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ОглавлениеEinunddreißigstes Kapitel
Behandelt einen kritischen Fall
„Wer da?“ fragte Brittles und öffnete die Tür ein wenig, ohne jedoch die Sicherheitskette abzumachen. Die Kerze verdeckte er mit seiner Hand.
„Aufgemacht!“ tönte es von draußen. „Es ist die Kriminalpolizei von Scotland-Yard, nach der heute geschickt wurde.“
Durch diese Antwort beruhigt, öffnete Brittles die Tür weit und sah sich einem stattlichen Manne im Mantel gegenüber, der sofort nähertrat und seine Stiefel ruhig an der Matte reinigte, als ob er hier zuhause sei.
„Schicken Sie doch jemand hinaus, junger Mann, der meinem Kollegen hilft, Pferd und Wagen unterzustellen. Sie haben doch eine Remise hier?“
Brittles bejahte und zeigte nach dem Gebäude, worauf der Beamte selbst zu seinem Kollegen ging, um ihm behilflich zu sein, wobei Brittles ihm achtungsvoll mit der Kerze leuchtete. Nachdem dies erledigt war, führte man die beiden Kriminalpolizisten in ein Zimmer, wo sie die Mäntel ablegten. Der Mann, der an die Tür geklopft hatte, war von Mittelgröße und kräftig gebaut. Er konnte wohl fünfzig Jahre alt sein, trug einen Backenbart und hatte scharfe, durchdringende Augen. Der andere war ein rotköpfiger, hagerer Mann in Stulpenstiefeln mit einem häßlichen Gesicht, in dem eine aufgestülpte Nase saß.
„Sagen Sie Ihrer Herrschaft, daß Blathers und Duff gekommen wären“, begann der ältere, indem er sich ins Haar faßte und dann ein paar Handschellen auf den Tisch legte. „Ah! guten Abend, mein Herr, kann ich einige Worte mit Ihnen allein sprechen?“
Diese Anrede galt Herrn Losberne, der gerade mit den beiden Damen ins Zimmer trat. Dieser winkte Brittles, sich zu entfernen und schloß dann die Tür.
„Dies ist die Dame des Hauses“, sagte der Doktor mit einer Handbewegung gegen Frau Maylie.
Herr Blathers verbeugte sich, stellte, als man ihn zum Platznehmen aufforderte, seinen Hut auf den Fußboden, nahm einen Stuhl und winkte Duff, das gleiche zu tun. Dieser, anscheinend nicht gewöhnt, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, ließ sich erst nach ziemlich vielen Kratzfüßen nieder und steckte dann den Knopf seines Stockes aus Verlegenheit in den Mund. „Um gleich auf den Einbruchsversuch zu kommen, wie war der Hergang?“ fragte Blathers.
Herr Losberne wollte Zeit gewinnen und erzählte weitschweifig und umständlich die Geschichte. Die Detektive machten dazu pfiffige Gesichter und nickten sich von Zeit zu Zeit zu.
„Ich kann natürlich nichts Bestimmtes sagen, bevor ich den Tatort in Augenschein genommen habe“, sagte Blathers, „meiner unmaßgeblichen Meinung nach, scheint der Versuch nicht von einem Kaffer gemacht worden zu sein. Was hältst du von der Sache, Duff?“
„Ich bin ganz deiner Ansicht“, versetzte dieser.
„Um den Damen die Bedeutung des Wortes Kaffer klar zu machen, darf ich wohl annehmen, daß dieser Einbruchsversuch von keinem, der nicht zur Londoner Einbrecherzunft gehört, gemacht wurde?“ versetzte der Doktor lächelnd.
„Ganz recht, mein Herr“, sagte Blathers. „Ist dies alles, was Sie über den Vorfall zu berichten haben?“
„Ja, alles.“
„Was hat das nun für eine Bewandtnis mit dem Jungen, von dem die Dienerschaft spricht?“
„Gar keine“, entgegnete Herr Losborne. „Einer der bestürzten Diener hat es sich in den Kopf gesetzt, der Junge sei an dem Einbruch beteiligt gewesen. Das ist natürlich Unsinn, eine alberne Einbildung des Dieners.“
„Hm, so leicht darf man die Sache aber doch nicht nehmen“, bemerkte Duff.
