht und durch die Fensterfront an der Decke fällt, taucht die ganze Situation in eine unheimliche Stimmung. Ich habe das Gefühl in einem schlechten Horrorfilm gelandet zu sein, bei dem man schon vorher weiß wer die dämliche Person ist, die stirbt.

Ace tippt mir auf die Schulter und schiebt mich vorwärts. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich stehen geblieben bin. Die schaurigen Modepuppen, die neben Müll und schlammigen Fußabdrücken in den Schaufenstern stehen oder herumliegen, werfen uns aus ihren leeren weißen Augen gruselige Blicke zu. Mir scheint so, als würden sie uns sogar mit den Augen verfolgen und jede unserer Bewegungen beobachten, während wir nach draußen schleichen. Ich werfe einen Blick nach hinten und erkenne außer Aces panischen Blick die schwarze Dunkelheit, die sich durch die Läden zieht und nur ab und zu durch die Strahlen des Mondes durchbrochen wird. Plötzlich ertönt wieder ein Schuss, der sich mir in die Ohren brennt und kurz danach schreit jemand.

Es ist ein schier unmenschlicher Schrei, der vor purer Verzweiflung und Todesangst nur so trieft. Ace hält mich am Arm zurück und drückt seinen Mund an mein Ohr.

„Wir können nicht fliehen.“, flüstert er und ich sehe ihn geschockt an. „Warum?!“, zische ich und ein Kloß der Wut setzt sich in meinem Hals fest.

Was denkt er sich dabei? „Das war ein Kind. Was da geschrien hat. Wir können uns doch nicht wie Angsthasen verpissen, wenn die da gerade kaltblütig ein Kind töten.“ Ich sehe ihn weiterhin ausdruckslos an und presse die Zähne aufeinander.

„Das könnte genauso gut Harper sein, Jamie. Ich will nicht noch mal jemanden im Stich lassen.“ Seine dunklen Augen verankern sich in meinen blauen und flehen mich regelrecht an, das Richtige zu tun. Und ich weiß ganz genau, dass es das Richtige wäre, doch in einer Welt wie dieser kann das Richtige zu tun deinen Untergang bedeuten.

In mir herrscht ein Kampf zwischen meinem Schuldbewusstsein und meinem Überlebensinstinkt. Noch ein Schrei ertönt, grausamer und gequälter, als der Vorherige. Mein Schuldbewusstsein verpasst meinem Überlebensinstinkt einen Kinnhaken und dieser geht wehrlos zu Boden. Wütend schlage ich gegen die Wand.

„Verdammt!“, stoße ich aus und versuche nicht allzu laut zu sein.

„Na gut, gehen wir.“, sage ich und Ace schenkt mir ein respektvolles Nicken, das mich in meiner Entscheidung bestärkt. Die Schreie werden immer häufiger, sodass es uns leicht fällt, diesen zu folgen, bis wir schließlich mit unseren Gewehren in den Händen in den hinteren Teil des Einkaufszentrums kommen, indem es einen weiteren Eingang gibt.

Was machen wir hier eigentlich? Wir wissen doch nicht mal, was uns erwartet. Gemeinsam an die Wand gedrängt lugen wir um die nächste Ecke und sehen eine Szene, die uns buchstäblich den Atem raubt. Eine Einheit Hunter, die aus höchstens sechs schwer bewaffneten Soldaten besteht, hat sich in der Nähe des Eingangs, durch den die eiskalte Luft hinein rauscht, positioniert. Zwei Soldaten bewachen den Eingang, ein weiterer steht vor dem Gebäude und sichert die Umgebung. Die letzten drei stehen aufgebaut vor zwei kleinen verängstigten Kindern, die sich aneinanderklammern.

Zwei Leichen liegen ein paar Meter entfernt in einer großen Blutlache. Ace zieht mich zurück und gibt mir Handzeichen, dass ich ihm Rückendeckung geben soll, doch plötzlich erhebt ein Soldat seine Stimme und lässt uns unseren Plan vorerst vergessen.

