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Sechsundzwanzigstes Kapitel

In dem eine geheimnisvolle Person auf der Bildfläche erscheint und mancherlei Dinge sich ereignen, die sich von dieser Geschichte nicht trennen lassen

Der alte Mann war bereits an der Straßenecke, ehe er anfing, sich von dem Schrecken einigermaßen zu erholen, den ihm Tobys Bericht eingejagt hatte. Er unterbrach seinen Lauf nicht, sondern stürmte wie von Sinnen unentwegt weiter. Ein Wagen hätte ihn um ein Haar überfahren, wenn nicht die lauten Zurufe des Publikums ihn auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht hätten. Er vermied soviel wie möglich die Hauptstraßen und gelangte auf Nebengäßchen endlich nach Snow-Hill. Hier beschleunigte er seine Schritte noch mehr und verfiel erst wieder in seinen gewöhnlichen schiebenden Gang, als er in eine Sackgasse eingebogen war, in der er sich in seinem Element fühlte.

Unweit der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammentreffen, führt ein enges und häßliches Gäßchen nach Saffron-Hill. In seinen schmutzigen Läden sind große Haufen seidener Taschentücher von jeder Größe und den verschiedensten Mustern zum Verkauf gestellt, denn hier wohnen die Handelsleute, die sie den Dieben abkaufen. Hunderte solcher Tücher flattern, mit hölzernen Klammern befestigt, an Ladentür und Schaufenster, während im Innern ganze Stöße derselben in den Regalen liegen. So klein auch das Gäßchen, mit Namen Fieldo-Lane, ist, so hat es doch seinen Friseur, sein Café, seine Kneipe und seine Garküche. Es bildet eine eigene Handelskolonie, ein Stapelplatz gestohlener Waren. Frühmorgens und im Abenddunkel erscheinen schweigsame Handelsleute, die in düsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abschließen und dann ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Hier legt der Trödler und Lumpenhändler seine Ware als Aushängeschild für den kleinen Dieb aus.

Dies war der Ort, wohin der Jude seine Schritte lenkte.

Er war den Bewohnern des Gäßchens gut bekannt, denn viele von ihnen, die sich des Kaufs oder Verkaufs wegen lauernd vor ihren Läden aufhielten, nickten ihm bei seinem Vorübergehen vertraulich zu. Er erwiderte die Begrüßung in gleicher Weise, jedoch ohne anzuhalten. Am äußersten Ende der Gasse blieb er endlich stehen und redete einen kleinen Mann an, der so viel von seiner Person in einen Kinderstuhl gezwängt hatte, als dieser aufnehmen konnte. Der Handelsmann saß vor seinem Laden und rauchte eine Pfeife.

„Ach, Herr Fagin, Ihr Anblick ist Labsal für Verschmachtende!“ sagte der ehrenwerte Händler in Erwiderung auf des Juden Frage nach seinem Befinden.

„Die Nachbarschaft war mir ein wenig zu heiß, Lively“, versetzte Fagin und zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, diese Klagen sind mir auch ein paarmal zu Ohren gekommen“, antwortete der Trödler, „aber es wird auch mal wieder weniger heiß; meinen Sie nicht auch?“

Fagin nickte zustimmend und fragte dann, indem er nach Saffron-Hill zeigte, ob heute abend wohl jemand dort wäre.

„In den ‚Krüppeln‘?“ fragte das Männchen. Fagin nickte.

„Muß mal nachdenken. Ja, soviel ich mich entsinnen kann, sind ungefähr ein halbes Dutzend hingegangen. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Freund dabei war!“

„Sikes also nicht?“ fragte Fagin enttäuscht.

„Non est ventus, wie die Rechtsgelehrten sagen“, entgegnete der kleine Mann mit einem pfiffigen Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie heute nichts zu verkaufen?“

„Nein, heute nicht“, sagte der Jude und wandte sich zum Gehen.

„Gehen Sie in die ‚Krüppel‘, Fagin?“ fragte das kleine Männchen. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme mit.“

Doch der Jude gab ihm zu verstehen, daß er es vorziehe, allein zu sein. Und da sich obendrein der kleine Mann nicht so leicht von seinem Kinderstuhl losmachen konnte, so mußte für diesmal das angesehene Wirtshaus „Zu den Krüppeln“ der Ehre verlustig gehen, Herrn Lively zu seinen Gästen zu zählen. Bis er sich auf die Beine gebracht hatte, war Fagin verschwunden, und so zwängte sich Herr Lively wieder in den Kinderstuhl und nahm mit wichtiger Miene seine Pfeife wieder in die Hand.

