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ОглавлениеZwölftes Kapitel
In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück
Nach ziemlich langer Fahrt hielt die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.
Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blaß erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.
„Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?“ murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.
„Still, Liebling“, sagte die alte Dame sanft. „Du mußt dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin.“ Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.
„Lieber Gott“, sagte die Frau mit Tränen in den Augen, „wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte.“
„Vielleicht sieht sie mich“, flüsterte Oliver und faltete die Hände. „Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre.“
„Das war das Fieber, Liebling“, sagte die alte Dame sanft.
„Wahrscheinlich“, erwiderte Oliver, „denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als daß Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wußte, daß ich krank war, so mußte sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir“, fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, „denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muß sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte.“
Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.
Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.
„Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?“ fragte der Herr.
„Ja, ich danke“, entgegnete Oliver.
„Das wußte ich“, fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?“
„Nein, Herr“, antwortete Oliver.
„Hm! Ich wußte ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin“, sagte der Herr mit weiser Miene.
Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, daß sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.
„Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?“ sprach der Doktor. „Nein, Herr.“
„Nicht?“ versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. „Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?“
„Ja, Herr, durstig sehr.“
„Genau, wie ich’s erwartete, Frau Bedwin“, sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, daß er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, daß er sich nicht erkältet.“
Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, daß sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.
Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.
Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.
Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.
„Kümmere dich nicht darum, Liebling“, sagte die alte Frau, „ich muß mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter.“
„Sie sind auch zu gut zu mir“, sagte Oliver.
„Laß gut sein, liebes Kind“, versetzte Frau Bedwin. „Nun ist es aber Zeit, daß du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen.“ Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, daß Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.
„Hast du Bilder gern, Liebling?“ fragte sie.
„Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame.“
„Ach“, sagte Frau Bedwin, „die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen.“
„Stellt es jemand vor?“
„Ja, es ist ein Porträt.“
„Von wem?“ fragte Oliver lebhaft.
„Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?“
„Es ist gar zu schön!“
„Aber du fürchtest dich doch nicht davor?“ sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.
„O nein“, erwiderte Oliver rasch, „aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht.“
„Um Himmelswillen!“ rief Frau Bedwin aufspringend, „sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!“
Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.
„Herein!“ rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlow.
Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.
„Armer Junge, armer Junge“, sagte er, „wie geht es dir heute?“
„Sehr gut, Herr“, entgegnete Oliver, „und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben.“
„Du bist ein guter Junge“, sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. „Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?“
„Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen“ sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.
„Hm“, meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, „ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?“
„Ich heiße Oliver, Herr“, entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.
„Oliver?“ fragte Herr Brownlow. „Oliver? – also Oliver White?“
„Nein, Twist. Oliver Twist.“
„Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?“
„Das habe ich ihm doch nicht gesagt“, erwiderte Oliver erstaunt.
Dies klang wie eine Lüge, so daß der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.
„Ein Mißverständnis also“, bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.
„Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?“ sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.
„Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!“ schrie der alte Herr.
Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.
Die Ähnlichkeit war sprechend.
Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.
Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, daß die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.
„Was wird Fagin sagen?“ meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.
„Na, was wird er sagen?“ erwiderte Karl Bates.
„Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen“, meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.
Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.
„Hm, was ist das?“ murmelte er, „ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!“
Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.