„Sehr richtig“, meinte Blathers und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er spielte mit den Handschellen, als wenn es ein paar Kastagnetten wären. „Wer ist der Junge? Was erzählt er von sich? Woher kommt er? Er ist doch nicht vom Himmel gefallen, nicht wahr?“
„Natürlich nicht“, versetzte der Doktor, den Damen einen unruhigen Blick zuwerfend. „Ich kenne seine ganze Geschichte – wir können ja nachher davon sprechen. Ich dachte, Sie wollten erst den Tatort besichtigen?“
„Allerdings“, erwiderte Blathers. „Das machen wir zuerst, und dann vernehmen wir die Dienstboten. So ist der gewöhnliche Geschäftsgang.“
Man brachte nun Lichter herbei, und die Herren Blathers und Duff, begleitet von dem Ortspolizisten, Giles, Brittles – kurz allen Anwesenden – begaben sich zu dem kleinen Fenster und sahen hinaus; dann ging man über den Rasenplatz und guckte durch das Fenster hinein. Darauf wurde der Fensterladen besichtigt und der Erdboden auf Fußspuren untersucht. Mit einer Heugabel stach man in die Büsche. Die Zuschauer folgten diesem Verfahren mit gespanntem Interesse; dann ging man wieder ins Haus, wo Herr Giles und Brittles ihre Aussagen machten. Nach Beendigung dieses Verhörs verließen Blathers und Duff das Zimmer und hielten eine lange Beratung ab, gegen die eine Besprechung großer Ärzte über einen schwierigen Krankheitsfall – was das Feierliche und Geheimnisvolle anbelangt – ein reines Kinderspiel war.
Unterdessen ging Losberne im anstoßenden Zimmer auf und ab, und Frau Maylie und Rosa zeigten auch ängstliche Mienen.
„Auf mein Wort“, sprach er nach einer Weile plötzlich stehenbleibend, „ich weiß wirklich nicht, was hier zu tun ist.“
„Gewiß wird eine wahrheitsgetreue Erzählung der Geschichte des armen Jungen genügen, um ihn bei den Kriminalbeamten zu entlasten“, meinte Rosa.
„Das bezweifle ich“, entgegnete der Doktor mit dem Kopfe schüttelnd. „Ich glaube nicht, daß ihm das, weder bei den Detektiven noch bei den höheren Polizeibeamten, zum Vorteil gereichen würde. Sie würden sagen, in jedem Fall ist er ein aus der Lehre entlaufener Bursche. Und außerdem ist seine Geschichte, vom Wahrscheinlichkeitsstandpunkt betrachtet, eine höchst zweifelhafte.“
„Sie schenken ihr doch aber Glauben?“ fiel Rosa hastig ein.
„Ja, das tue ich, so seltsam sie auch ist, vielleicht bin ich aber deshalb auch ein alter Esel“, erwiderte der Doktor. „Nichtsdestoweniger halte ich sie nicht für eine Geschichte, die einen erfahrenen Polizeibeamten zufriedenstellen kann.“
„Warum denn nicht?“ fragte Rosa.
