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Achtzehntes Kapitel

Wie Oliver in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner ehrenwerten Freunde die Zeit verbrachte

Am Mittag des nächsten Tages, als der Gannef und Karl Bates zu ihren gewöhnlichen Geschäften ausgegangen waren, benutzte Herr Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Rede über die schreckliche Sünde der Undankbarkeit zu halten. Er setzte ihm eingehend auseinander, wie er sich derselben in ganz ungewöhnlich hohem Grade schuldig gemacht habe, indem er sich von seinen besorgten Freunden entfernte und ihnen sogar zu entfliehen versuchte. Dabei hätte man doch auf seine Wiederauffindung so viel Mühe und Kosten verwendet. Herr Fagin legte großes Gewicht auf den Umstand, daß er Oliver ins Haus genommen und verpflegt habe. Ohne die ihm rechtzeitig gewährte Hilfe wäre er doch wahrscheinlich Hungers gestorben. Aber sie würden noch die besten Freunde werden, wenn sich Oliver folgsam und anstellig zeige. Der Jude nahm jetzt seinen Hut, zog einen alten geflickten Überrock an und ging fort, nicht ohne vorher das Zimmer abzu­schließen.

So blieb Oliver während des ganzen Tages und einer Anzahl nachfolgender Tage eingesperrt und sich selbst überlassen. Er hatte genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich immer mit seinen Freunden in Pentonville beschäftigten, und was diese wohl für eine Meinung von ihm gefaßt haben mochten. Nach Ablauf einer Woche ließ der Jude die Tür unverschlossen, und Oliver stand es frei, im Hause umherzugehen.

Es war überall schmutzig im Hause, aber die Zimmer im oberen Stockwerk hatten große Türen und hölzerne Wandtäfelchen. Es mußte vor langer Zeit mal besseren Leuten gehört haben und war wohl einmal schön und heiter gewesen, so traurig und verkommen es auch jetzt aussah. In den Ecken der Wände hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt, und wenn er leise in ein Zimmer trat, liefen die Mäuse erschreckt in ihre Löcher zurück. In allen Zimmern waren die morschen Fensterläden fest verschlossen. Das Licht konnte nur durch kleine, eingebohrte Löcher eindringen und erfüllte die Zimmer mit seltsamen Schattengestalten. Hintenhinaus befand sich eine Dachkammer, deren Fenster keine Läden hatten, sondern die nur vergittert waren. Hier sah Oliver oft stundenlang hinaus, aber er hatte nur einen Blick auf ein Gewirr von Dächern, Schornsteinen und Giebeln.

Eines Nachmittags, als der Gannef und Karl Bates sich zu einer Abendunternehmung vorbereiteten, setzte jener es sich in den Kopf, eine größere Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden. Eine Schwäche, die wir, um gerecht zu sein, nur als eine ausnahmsweise vorkommende bezeichnen müssen. Er befahl Oliver gnädig, ihm bei diesem Geschäft an die Hand zu gehen.

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Er kniete auf dem Boden nieder und nahm, während der Gannef auf dem Tische saß, dessen Füße in seinen Schoß, und putzte ihm die Stiefel. Der Gannef blickte eine Weile gedankenvoll auf Oliver nieder und sprach dann halb für sich, halb zu Karl Bates: „Wie schade, daß er kein Ganove ist!“

„Ach“, sagte Karl, „er weiß seinen Vorteil nicht auszunützen.“

„Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Ganove ist?“

„Doch, ich glaube, ich weiß es“, versetzte Oliver hastig aufsehend. „Es ist ein Dieb. Du bist einer, nicht wahr?“ fügte er schüchtern hinzu.

„Ja“, erwiderte der Gannef, „und ich bin stolz darauf. Ich bin ein Dieb, wir alle sind Diebe – Karl – Fagin – Sikes – Nancy – Betsy – bis auf den Hund hinunter, und der ist nicht der schlech­teste!“

„Jedenfalls verrät er keinen“, fügte Karl Bates hinzu.

„Warum gehst du eigentlich nicht bei Fagin in die Lehre, Oliver?“

„Könntest dein Glück machen“, sagte der Gannef grinsend.

„Und dich später mal als Rentier zurückziehen – ja, und wie ein Herr leben, wie ich es zu tun gedenke in dem nächsten vierten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstage in der Trinitatiswoche“, fuhr Karl fort.

„Es gefällt mir nicht“, sagte Oliver schüchtern, „ich wollte, man ließe mich fort. Ich – ich – möchte lieber gehen.“

„Und Fagin möchte lieber, daß du bliebst“, entgegnete Karl.

Oliver wußte das nur zu gut, er hielt es aber für gefährlich, noch weiter darüber zu sprechen, deshalb fuhr er seufzend im Stiefelputzen fort.