„Ihr kommt jetzt mit“, schreit ein rundlicher Soldat in schwarzer Montur und drückt dem kleinen Jungen den Gewehrlauf gegen die Brust. Zitternd klammert sich dieser an das Mädchen, das nicht viel älter als er zu sein scheint. „Nein!“, schreit das Mädchen trotzig und versucht den Gewehrlauf von ihrem Bruder wegzuziehen.

Meine Hand schließt sich fester um mein M16 und mein Zeigefinger ruht gierig am Abzug. Der Soldat tritt vor und schlägt dem Mädchen so schnell ins Gesicht, dass ich gar nicht reagieren kann. Dieses wird von dem Schlag von dem Jungen weggerissen und landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem staubigen Boden. Der arme Junge schluchzt laut auf und eilt zu dem Mädchen, um ihr aufzuhelfen.

„Ihr dreckigen Ratten“, brüllt der Soldat und Spucketröpfchen verteilen sich in der Luft. Ich drehe mich zu Ace um, doch er ist gar nicht mehr hinter mir. Ich sehe mich panisch um und entdecke ihn vor mir, langsam auf die Soldateneinheit zu gehend.

„Lassen sie sie in Ruhe!“, sagt er beherrscht und ein brodelnder Hass spricht aus seiner Stimme. Überrascht wendet sich der pummelige Soldat der Stimme zu, die es wagt, ihm Befehle zu erteilen. Vielleicht ist er irgendein Offizier oder so. Die zwei anderen Soldaten richten ihre Schusswaffen auf Ace, der sein Gewehr in den Armen hält.

„Ach. Und das soll ich mir von dir Hosenscheißer einfach so gefallen lassen, ja? Da hast du wohl falsch gedacht, Kumpel, denn wir haben eine offizielle Erlaubnis euch kleine Ratten zu eliminieren.“ Meine Augen huschen von Aces Rücken zu den Kindern, zu den restlichen Soldaten und wieder zurück zu Ace. Das Blut kocht in meinen Adern, ich habe das Gefühl gleich zu verbrennen. Mein Blick fällt auf den riesigen Kronleuchter, der über den Soldaten baumelt und vom hereinfallenden Mondlicht angestrahlt wird.

Ich folge mit den Augen dem Seil, das den Kronleuchter hält und verweile an der Halterung, die an der gegenüberliegenden Wand im Gang angebracht ist. Ein Sicherungskasten aus Glas schließt die Befestigung des Kronleuchters ein.

Ace geht noch weiter auf den Soldaten zu und bleibt dann mit angehobener Waffe stehen. „Da sind sie aber ein Glückspilz, dass sie kleine wehrlose Kinder töten und missbrauchen können, oder? Wollen sie es nicht lieber mit jemandem in ihrer Größe aufnehmen?“ Ein schmieriges Grinsen lässt die winzigen Augen des Soldaten aufblitzen und entblößt eine Reihe von gelben Zähnen. Er ähnelt einem Obdachlosen in Soldatenuniform.

Angeekelt verziehe ich das Gesicht.

„Gerne Kleiner. Mit dem größten Vergnügen.“ Bevor er auch nur ansatzweise versucht, sein Gewehr zu heben, habe ich auch schon auf das Glas der Eingangstüren gezielt und sie mit einem präzisen Schuss in Millionen kleiner Glassplitter zerfleddern lassen.

Ohne darauf zu achten, ob mich jemand bemerkt, sprinte ich zu der anderen Wand, schlage den Kasten mit dem Ellenbogen ein und löse die Halterung des Kronleuchters. „Ace, lauf!“, schreie ich, während der monströse Leuchter von der Decke kracht und die drei Soldaten und das schmierige Grinsen unter sich begräbt.

Scherben fliegen umher, bleiben in den Wänden stecken und reißen meine Jacke auf.