„Aus dem einfachen Grunde, mein liebes Fräulein Rosa, weil für die Auffassung dieser Herren soviel böse Punkte darin vorkommen. Der Junge kann nur das, was gegen ihn, aber nicht das, was für ihn spricht, beweisen. Der Teufel hole die Gesellen, aber sie wollen stets das ‚Weshalb‘ und ‚Warum‘ wissen und glauben Sachen nicht, die nicht bewiesen sind. Er gesteht selbst, daß er einige Zeit mit Dieben zusammen gehaust hat, und daß er wegen Taschendiebstahls angeklagt vor dem Polizeirichter gestanden hat. Dann ist er gewaltsam aus dem Hause des Herrn, der ihn aufnahm, nach einem Ort entführt worden, den er nicht beschreiben kann, ja, von dessen Lage er nicht die geringste Ahnung hat. Er wird von Menschen, die ganz gewaltig auf ihn versessen zu sein scheinen, zwangsweise nach Chertsey gebracht und zum Zwecke der Plünderung eines Hauses durch ein Fenster gesteckt. Als er Lärm machen und etwas tun will, das seine Absichten in ein günstiges Licht stellen könnte, verrennt ihm ein verwünschter Hausmeister den Weg und schießt auf ihn. Grade als wäre alles darauf abgesehen, das zu verhindern, was ihm nützen könnte. Sehen Sie das nicht ein?“
„Doch“, sagte Rosa und mußte über des Doktors Aufregung lächeln. „Aber das beweist doch nicht, daß der Junge ein Verbrecher ist!“
„Natürlich nicht!“ erwiderte Herr Losberne etwas ironisch. „Der Herr segne den Scharfblick des weiblichen Geschlechts. Die Frauen sehen im Guten wie im Bösen immer nur die eine Seite einer Sache, und zwar immer die, welche sich ihnen zuerst gezeigt hat.“
Nachdem der gute Doktor diesen Erfahrungssatz von sich gegeben hatte, steckte er die Hände in die Taschen und nahm sein Hin- und Herlaufen im beschleunigten Zeitmaß wieder auf.
„Je mehr ich darüber nachdenke“, fuhr er nach einer Weile fort, „desto zahlreichere und größere Schwierigkeiten und Scherereien sehe ich voraus, wenn wir diesen Leuten die wahre Geschichte des Jungen erzählen. Ich bin überzeugt, daß sie sie nicht glauben werden; und selbst wenn man ihm am Ende nichts anhaben kann, so muß doch das ganze Untersuchungsverfahren mit dem damit verbundenen Schmutzaufrühren Ihren wohlwollenden Plan, den Jungen seiner elenden Lage zu entreißen, stark beeinträchtigen.“
„Ach, was ist da zu tun?“ rief Rosa. „Warum hat man nur nach der Kriminalpolizei geschickt?“
„Ich gäbe wer weiß was darum, wenn man das ungeschehen machen könnte“, sagte Frau Maylie.
„Das einzige, was wir tun können“, meinte der Doktor und setzte sich ergeben auf einen Stuhl, „ist, daß wir die Kerle durch Unverschämtheit zu verblüffen suchen. Da der Zweck ein guter ist, sind die Mittel geheiligt. Der Junge hat Fieber und ist nicht vernehmungsfähig; das ist ein Trost. Wir müssen diesen Umstand ausnutzen, hoffentlich gelingt’s – Herein!“
„Nun, mein Herr“, sagte Blathers, der jetzt mit seinem Kollegen ins Zimmer trat, aber bevor er zu sprechen begann, die Tür sorgfältig schloß, „das ist kein geschobenes Ding.“
„Zum Teufel, was meinen Sie mit geschobenem Ding?“ fragte der Doktor ungeduldig.
„Wir nennen das ein geschobenes Ding“, sagte der Polizist zu den Damen gewandt, als ob er sie um ihre Unwissenheit bemitleide, den Doktor aber aus demselben Grunde verachte, „wenn die Dienerschaft bei dem Einbruch beteiligt ist.“
„Wir hatten sie auch nicht in Verdacht“, sagte Frau Maylie.
„Schon möglich, gnädige Frau“, erwiderte Blathers, „das Personal hätte aber trotzdem die Hand mit im Spiel haben können. Es ist übrigens meisterhafte Arbeit, hier war sicher einer von der Londoner Einbrecherzunft am Werk!“
„Wirklich, prächtige Arbeit“, fügte Duff leise hinzu.
„Es waren zwei Einbrecher, die einen Jungen bei sich hatten, der durch das kleine Fenster mußte. Mehr läßt sich für den Augenblick nicht sagen. Wir möchten uns den Jungen oben doch einmal ansehen!“
„Darf ich den Herren zuerst etwas zu trinken anbieten?“ sagte der Doktor, und sein Gesicht glänzte vor Freude über seinen Einfall.
„Gewiß“, rief Rosa eifrig, „sie sollen im Augenblick bedient werden.“
„Wir nehmen dankend an, gnädiges Fräulein“, sagte Blathers und fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund.
„Solche Verhöre machen die Kehle trocken. Bitte, keine Umstände unsertwegen, was gerade zur Hand ist.“
„Was wäre Ihnen am liebsten?“ fragte der Doktor, der jungen Dame zum Büfett folgend.