„Geh“, rief der Gannef, „hast du gar kein Ehrgefühl? Möchtest du wieder hingehen und. deinen Freunden zur Last fallen? Ich könnte nicht so sein.“

„Aber ihr könnt eure Freunde im Stich lassen“, erwiderte Oliver mit mattem Lächeln, „und sie einer Strafe preisgeben, die ihr verdient habt?“

„Das geschah nur mit Rücksicht auf Fagin. Die Greifer wissen, daß wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte genug Gelegenheiten gehabt. Das war der Grund, weshalb wir ausgerissen sind, nicht wahr, Karl? Guck mal hier“, fuhr der Gannef fort und zog aus der Tasche eine Handvoll Schillinge, „so leben wir! Wer schert sich drum, wo es herkommt. Greif zu! Wo ich diese erwischt habe, gibt’s noch eine ganze Masse. Du willst nicht, du willst nicht? O du Dummkopf.“

„Nicht wahr, Oliver, es ist nicht recht?“ fragte Karl Bates. „Er wird dafür noch mal Bammelmann machen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was das ist“, versetzte Oliver.

„Das will es heißen“, sagte Karl und machte mit seinem Taschentuch die Pantomime des Gehängt­werdens.

„Du bist schlecht erzogen“, meinte der Gannef, „aber Fagin wird schon noch etwas aus dir machen. Fang nur gleich an, sonst verlierst du nur Zeit.“

Karl Bates unterstützte diesen Rat mit einigen moralischen Nutzanwendungen und schilderte in glühenden Farben das Leben, was sie jetzt führten.

„Und dann bedenke, Nolly (*Oliver*)“, sagte der Gannef, „wenn du die Taschentücher und Uhren nicht nimmst, so stiehlt sie ein anderer. Wer sich daher eine solche Gelegenheit nicht zunutze macht, ist ein Dummkopf.“

„Er hat vollkommen recht, vollkommen“, sagte Fagin, der inzwischen leise eingetreten war. „Er gibt dir das Ganze in der Nußschale, ja in einer Nußschale, Freundchen. Dem Gannef kannst du glauben. Ha! Ha! Ha! Er kennt genau den Katechismus seines Geschäfts!“

Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Jude war mit Fräulein Betsy und einem Herrn nach Hause gekommen, den Oliver noch nie gesehen hatte. Dieser, als Tom Chitling angeredet, war etwas älter als der Gannef und mochte wohl achtzehn, Lenze zählen. Er benahm sich gegen diesen mit einer Ehrerbietung, die bewies, daß er sich bewußt war, dem Gannef an Geist und Geschäftsgewandtheit nicht ebenbürtig zu sein. Tom hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkle Jacke, schmierige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah ziemlich heruntergekommen aus und entschuldigte es damit, daß seine „Zeit“ erst seit einer Stunde um sei und er noch nicht dazu gekommen war, seinen Anzug zu wechseln. Er schloß daran die Bemerkung, daß er in zweiundvierzig langen, harten Arbeitstagen keinen Tropfen Schnaps angerührt hätte. Er wolle sich hängen lassen, wenn er nicht so sei wie ein Pulverfaß.

„Was glaubst du wohl, woher dieser Herr kommt, Oliver?“ fragte der Jude grinsend, als die anderen Jungen eine Schnapsflasche auf den Tisch stellten.

„Ich – weiß nicht“, stotterte Oliver.

„Wer ist denn das?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich ansehend.

„Ein junger Freund von mir“, antwortete Fagin.

„Dann ist er gut aufgehoben“, sagte Tom und sah Fagin bedeutungsvoll an. „Kümmere dich nicht darum, woher ich komme, Junge. Ich wette einen Taler, daß du den Weg dahin schnell genug finden wirst.“

Man lachte, und dann flüsterte Tom dem Juden einige Worte zu. Sie setzten sich an den Kamin, und Fagin ließ Oliver an seiner Seite Platz nehmen. Man sprach von den großen Gewinnen des Geschäfts, der Geschicklichkeit des Gannefs und der Freigebigkeit Fagins. Als dieses Thema und zu gleicher Zeit auch Herr Tom Chitling erschöpft war – denn der Aufenthalt im Gefängnis wird nach einigen Wochen etwas angreifend – , entfernte sich Betsy, und die ganze Bande begab sich zur Ruhe.

Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen. Er war fast dauernd in Gesellschaft von Jack oder Karl, die Tag für Tag mit dem Juden das alte Spiel spielten. Ob zu ihrer eigenen oder zu Olivers Ausbildung, wußte Fagin am besten. Manchmal erzählte der alte Mann auch Geschichten von Diebstählen, die er in jüngeren Jahren begangen hatte. Er mischte darin so viel Drolliges und Spaßhaftes, daß Oliver häufig nicht umhin konnte, herzlich mitzulachen und die Geschichten lustig zu finden. Trotz seiner besseren Einsicht!

Der schlaue alte Jude hatte den Jungen im Netz. Er hatte Olivers Geist durch Einsamkeit und Langeweile darauf vorbereitet, jede Gesellschaft seinen traurigen Grübeleien vorzuziehen. Langsam flößte er ihm das Gift ein, das die Unschuld seiner Seele trüben und sein Herz für immer schwarz machen sollte.

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