Die „Drei Krüppel“ oder vielmehr die „Krüppel“ waren das Gasthaus, in dem wir Herrn Sikes und seinen Hund schon mal getroffen hatten. Es war einer gewissen Sorte von Gästen wohlbekannt. Fagin gab dem Mann am Schenktisch nur ein Zeichen und ging dann geradezu die Treppe hinauf. Oben öffnete er die Tür eines Zimmers und trat leise ein. Er sah sich, die Augen mit der Hand beschattend, vorsichtig um.

Das Zimmer war durch zwei Gaslampen erhellt, deren Licht jedoch nicht durch die mit Läden gut geschlossenen Fenster nach außen drang. In dem von Tabaksrauch angefüllten Raum konnte Fagin kaum etwas erkennen. Nach und nach aber, als sich der Rauch durch den Luftzug der offenen Tür etwas verzogen hatte, tauchte eine Anzahl von Köpfen aus dem Qualm auf. Wenn sich das Auge mehr an den Schauplatz gewöhnt hatte, so konnte der Beobachter allmählich eine zahlreiche, aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft wahrnehmen, die sich um einen langen Tisch drängte. An dessen oberem Ende saß der Vorsitzende, in der Hand das Zeichen seiner Würde, einen Holzhammer haltend, während an einem verstimmten Piano in der entgegengesetzten Ecke ein Musiker sich niedergelassen hatte, der sich einer bläulichen Nase erfreute und eine von Zahnweh geschwollene Backe hatte.

Als der Jude leise ins Zimmer trat, hatte der Klavierspieler gerade durch einen präludierenden Lauf über alle Tasten die kunstbegeisterten Gäste zu einem Verlangen nach einem Liede veranlaßt, und sie gaben ihren Wunsch in ziemlich lärmender Weise zu erkennen. Als die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt war, unternahm es eine junge Dame, die Gesellschaft mit einer aus vier Strophen bestehenden Ballade zu unterhalten. Der die Sängerin begleitende Künstler zappelte sich aus Leibeskräften ab, um seiner Musik den gehörigen Schwung zu geben. Als dieser Kunstgenuß zu Ende war, gab der Herr Vorsitzende mit dem Hammer ein Zeichen, und sofort begannen ein paar Herren zu seiner Rechten und Linken ein Duett, wofür sie großen Beifall ernteten.

Die Gesellschaft wies einige interessante Typen auf. Da war zuerst mal der Herr Vorsitzende in der Person des Wirtes selbst – ein schwerfälliger ungehobelter Kerl – der während des Gesanges seine Augen überall umherschweifen ließ und auf alles, was geschah und gesprochen wurde, sorgfältig achtete. Dann die Sänger neben ihm die mit Künstlergleichmut die Lobsprüche der Gesellschaft hinnahmen und sich nebenbei herabließen, ein Dutzend Gläser Grog zu leeren, die ihnen von ihren lärmendsten Bewunderern gespendet wurden. Man sah hier Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit in allen Abstufungen. Den dunkelsten und traurigsten Teil dieses düsteren Gemäldes bildeten jedoch die Weiber – lauter Mädchen oder junge Frauen, die sich alle noch im Mai ihres Lebens befanden, und von denen einige die letzten Spuren einstiger Jugendfrische zeigten, während bei den meisten in ihrem wüsten Aussehen kein Zeichen edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war.

Während der Gesangsdarbietungen sah sich Fagin die Gesellschaft scharf an, konnte aber augenscheinlich das Gesicht, welches er suchte, nicht finden. Schließlich gelang es ihm den Blick des vorsitzenden Wirtes auf sich zu ziehen und ihm einen Wink zu geben. Dann verließ er das Zimmer so unauffällig, wie er eingetreten war.

„Was wünschen Sie, Herr Fagin“, fragte der Wirt, der dem Juden auf den Treppenabsatz gefolgt war. „Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen? Wir würden es uns zur Ehre schätzen!“

Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte flüsternd: „Ist er da?“

„Nein“, antwortete der Wirt.

„Und keine, Nachricht von Barney?“ fragte Fagin.

„Keine, er wird sich auch nicht rühren, bis die Luft rein ist. – Verlassen Sie sich darauf, man ist ihnen auf der Spur, und sobald er sich zeigte, würde man ihn klappen. Barney wird sich in Sicherheit gebracht haben, sonst hätte ich schon etwas von ihm gehört. Darüber können Sie ganz ruhig sein.“

„Kommt er heute nacht nicht her?“ fragte der Jude, das „er“ stark betonend.

