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Sechzehntes Kapitel

Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy

Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen. „Hast du gehört?“ brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.

Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.

„Gib mir die andere“, sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand. Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.

„Acht Uhr, Bill!“ sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab’ ja Ohren“, erwiderte Sikes.

„Ob sie die Uhr auch schlagen hören?“ meinte Nancy.

„Natürlich“, versetzte Sikes. „Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.

„Die armen Jungens!“ seufzte Nancy. „Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!“

„Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht“, entgegnete Sikes. „Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann’s mir gleichgültig sein.“

Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er faßte Olivers Handgelenk fester und eilte weiter. Nach einer halben Stunde bogen sie in eine enge, schmutzige Gasse, in der fast nur Trödler zu wohnen schienen. Vor einem anscheinend unbewohnten Laden machten sie halt.

„Gott sei Dank“, sagte Sikes und sah sich vorsichtig um.

Nancy bückte sich, und Oliver hörte eine Klingel. Sie gingen nun auf die andere Seite der Straße und stellten sich für einen Augenblick unter eine Laterne. Jetzt wurde geräuschlos die Haustür geöffnet, und Sikes packte Oliver ohne weitere Umstände am Kragen. In einer Sekunde befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Sie warteten im dunklen Hausflur, bis die Person, die sie eingelassen, die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte.

„Ist jemand hier?“ fragte Sikes.

„Nein“, antwortete eine Stimme, die Oliver schon früher gehört zu haben glaubte.

„Ist der Alte da?“ fuhr der Spitzbube fort.

„Ja“, entgegnete die Stimme, „er geht aber mächtig sparsam mit seinen Worten um. Glaube nicht, daß er sehr erfreut ist, Sie zu sehen. Sicher nicht.“

„Bring eine Funzel!“, sagte Sikes, „sonst brechen wir uns noch den Hals oder treten den Hund, und das ist gefährlich.“

„Einen Augenblick, werde sofort Licht bringen“, erwiderte eine Stimme. Nach einer Minute zeigte sich die Gestalt des Herrn John Dawkins, sonst auch der Gannef geheißen, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend. Der junge Herr gab Oliver kein anderes Zeichen des Wiedererkennens als ein höhnisches Grinsen, dann winkte er den Dreien, ihm zu folgen. Sie kamen durch eine leere Küche, und als sie die Tür eines niedrigen, dumpfen Gemaches öffneten, wurden sie mit einem schallenden Gelächter empfangen.

„Wer kommt denn da?“ brüllte Karl Bates, indem er sich vor Lachen die Seiten hielt. „Das ist er ja. Gucken Sie ihn an, Fagin. Sehen Sie ihn sich bloß mal an. Das ist ein Hauptspaß! Ich kann nicht mehr! Ich sterbe vor Lachen!“ Damit legte er sich der Länge nach mit dem Rücken auf die Erde und strampelte minutenlang mit den Beinen. Dann sprang er auf, entriß dem Gannef die Kerze, und beleuchtete Oliver von allen Seiten. Zu gleicher Zeit machte der Jude, seine Nachtmütze abnehmend, unserm verwirrten Helden tiefe Verbeugungen. Der Gannef, ernster veranlagt und beim Geschäft keinen Spaß kennend, durchsuchte inzwischen eifrig Olivers Taschen.

„Ein vornehmer Herr“, sagte Bates. „Sehen Sie sich nur seine Klamotten an. Das feinste Tuch und der modernste Schnitt, Fagin! Und dann noch seine Bücher!“

„Entzückt Sie so wohl zu sehen, mein Herr“,. begann der Jude, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor Oliver verbeugte. Der Gannef wird Ihnen geben einen, anderen Anzug, damit Sie sich nicht gleich verderben Ihren Sonntagsstaat. Warum haben Sie uns nicht geschrieben, daß Sie kommen würden? Wir hätten Ihnen dann etwas Warmes zum Abendessen aufgehoben.“

Karl Bates begann aufs neue – und zwar so unbändig zu lachen, daß auch Fagin sein Gesicht verzog und sogar der Gannef lächelte. Da aber dieser in jenem Augenblick die Fünfpfundnote aus Olivers Tasche zog, so ist es zweifelhaft, ob die Lustigkeit seines Kameraden oder der wichtige Fund sein Lächeln hervorrief.

„Hallo, was ist, das?“ fragte Sikes vortretend, als der Jude die Banknote ergriff. „Das ist mein, Fagin!“

„Nein, mein“, sagte der Jude, „mein ist es. Ihr könnt die Bücher haben!“

„Wenn ich, das heißt, wenn ich und Nancy nicht die Fünfpfundnote kriegen“, sagte Sikes ganz energisch und setzte sich seinen Hut auf, „so nehme ich den Jungen wieder mit.“

Der Jude und Oliver fuhren zusammen, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Hoffte doch letzterer, der Streit möchte damit endigen, daß er wieder zurückgebracht würde.

