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Zehntes Kapitel

Oliver lernt seine neuen Bekannten besser kennen und muß die Erfahrung teuer bezahlen

Oliver blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Juden und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Fagin regelmäßig jeden Morgen mit den beiden Jungen aufführte. Oliver hatte den alten Herrn verschiedene mal gebeten, mit Jack und Karl gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Oliver hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung.

Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße entlang. Oliver fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, daß sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Gannef hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Karl Bates ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies mißfiel unserm Oliver so sehr, daß er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Gannefs von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

„Was ist los?“ fragte Oliver.

„Pst!“ machte der Gannef. „Siehst du jenen alten Knacker an der Bücherbude?“

„Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich.“

„Bei dem wollen wir arbeiten“, sagte Dawkins.

„Scheint erstklassig zu sein“, bemerkte Karl.

Oliver guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Oliver harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge.

Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, daß er dort zu sein wähnte denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, daß er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte.

Man denke sich Olivers Entsetzen, als er sah, wie der Gannef dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Karl Bates zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Juden klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Oliver Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, daß dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: „Haltet den Dieb!“ hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Gannef und Karl Bates hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: „Haltet den Dieb“ vernahmen und Oliver laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verläßt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe – alles hallt von dem Rufe wider.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt. Ein armes, atemloses Kind, keuchend vor Erschöpfung, Todesangst im Auge und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man läßt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: „Haltet den Dieb!“

Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

„Tretet zurück!“ „Laßt ihn doch zu Atem kommen!“

„Ach was, er verdient es nicht!“ „Wo ist der Herr?“

„Da, er kommt die Straße herunter.“ „Platz für den Herrn!“ „Ist das der Junge, Herr?“ „Ja.“

Oliver lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

„Ja, ich fürchte, daß er es ist“, wiederholte der alte Herr. „Der arme Junge hat sich sicher verletzt.“

„Das war ich, Herr“, sagte ein großer, ungeschlachter Kerl „Ich schlug ihn in die Fresse, daß er hinfiel.“

Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen gedächte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Oliver nun beim Kragen.

„Aufgestanden“, brüllte er.

„Ich bin’s wirklich nicht gewesen, Herr. Es waren zwei andere Jungen“, sagte Oliver mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: „Sie müssen hier in der Nähe sein.“

„Ach nein, es ist keiner da“, sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Gannef und Karl Bates hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. „Steh auf!“

„Ach, tun Sie ihm nichts“, sagte der alte Herr mitleidig.

„Ich tue ihm schon nichts“, antwortete der Polizist und riß ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom Leibe. „Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!“

Oliver versuchte mühsam aufzustehen, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

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