„Sie meinen Monks?“ entgegnete der Wirt zögernd.

„Pst, ja doch.“

„Sicherlich“, versetzte der Mann und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. „Er müßte eigentlich schon hier sein. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, so – “

„Nein, nein“, sagte Fagin hastig, als käme ihm die Abwesenheit der betreffenden Person sehr gelegen, so gerne er sie auch gesehen hätte. „Sagen Sie ihm doch, ich hätte ihn besuchen wollen, und er solle heute abend noch – nein, morgen – er solle also morgen zu mir kommen. Da er nicht hier ist, wird’s wohl auch bis morgen Zeit haben!“

„Schön, sagte der Wirt. „Weiter nichts?“

„Nein, kein Wort mehr“, sagte der Jude und ging die Treppe hinunter.

„Hören Sie mal“, rief ihm der Mann im Flüsterton nach, „hier ist noch ein Schlag zu machen. Phil Barker ist hier – mächtig duhn, dermaßen, daß ihn ein Kind neppen könnte!“

„So, so! Aber Phil Barkers Zeit ist noch nicht gekommen“, antwortete der Jude leise zurück. „Er hat noch etwas zu tun, ehe wir uns mit ihm verkrachen können. Also gehen Sie nur wieder zu Ihrer Gesellschaft zurück und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihr Leben nur ordentlich genießen – wer weiß, wie lange noch. Ha! Ha! Ha!“ –

Der Wirt stimmte in das Lachen des Alten ein und kehrte zu seinen Gästen zurück. Sobald der Jude allein war, verdüsterten sich seine Mienen wieder. Nach kurzem Besinnen winkte er eine Droschke heran und ließ sich nach Bethnal Green fahren. Ein paar hundert Schritte von Sikes Wohnung stieg er aus und legte den Rest seines Weges zu Fuß zurück.

„Nun“, brummte der Jude vor sich hin, als er an die Tür klopfte, „wenn man hier ein abgekartetes Spiel mit mir treibt, so werde ich es bald heraushaben, meine Liebe, so verschlagen du auch bist.“

Fagin schlich leise die Treppe hinauf und trat ohne anzuklopfen in Nancys Zimmer. Das Mädchen war allein und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Das Haar hing ihr in Strähnen herunter.

„Sie ist betrunken“, dachte der Jude, „Oder ihr ist schlecht zumute.“

Als der Alte die Tür schloß, wurde das Mädchen durch das Geräusch wach. Sie fragte ihm offen ins Gesicht sehend, was es Neues gäbe, und hörte aufmerksam zu, als er Toby Crackits Bericht wiederholte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie nach Beendigung der Erzählung ihre frühere Stellung wieder ein. Sie schob das Licht ungeduldig beiseite, wechselte verschiedene mal nervös ihre Lage und scharrte mit den Füßen. Das war jedoch alles.

Während sie schwieg, blickte der Jude unruhig im Zimmer umher. Er schien sich überzeugen zu wollen, ob Sikes nicht etwa heimlich zurückgekehrt sei. Durch seine Untersuchung anscheinend zufriedengestellt, hustete er einige mal und machte verschiedene vergebliche Versuche, ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen. Schließlich fragte er im liebenswürdigsten Tone:

„Und was meinen Sie wohl, Kindchen, wo Bill jetzt ist?“

Das Mädchen antwortete in kaum verständlichen Worten, sie könne das nicht wissen. Sie schien zu weinen.

„Und der Junge?“ fuhr Fagin fort und versuchte einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. „Das arme Kindl denken Sie nur, Nancy, sie haben es in einem Graben liegengelassen!“

„Da ist es besser dran als bei uns“, versetzte das Mädchen aufblickend. „Und wenn es Bill nicht nachteilig wäre, würde ich wünschen, Oliver läge tot im Graben, und seine Gebeine vermoderten dort.“

„Was?“ rief der Jude in großem Erstaunen.

„Ja, es ist mein Ernst. Ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen muß und weiß, daß er das Schlimmste überstanden hat. Es ist mir furchtbar, ihn in meiner Nähe zu haben. Wenn ich ihn sehe, muß ich mich selbst und euch alle verabscheuen!“

„Ach, du bist betrunken, Mädel“, sagte der Jude verächtlich.