„Schnell, rück raus! Was, du willst es nicht hergeben?“, schrie Sikes.

„Es ist ungerecht, Sikes, nicht wahr, Nancy, er ist ungerecht?“ versetzte Fagin.

„Gerecht oder ungerecht! Gib her“, damit riß Sikes dem Juden die Banknote aus den Fingern. Er faltete sie zusammen und knüpfte sie in seine Halsbinde.

„Das ist für unsere Mühe“, fuhr Sikes fort, „und wenig genug. Du kannst meinetwegen die Bücher behalten und darin lesen, wenn du Lust hast. Oder kannst sie auch verkaufen.“

„Sie gehören dem alten Herrn“, sagte Oliver händeringend, „dem guten, alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegte, als ich todkrank daniederlag. Ach, bitte, schicken Sie es ihm zurück, schicken Sie ihm Geld und Bücher zurück. Behalten Sie mich mein Leben lang hier, aber geben Sie ihm sein Eigentum wieder. Er wird sonst glauben, ich hätte ihn bestohlen; die alte Dame und alle anderen, die so gut zu mir waren, werden denken, ich sei ein Dieb. Oh, haben Sie Mitleid mit mir und senden Sie Bücher und Geld zurück.“

Mit diesen Worten fiel Oliver vor dem Juden auf die Knie und rang verzweiflungsvoll die Hände.

„Der Junge hat recht“, sprach Fagin, sich im Kreise umsehend. „Man wird dich allerdings für den Dieb halten, Oliver. Ha! ha! ha! – “, kicherte der Jude. „Einen besseren Zeitpunkt hätten wir gar nicht wählen können.“

„Stimmt“, sagte Sikes. „Ich wußte das, als ich ihn mit den Büchern herankommen sah. Jetzt ist alles in schönster Ordnung.“

Oliver hatte wie ein Unzurechnungsfähiger während dieses Gespräches von dem einen Sprecher auf den anderen gesehen, er war sich nicht im geringsten darüber klar, was um ihn vorging. Plötzlich stürzte er aus dem Zimmer und rief laut und flehentlich um Hilfe. Das ganze Haus hallte von seinem Geschrei wider. „Halt den Hund zurück, Bill!“ kreischte Nancy und schloß die Tür, durch die der Jude mit seinen beiden Zöglingen eben Oliver nachgeeilt war. „Halt den Hund zurück, er wird sonst den Jungen in Stücke reißen.“

„Geschieht ihm recht“, brüllte Sikes und suchte sich den Händen des Mädchens zu entwinden. „Laß mich los, oder ich schmeiß’ dich an die Wand.“

„Mir gleich,“ schrie Nancy in heftigem Ringen mit dem Manne, „das Kind soll nicht vom Hunde zerrissen werden, da mußt du mich erst kaltmachen.“

„Das kann dir leicht passieren, wenn du mich nicht los läßt“, knirschte Sikes und schleuderte das Mädchen in eine Ecke des Zimmers. In diesem Augenblick kam der Jude mit seinen beiden Zöglingen zurück, die Oliver nachzerrten.

„Was ist denn hier, los?“ fragte der Jude sich umblickend.

„Das Weib ist verrückt geworden, glaub’ ich“, erwiderte Sikes wütend.

„Durchaus nicht“, rief Nancy blaß und atemlos von dem Kampf. „Glauben Sie das ja nicht Fagin.“

„Dann halte den Mund“, schrie der Jude drohend.

„Habe ich nicht nötig“, kreischte Nancy, “Was sagst du nun?“

Fagin schien es im gegenwärtigen Augenblick nicht geraten, sich in einen weiteren Wortwechsel mit ihr einzulassen. Er wandte sich deshalb an Oliver: „Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber“, dabei nahm er einen Knotenstock, der am Kamin lag, in die Hand. „Wolltest um Hilfe rufen, zur Polizei gehen! Das wollen wir dir austreiben.“ Hier packte er den Jungen und schlug ihn mit dem Stock über den Rücken. Als er zum zweiten Male ausholen wollte, eilte Nancy herbei und entwand den Stock seinen Händen. Sie schleuderte ihn in den Kamin, daß die Funken nur so im Zimmer herumflogen.