Das Blut der Soldaten sickert langsam zwischen den Scherben hindurch. Die Schreie der Kinder hallen in dem großen Gebäude wider und werden von den Wänden zurückgeworfen. Ace hat sich auf den Boden gestürzt und sein Gesicht geschützt, doch als er sieht, dass die anderen Soldaten das Feuer eröffnen, rennt er zu den Kindern und wirft sie regelrecht hinter den Tresen des Modeladens, in den sie geflüchtet sind. Ich gehe hinter der Ecke des Ganges in Deckung und lasse mein Gewehr unaufhörlich Kugeln ausspucken. Das typische Rattern der Maschinengewehre erfüllt die spannungsgeladene Luft. Meine Finger vibrieren und in meinem Kopf dröhnt es stark, doch die vorbei zischenden Kugeln dämpfen nicht das Gefühl von Macht, das durch meinen Körper rauscht, als ich sehe wie die Soldaten niedergehen.

Die Schüsse verklingen und eine dunkle Scham und Ekel vor mir selbst breiten sich in mir aus, aber ich verdränge die Empfindungen, wische über mein Gesicht, das von den Scherben blutet und eile zu Ace.

Das zerbrochene Glas knirscht unter meinen Füßen, als ich mit ihm die völlig verängstigten Kinder nach draußen trage. Wir sehen uns auf dem riesigen, im Dunkeln liegenden Parkplatz um und erkennen ein paar Autos in der Ferne.

Schweigend laufen wir so schnell wie möglich mit den Kindern auf dem Rücken zu der Gruppe Autos. Die Sterne funkeln hell und klar am Himmel und die wenigen Bäume, die am Rande stehen, wiegen ihre kahlen Äste in der eisigen Luft.

Das Knirschen des Schnees erinnert mich an die Scherben und ich muss an die offen stehenden leeren Augen der Menschen denken, die ich soeben getötet habe. Eine Träne kullert aus meinem Augenwinkel und ich versuche die Enge in meiner Kehle durch Schlucken zu vertreiben. Was ist nur aus mir geworden? Was hat diese grausame Welt nur mit uns gemacht? Ich höre das leise Atmen des Jungen auf meinem Rücken und spüre das Zittern, das sich seines kleinen Körpers bemächtigt hat. Erschöpft komme ich an dem Auto an, das sich Ace ausgesucht und bereits kurzgeschlossen hat, lege den Jungen auf die Rückbank zu dem Mädchen und stütze mich gegen das kühle Metall des Fahrzeugs. Ich reibe mein Gesicht mit Schnee ein, um wieder auf den Boden der Tatsachen und des realen Lebens zurück zukehren. Sie hätten dich getötet. Sie hätten dich getötet.

Ich sage es mir immer wieder, doch ob es hilft, wage ich zu bezweifeln.

„Wir können. Steig ein.“, holt mich Aces Stimme und das Klappen einer Autotür aus meiner verschrobenen Gedankenwelt. „Ja klar, warte kurz.“

Ich öffne die Tür zur Rückbank und beuge mich ins Wageninnere.

Was ich dort sehe, zerreißt mir fast mein schmerzendes Herz. Die beiden Kinder klammern sich ängstlich aneinander und schieben sich von mir weg.

„Hey, keine Angst wir tun euch nichts. Wir bringen euch hier weg, okay?“ Ein leichtes Nicken und weit aufgerissene Augen. „Versucht, ein wenig zu schlafen, wir sind eure Freunde, die bösen Hunter können euch nichts mehr antun.“ Ich streiche den beiden beruhigend über die Köpfe, so wie es meine Mom immer bei mir gemacht hat, wenn ich traurig war. Ich klappe die Tür zu und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Ace startet den Motor, der tuckernd und jaulend aus seinem langen Schlaf erwacht und steuert den Wagen auf die Ausfahrt des Einkaufszentrums zu.

Ein Ort voller Freuden und Glück, der nichts Schönes mehr in sich trägt.

Rattenjagd

Подняться наверх