„Wirklich? Deine Schuld ist’s nicht, wenn ich es nicht bin! Wenn’s nach dir ginge, wäre ich immer betrunken, nur jetzt nicht. Meine Gemütsverfassung paßt dir nicht, nicht wahr?“

„Allerdings nicht“, sagte Fagin aufgebracht.

„So ändert’s“, versetzte das Mädchen mit einem Auflachen.

„Werde ich auch“, schrie der Jude, durch die unerwartete Störrigkeit des Mädchens und die Verdrießlichkeiten des Abends im höchsten Grade erbittert. „Paß auf, Dirne, höre gut auf die Worte eines Mannes, der nur drei Worte zu sagen braucht, und Sikes wird gehängt. Wenn er zurückkommt und den Jungen nicht mitbringt – wenn er glücklich davongekommen ist und liefert mir Oliver, tot oder lebend, nicht wieder ab – , so ist es besser, Mädchen, du bringst ihn selbst um, wenn du nicht willst, daß er Bammelmann macht!“

„Was soll das heißen?“ fragte Nancy unwillkürlich.

„Das will heißen, daß der Junge mir viele hunderte Pfund wert ist“, schrie Fagin sinnlos vor Wut. „Soll ich, was mir der Zufall gefahrlos in die Hände gespielt hat durch die Dummheiten einer betrunkenen Bande verlieren, deren Leben ich in meiner Hand halte. Und soll ich mich auch noch an einen richtigen Teufel ketten, der die Macht hat und nur zu wollen braucht, um – “

Er keuchte vor Wut und rang nach Worten, doch plötzlich zügelte er seinen Zorn und nahm sich zusammen. Hatte er vorher noch mit geballten Fäusten in der Luft herumgefuchtelt, so sank er jetzt in einen Stuhl zurück und bebte bei dem Gedanken, eine Schurkerei selbst ausgeplaudert zu haben. Nach kurzem Schweigen sah er sich verstohlen nach Nancy um und war beruhigt, als er sie in der teilnahmslosen Stellung wie zuerst sah.

„Nancy, Kindchen“, krächzte Fagin jetzt wieder in seinem gewöhnlichen Tone, „hast du alles gehört, was ich sagte?“

„Ach, laßt mich zufrieden. Ist es Bill diesmal nicht geglückt, dann ein andermal. Er hat manche feine Sache für Euch geschoben und wird’s auch in Zukunft tun. Wenn’s aber nicht geht, dann geht’s eben nicht. Also nun Schluß!“

„Aber der Junge, Kindchen?“ sagte der Jude und rieb sich nervös die Hände.

„Ich hoffe, er ist tot“, fiel das Mädchen schnell ein, „und dadurch allem Ungemach, besonders aber Euren Händen entronnen – wenn nur Bill nicht dabei zu Schaden gekommen ist. Das glaube ich jedoch nicht, denn wenn Toby sich in Sicherheit bringen konnte, so kann es Bill jedenfalls zweimal!“

„Und was meine vorigen Worte anbelangt, liebes Kind“, bemerkte der Jude, und sah sie mit seinen schielenden Augen lauernd an.

„Ihr müßt es nochmals sagen, wenn Ihr was von mir wollt. Es wäre aber besser, bis morgen zu warten. Für einen Augenblick habt Ihr mich munter gemacht, jetzt ist mir aber schon wieder ganz dämlich zumute.“

Fagin stellte noch mehrere Fragen an sie, um sich zu überzeugen, ob das Mädchen seine unvorsichtigen Andeutungen beachtet und behalten hätte. Sie antwortete jedoch so unbefangen und ließ sich durch seine lauernden Blicke so wenig in Verlegenheit bringen, daß sich sein ursprünglicher Gedanke zu bestätigen schien, sie hätte zu tief ins Glas geguckt. Nancy war allerdings nicht frei von diesem Laster, das bei Fagins Schülerinnen so häufig war und von ihm auch noch ermutigt wurde. Ihr unordentliches Aussehen und der starke Branntweingeruch, der das Zimmer erfüllte, schien ein Beweis für Fagins Annahme zu sein. Er fühlte sich durch diese Feststellung sehr erleichtert und schickte sich zum Gehen an. Er verließ also seine junge Freundin, die noch immer mit dem Kopfe auf dem Tische lag und schlief.

Es war elf Uhr und bitterkalt, er eilte deshalb, nach Hause zu kommen. Der scharfe Wind schien die Straßen sowohl von Menschen, als auch von Schmutz leer gefegt zu haben. Für den Juden war der Wind günstig, denn er trieb denselben vor sich her.