„Ich dulde es nicht“, schrie sie und stampfte mit dem Fuß zornig auf den Boden. „Ihr habt den Jungen, was wollt ihr mehr. Laßt ihn zufrieden, oder ich tue euch was an, selbst wenn es mich vor der Zeit an den Galgen bringen sollte.“

„Ach, Nancy!“ sagte der Jude beschwichtigend nach einer Pause, während der er und Sikes sich verblüfft angeguckt hatten. „Sie spielen heute abend Ihre Rolle besser als je.“

„Wirklich?“ versetzte das Mädchen, „nehmt euch in acht, daß ich euch nicht tatsächlich mal was vorspiele. Das wäre schlimm für euch. Ich sage euch das rechtzeitig, damit ihr euch vorseht.“

„Was soll das heißen?“ tobte Sikes und stieß eine Flut von Verwünschungen gegen sie aus. „Der Teufel soll dich holen! Du hast wohl vergessen, wer du bist und was du bist?“

„O nein, ich weiß das ganz genau“, versetzte das Mädchen mit hysterischem Lachen.

„Na, dann sei ruhig“, sagte Sikes, „oder ich mach’ dich für eine lange Zeit still.“

Das Mädchen lachte wieder und warf einen flüchtigen Blick auf ihn; dann drehte sie sich um und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.

„Du bist mir gerade die Rechte, die Menschenfreundin ’rauszubeißen“, fuhr Sikes im verächtlichen Tone fort. „Eine nette Freundin für das Kind, wie du den Jungen nennst.“

„Der Allmächtige ist mein Zeuge, daß ich es bin“, rief Nancy leidenschaftlich. „Lieber läge ich tot auf der Straße oder säße im Gefängnis, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn in eure Hände zu bringen. Er ist von diesem Augenblick an ein Dieb, ein Lügner, ein Teufel, kurz alles, was man sich nur Schlimmes denkt. Ist das nicht für den alten Halunken genug, muß er ihn auch noch prügeln?“

„Sehen Sie, Sikes“, sagte der Jude in einem belehrenden Tone, „wir müssen höflich sein und freundliche Worte gebrauchen. Immer höflich, Bill!“

„Höfliche Worte!“ schrie das Mädchen, das in seiner Wut schrecklich anzusehen war. „Freundliche Worte! Du Schurke! Du verdienst sie auch von mir. Ich stahl für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie dieses (sie zeigte auf Oliver) und treibe nun seit zwölf Jahren dasselbe Gewerbe. Weißt du das nicht? Sprich!“

„Nun“, sagte der Jude begütigend, „wenn du es tatest, so hattest du doch dein Brot davon.“

„Das stimmt“, sprudelte das Mädchen mit steigender Heftigkeit heraus. Ihre Worte überstürzten sich förmlich.

„Es ist mein Brot, und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind mein Heim. Und du bist der Lump, der mich heraustrieb und der mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich verrecke!“

„Nun hör auf“, fiel der Jude gereizt ein, „sonst passiert dir was, das dir recht unangenehm sein könnte.“

Das Mädchen sagte nichts mehr, aber zerraufte sich wie eine Verrückte das Haar und zerriß sich das Kleid, dann stürzte sie wütend auf den Juden los. Im rechten Augenblick packte Sikes sie jedoch am Handgelenk, sonst hätte sie ohne Zweifel sehr deutliche Zeichen ihrer Rache in des Juden Gesicht zurückgelassen. Nachdem sie vergeblich versuchte, sich von Sikes Griff zu befreien, fiel sie plötzlich in Ohnmacht.

„Nun ist alles wieder in Ordnung“, meinte Sikes und trug sie in eine Ecke des Zimmers. Sie hat eine Riesenkraft, wenn sie in Wut ist!“

Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte: „mit Weibern zu tun zu haben, ist schlimm, aber sie sind schlau, und ohne sie geht’s in unserm Geschäft nicht. – Karl, bring Oliver zu Bett!“

„Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seinen Sonntagsstaat nicht tragen?“ Der Jude verneinte. Oliver wurde nun in das anstoßende Gemach geführt, wo ein Bett aus alten Säcken in der Ecke stand. Karl brachte lachend denselben alten Anzug zum Vorschein, den Oliver in Brownlows Hause dem Dienstmädchen geschenkt hatte. Fagin hatte die Lumpen von einem Juden gekauft und dadurch die erste Spur von unseres Helden Aufenthalt erhalten.

„Zieh deinen Sonntagsanzug aus“, sagte Karl; „ich will ihn Fagin zum Aufheben geben. Das wird ein Hauptspaß.“

Widerwillig gehorchte Oliver und wurde dann von Karl im Finstern gelassen, der hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Karls Lachen und die Stimme Betsys, die gekommen war, um ihrer Freundin beizustehen, hätten ihn unter glücklicheren Umständen wach erhalten. Er war jedoch krank und müde und verfiel deshalb in einen tiefen Schlaf.

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