„Einen Tropfen Brandy, Herr, wenn es Ihnen gleich ist. Es war kalt auf dem Wege von London hierher, und ich finde immer, ein Gläschen Brandy wärmt das Herz so angenehm!“
Diese interessante Feststellung war an Frau Maylie gerichtet, die sie sehr freundlich aufnahm. Der Doktor schlüpfte inzwischen aus dem Zimmer.
„Ja, meine Damen“, sagte Blathers und hob das Glas hoch, „ich habe während meiner Dienstzeit eine ganze Anzahl solcher Fälle bearbeitet.“
„Zum Beispiel den Einbruch in Edmonton“, sagte Duff, dem Gedächtnisse seines Kollegen nachhelfend.
„Ja, das war ein ganz ähnlicher Fall, nicht wahr?“ meinte Herr Blathers. „Conkey Chickweed war der Täter!“
„Das hast du immer gesagt“, erwiderte Duff, „aber ich behaupte, es war die Familie Pet, und Conkey hatte daran keinen größeren Anteil als ich selber.“
„Ach geh“, entgegnete Blathers, „ich weiß das besser. Erinnerst du dich, daß damals auch Conkey sein Geld gestohlen wurde? Was das für ein Aufsehen machte! Mehr als der neuste Sensationsroman!“
„Wie war das?“ fragte Rosa, ängstlich besorgt, die unwillkommenen Gäste bei guter Laune zu erhalten.
„Das war ein Spitzbubenstreich, gnädiges Fräulein, auf den kaum irgendein anderer verfallen wäre“, antwortete Blathers. „Der Conkey Chickweed also hatte ein Wirtshaus, der Battlebrücke gegenüber, und einen Keller, wo viele junge Lords hinkamen, um den Hahnenkämpfen, Dachshetzen und dergleichen zuzuschauen. Er gehörte damals noch nicht zur Diebeszunft; da wurden ihm einmal mitten in der Nacht dreihundertsiebenundzwanzig Guineen, in einem Sacke befindlich, von einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster über dem Auge aus seiner Schlafstube gestohlen. Der Dieb, der sich unter dem Bette versteckt hatte, sprang nach der Tat aus dem Fenster. Aber Conkey war nicht weniger flink, durch das Geräusch geweckt, fuhr er schnell aus seinem Bett heraus, und schoß eine Kugel auf den Flüchtling ab; er brachte durch den Knall die ganze Nachbarschaft auf die Beine. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß Conkey den Dieb getroffen hatte, denn man konnte auf einer ziemlichen Strecke Blutspuren verfolgen, die sich schließlich verloren. Das Geld aber war weg, und Herr Chickweed machte Bankerott. Man eröffnete Subskriptionen für den armen Mann und ließ Sammellisten und, weiß der Henker, was noch alles für ihn herumgehen. Dieser lief mit gerauftem Haar wie ein Verrückter durch die Straßen, und man befürchtete, er würde sich ein Leid antun. Eines Tages kam er in fliegender Eile auf die Polizei und hatte eine geheime Unterredung mit dem Polizeirichter, der am Schluß derselben nach Jem Spyers klingelte und diesen, einen unserer tüchtigsten Detektive, beauftragte, Herrn Chickweed bei der Ergreifung des Diebes zu helfen. ‚Ich sah ihn gestern morgen an meinem Hause vorbeigehen‘, sagte Chickweed. ‚Warum haben Sie ihn nicht gleich am Kragen gepackt?‘ fragte Spyers. – ‚Ich war so bestürzt, daß man mir den Schädel mit einem Zahnstocher hätte einschlagen können. Wir werden ihn aber bestimmt erwischen, denn zwischen zehn und elf Uhr abends kam er wieder vorbei.‘ Spyers hatte dies kaum gehört, als er seine Reisetasche packte und mit Conkey fortging. Er setzte sich in Conkeys Wirtshaus hinter einen Fenstervorhang, den Hut auf dem Kopf, um jederzeit zur Verfolgung bereit zu sein. Plötzlich, in später Nacht, fing Chickweed zu schreien an: ‚Da ist er! Haltet den Dieb!‘ Jem Spyers stürzt hinaus und sieht Chickweed, in einem fort rufend, durch die Straßen rennen. Von allen Seiten eilen Leute herbei, und überall schallt der Ruf ‚Diebe!‘, wobei Chickweed am lautesten schreit. Spyers verliert ihn an einer Ecke eine Minute aus dem Gesicht – schießt herum – sieht eine kleine Gruppe – dringt hinein. ‚Welches ist der Dieb?‘ – ‚Verflucht‘, sagt Chickweed, ‚ich hab’ ihn wieder verloren!‘“
