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Siebentes Kapitel

Oliver bleibt widerspenstig

Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atemlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nachdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:

„Herr Bumble, Herr Bumble!“ Dieser eilte herbei.

„Ach, Herr Bumble!“ rief Noah, „Oliver hat –“

„Was, – doch nicht etwa weggelaufen?“

„Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich.“ Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.

„Es ist ein Junge aus der Armenschule“, versetzte Herr Bumble, „der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr.“

„Donnerwetter“, rief der Herr, „habe ich’s nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, daß Oliver Twist mal gehängt werden würde.“

„Er wollte auch die Köchin umbringen“, fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.

„Und die Meisterin auch“, fügte Noah hinzu.

„Und den Meister ebenfalls – , so, sagtest du doch, Noah?“ ergänzte Herr Bumble.

„Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –“

„So, sagte er das wirklich, er wolle“, fragte der Hery mit der weißen Weste.

„Ja, Herr!“ erwiderte Noah, „und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause.“

„Gewiß, mein Junge, gewiß!“ sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. „Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht.“

„Gewiß nicht,. Herr“, sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.

Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch: „Oliver!“

„Lassen Sie mich raus“, erwiderte dieser von innen.

„Kennst du meine Stimme?“ fragte Herr Bumble.

„Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?“

„Nein!“

Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.

„Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sower­berry, der Junge muß verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen.“

„Das ist nicht Verrücktheit“, versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, „das ist das Fleisch.“

„Was für Fleisch?“ fragte die Meisterin.

„Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, daß wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen.“

In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, daß er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloß die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.

„Du bist mir ja ein nettes Früchtchen“, brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.

„Noah schmähte meine Mutter“, erwiderte Oliver trotzig.

„Wenn schon, du Strolch“, schrie die Meisterin. „Sie hat’s verdient und noch viel mehr.“

„Sie hat’s nicht verdient“, entgegnete Oliver.

„Doch“, geiferte Frau Sowerberry.

„Das ist ’ne Lüge“, schrie der Junge.

Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er mußte seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.

Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Mißhandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloß leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloß. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, daß er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.

Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.

„Pst, Dick!“ rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Ärmchen zum Gruße durch das Gitter. „Ist niemand auf, Dick?“

„Außer mir, keiner“, entgegnete der Junge.

„Hör mal, du darfst nicht sagen, daß du mich gesehen hast, Dick“, sprach Oliver. „Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich mißhandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blaß aus, Dick.“

„Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müßte sterben“, sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. „Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile.“

„Erst sage ich dir jedoch Lebewohl“, entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiß. Du wirst noch gesund und glücklich werden.“

„Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, daß der Doktor recht hat, denn ich träume soviel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich“, sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. „Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!“

Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.

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