Herr Fagin hatte seine Straßenecke erreicht und wollte eben seinen Hausschlüssel aus der Tasche holen, als eine dunkle Gestalt aus dem tiefen Schatten eines gegenüberliegenden Hauses auftauchte und sich geräuschlos an seine Seite schlich.

„Fagin!“ flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohre.

„Ist das – “

„Ja“, fiel der Fremde schnell ein. „Ich laure hier schon zwei Stunden auf Euch, wo zum Teufel seid Ihr denn gewesen?“

„War in Ihren Angelegenheiten fort, mein Lieber“, antwortete: der Jude, ihn unruhig ansehend und seine Schritte mäßigend, „die ganze Nacht in Ihren Angelegenheiten.“

„Das wäre“, versetzte höhnisch der Fremde. „Nun – und was ist dabei herausgekommen?“

„Nicht viel Gutes“, entgegnete Fagin.

„Doch auch nichts Schlimmes, hoffe ich“, sagte der Mann und blieb bestürzt stehen.

Der Jude schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch der Fremde unterbrach ihn und meinte, er solle ihm das zu Hause erzählen, er wäre halb erfroren. Fagin schnitt ein Gesicht, als wenn ihm das unangenehm wäre, und murmelte etwas von ungeheizter Stube. Der Mann wiederholte jedoch seinen Wunsch so gebieterisch, daß der Jude ihn in sein Haus hineinließ.

„Hier ist’s dunkel wie im Grabe“, sagte der Mann, ein paar Schritte vorwärts tappend. „Beeilt Euch, Licht zu holen, ich kann so etwas nicht leiden.“

„Schließen Sie die Tür“, flüsterte Fagin und hatte noch nicht ausgesprochen, als jene mit lautem Krachen zuflog.

„Dafür kann ich nicht“, sprach der andere und tappte weiter, „der Wind hat sie zugeschlagen. Sorgt für Licht, oder ich stoße mir noch in diesem verwünschten Loch den Schädel ein.“

Fagin schlich die Küchentreppe hinab und kehrte bald mit einem brennenden Licht und der Kunde zurück, daß Toby Crackit im Hinterzimmer und die Jungen im Vorderzimmer schliefen. Er winkte nun dem Fremden und führte ihn die Treppe hinauf.

„Wir können uns die paar Worte hier sagen“, meinte Pagin und öffnete im ersten Stockwerk eine Tür. „Da in den Fensterläden Löcher sind und wir unsern Nachbarn nie Licht zeigen, so will ich den Leuchter auf die Treppe stellen. – So!“

Bei diesen Worten bückte sich der Jude, setzte das Licht auf die Treppe gerade der Zimmertür gegenüber und trat ins Gemach. Mit Ausnahme eines zerbrochenen Lehnstuhles und eines hinter der Tür stehenden alten Sofas ohne Bezug waren weiter keine Möbel vorhanden. Der Fremde warf sich sofort aufs Sofa, indes der Jude den Lehnstuhl näher rückte. Es war nicht ganz finster, denn die Tür stand halb offen; so saßen sie sich zuerst schweigend gegenüber. Nach einer Weile flüsterten sie miteinander, und ein Horcher hätte leicht gewahren können, daß der Fremde mächtig aufgeregt zu sein schien und Fagin sich gegen einige seiner Ausführungen verteidigte. Sie mochten in dieser Weise wohl eine Viertelstunde verhandelt haben, als Monks (mit diesem Namen redete der Jude den Fremden im Laufe des Gespräches an) mit etwas lauterer Stimme fortfuhr:

„Ich sage Euch, es war schlecht überlegt. Warum habt Ihr ihn nicht hier behalten und einen Taschendieb aus ihm gemacht?“

„Nun höre einer bloß mal an“, sagte Fagin achselzuckend.

„Wie, wollt Ihr etwa damit sagen, Ihr hättet’s nicht gekonnt, wenn Ihr gewollt hättet?“ sagte Monks finster. „Habt Ihr es nicht dutzendmal mit anderen Jungen verstanden? Hättet Ihr ein Jahr Geduld mit ihm gehabt, wäre es Euch eine Kleinigkeit gewesen, daß er vom Gericht verurteilt und deportiert worden wäre, vielleicht auf Lebenszeit.“

„Wem wäre damit gedient gewesen, lieber Freund?“ sagte der Jude unterwürfig.

„Mir!“ antwortete Monks.