„Das war merkwürdig, aber da man keinen Dieb fand, so gingen sie wieder ins Wirtshaus zurück. Am nächsten Morgen saß Spyers wieder auf seinem Posten hinter dem Fenstervorhang und guckte sich nach einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster schier die Augen aus. Endlich konnte er sich nicht enthalten, sie für eine Minute zu schließen, und im Augenblick hörte er Chickweed brüllen: ‚Da ist er!‘ Er rannte abermals hinaus, Chickweed die halbe Straßenlänge voraus, und nach einem zweimal so langen Rennen als gestern hatte man den Dieb wieder aus dem Gesicht verloren. Dies wiederholte sich noch verschiedene Male, bis die eine Hälfte der Nachbarn meinte, Herr Chickweed sei vom Teufel bestohlen worden, der ihn außerdem noch nachträglich foppe, während die andere Hälfte sagte, der arme Herr Chickweed sei vor Kummer närrisch geworden.“
„Und was sagte Jem Spyers?“ fragte der Doktor, der kurz nach Geschichtsanfang wieder ins Zimmer getreten war.
„Der sagte zuerst gar nichts“, fuhr Blathers fort, „horchte aber auf alles, ohne daß man es merkte. Ein deutlicher Beweis, daß er sein Geschäft verstand. Eines Morgens aber trat er an den Schenktisch, zog seine Schnupftabaksdose heraus und sagte: ‚Chickweed, ich hab’s heraus, wer diesen Diebstahl begangen hat.‘ – ‚Wirklich?‘ versetzte Chickweed, ‚ach, lieber Spyers, ich will zufrieden sterben, wenn ich an diesem Spitzbuben gerächt bin! Wo ist er?‘ – ‚Ach‘, sagte Spyers und bot ihm eine Prise an, ‚lassen Sie doch diese faulen Witze – Sie haben es selbst getan.‘ – Und so war’s auch, und er hatte ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wäre er nicht so ängstlich bemüht gewesen, allen bösen Schein zu vermeiden, so wäre die Geschichte nie ans Licht gekommen!“ schloß Herr Blathers. Er setzte sein Glas auf den Tisch und spielte wieder mit den Handschellen.
„In der Tat, ein merkwürdiger Fall“, meinte der Doktor. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt zu dem Jungen hinaufgehen.“
Herr Giles leuchtete den beiden Beamten und Herrn Losberne nach Olivers Zimmer.
Dieser hatte geschlafen, aber er sah kränker und fiebriger aus als vorher. Er richtete sich mit des Doktors Hilfe im Bette auf, blickte verständnislos auf die Fremden und schien keine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.
„Das“, sagte Herr Losberne lebhaft, aber mit leiser Stimme, „ist der Junge, der auf eines Nachbarn Grundstück durch Selbstschuß verwundet wurde und heute morgen hier um Hilfe anklopfte. Er wurde dann sogleich von diesem schlauen Herrn da, der die Kerze in der Hand hat, ergriffen und in einer Weise mißhandelt, die lebensgefährlich genannt zu werden verdient. Ich sage das als Sachverständiger.“
Herr Giles blickte verdutzt auf die Polizeibeamten und den Doktor.
„Ich nehme an, Sie wollen das nicht ableugnen“, sagte der Doktor und legte Oliver wieder in die Kissen zurück.
„Es geschah alles in der besten Absicht“, antwortete Giles. Gewiß – ich dachte, es wäre der Junge, sonst hätte ich mich nicht in der Weise an ihm vergriffen. Ich bin doch kein brutaler Kerl, Herr Doktor.“
„Sie dachten, es wäre wessen Junge?“ fragte Blathers.
„Des Einbrechers Junge“, antwortete Giles. „Sie hatten einen Jungen bei sich.“
„Glauben Sie das noch?“
„Was, glauben?“ fragte Giles mit leerem Blick.
„Daß es derselbe Junge ist, den die Einbrecher bei sich hatten, Idiot!“ sagte Blathers ungeduldig.
„Ich weiß nicht, weiß es wirklich nicht“, sprach Giles mit Jammermiene. „Drauf schwören, daß er es ist, kann ich nicht.“
„Nun, wofür halten Sie ihn denn?“
„Ich weiß nicht, wofür ich ihn halten soll. Ich glaube nicht, daß es der Junge ist, ich möchte sagen, ich weiß es fast gewiß, daß er es nicht sein kann. Sie wissen, es ist nicht möglich.“
„Hat der Mann getrunken?“ fragte Blathers den Doktor.
„Sie sind wirklich ein richtiger Konfusionsrat“, sagte Duff zu Giles mit verächtlicher Miene.
Der Doktor hatte währenddessen Olivers Puls gefühlt, er bemerkte nun, daß, wenn die Herren noch Zweifel hätten, so möchten sie so gut sein und in das anstoßende Zimmer gehen und dort Brittles verhören.
Die beiden Beamten begaben sich nun in das nächste Gemach und vernahmen Brittles. Dieser verwickelte sich in so viele Widersprüche, daß daraus nur seine eigene Unklarheit deutlich wurde. Er erklärte, daß er den Jungen des Einbrechers, wenn man ihm denselben vorführen würde, nicht wiedererkennen würde. Er habe Oliver nur für diesen Jungen gehalten, weil Herr Giles sagte, er wäre es. In der Küche habe eben Herr Giles aber gesagt, er fürchtete, in der Sache ein wenig voreilig gewesen zu sein.
Es wurde nun die Frage aufgeworfen, ob Herr Giles überhaupt jemand getroffen habe. Als man die zweite Pistole untersuchte, stellte sich heraus, daß sie nur mit Pulver geladen war. Diese Entdeckung machte auf alle einen tiefen Eindruck – nur auf den Doktor nicht, der einige Minuten vorher die Kugel herausgezogen hatte. Nun überließen die Kriminalbeamten, ohne sich weiter um Oliver zu kümmern, das Haus der Obhut des Ortspolizisten und nahmen ihr Nachtlager in der Stadt. Am nächsten Morgen wollten sie wiederkommen.
Des anderen Tages verbreitete sich das Gerücht, daß sich im Gefängnis von Kingston zwei Männer und ein Junge befänden, die in der Nacht unter verdächtigen Umständen aufgegriffen worden seien. Blathers und Duff begaben sich sofort dorthin. Eine genaue Untersuchung stellte fest, daß die Männer schlafend in einer Scheune gefunden waren. Obgleich dies nun ein „großes“ Verbrechen war, konnte es doch nur mit Gefängnis bestraft werden. In Ermangelung aller weiteren Zeugnisse vermochte man es aber nicht als einen genügenden Beweis zu betrachten, daß die Schläfer einen mit Gewalttat verbundenen Einbruch begangen hätten und damit der Todesstrafe verfallen wären. Die beiden Detektive kehrten also ebenso klug zurück, wie sie hingegangen waren.
Um uns kurz zu fassen – nach einigem Hin und Her ließ sich der benachbarte Friedensrichter leicht bewegen, Frau Maylies und Herrn Losbernes Bürgschaft dafür anzunehmen, daß Oliver, falls verlangt, vor Gericht erscheine. Blathers und Duff, mit einigen Guineen von Frau Maylie belohnt, kehrten mit grundverschiedenen Ansichten von der Sache nach London zurück. Der letztere neigte nach reiflicher Erwägung aller Umstände zu dem Glauben, daß der Einbruch von der Familie Pet verübt sei, während ersterer zu dem Schlusse kam, daß einzig und allein der große Herr Conkey Chickweed die Tat ausgeführt haben könnte.
Inzwischen erholte sich Oliver allmählich unter Frau Maylies, Rosas und des guten Doktors Pflege.