„Aber mir nicht“, entgegnete Fagin noch demütiger. „Er hätte mir vielleicht noch nützlich werden können. Wenn zwei bei einem Geschäft beteiligt sind, so ist es nur recht und billig, daß beider Vorteil berücksichtigt wird, nicht wahr?“

„Schön, was weiter?“ fragte Monks ver-drießlich.

„Ich hatte bald heraus, daß es nicht leicht war, ihn fürs Geschäft zu erziehen. Er war nicht wie die anderen Jungen unter solchen Umständen!“

„Hol’s der Teufel, nein“, brummte der Mann, „er wäre sonst längst ein Dieb geworden.“

„Es war unmöglich, ihn zum Schlechten anzuhalten“, fuhr Fagin fort und betrachtete dabei ängstlich Monks Miene. „Mit Drohungen und Strenge war auch nichts bei ihm auszurichten. Was konnte ich tun? Ihn wieder mit Karl und dem Gannef auf Tour schicken? Wir hatten an dem ersten Mal genug, es war für uns alle gefährlich.“

„Dafür kann ich doch nichts“, bemerkte Monks.

„Sicher nicht“, versetzte der Jude, „ich klage ja auch nicht, denn ohne diesen Vorfall wären Sie nie auf den Jungen aufmerksam geworden. Sie hätten nie die Entdeckung gemacht, daß er es sei, den Sie suchten. Schön, ich brachte ihn mit Hilfe des Mädchens wieder zurück und jetzt hält sie ihm mit einem mal die Stange.“

„Erwürgt das Frauenzimmer“, schrie Monks unwirsch.

„Ja, das geht nicht, lieber Freund“, erwiderte Fagin lächelnd. „Ich kenne diese Art Mädels gut. Sobald der Junge weniger unschuldig sein wird, wird sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Sie wollen einen Dieb aus ihm machen. Wenn er noch am Leben ist, werde ich’s nochmal versuchen, und wenn – wenn – “ sagte der Jude und rückte mit seinem Stuhl näher, „doch es ist nicht wahrscheinlich – aber wenn es zum Schlimmsten gekommen ist und Oliver ist tot – – “

„Dann ist’s nicht meine Schuld!“ fiel Monks mit bestürzter Miene ein und umklammerte Fagins Arm mit zitternden Händen. „Ihr wißt genau, daß ich dabei meine Hand nicht im Spiele hatte. Alles, nur nicht seinen Tod, sagte ich gleich anfangs. Ich will kein Blut vergießen, es kommt stets ans Tageslicht und läßt einem außerdem keine Ruhe. Wenn sie ihn totgeschossen haben, ich bin nicht schuld, verstanden! – Donnerwetter, was ist in dieser verfluchten Kabache los! – Was war das? –“

„Was?“ schrie der Jude und umfaßte den Erschrockenen, als er aufsprang, mit beiden Armen. „Was – Wo?“

„Dort!“ brüllte der Mann, nach der gegenüberliegenden Wand stierend. „Der Schatten – ich sah den Schatten eines Weibes in Hut und Mantel, wie einen Hauch an der Wandtäfelung vorbei­gleiten.“

Beide stürzten aufgeregt aus dem Zimmer ins Treppenhaus. Sie horchten angespannt, allein tiefe Stille herrschte im ganzen Hause.

„Es war Einbildung!“ sagte Fagin und nahm das Licht auf.

„Ich will drauf schwören, daß ich’s sah“, versetzte Monks zitternd. „Der Schatten beugte sich vor, als ich ihn zuerst bemerkte und glitt weg, sobald ich von ihm sprach.“

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu und forderte ihn höflich auf, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe hinauf und sahen sich in allen Zimmern um, sie waren kahl und leer. Dann stiegen sie zum Hausflur und von da in den Keller hinunter, alles war öde und still wie der Tod.

„Was sagen Sie nun?“ fragte Fagin, als sie wieder auf dem Hausflur anlangten. „Außer uns sind nur noch Toby und die Jungen im Hause, und die sind gut aufgehoben. Sehen Sie her.“

Er zog zwei Schlüssel aus der Tasche und erklärte, daß er seine Zöglinge eingeschlossen hatte, um jede Störung ihrer Unterhaltung unmöglich zu machen.

Herr Monks wurde wankend und gab zu, daß ihm seine aufgeregte Phantasie einen Streich gespielt haben könnte. Die Unterhaltung wollte er heute aber nicht mehr fortsetzen, da es schon ein Uhr sei. So trennte sich denn das würdige Paar.

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