Читать книгу Vergessenes Blut - Charlotta Pinot - Страница 10
ОглавлениеKapitel 4
Wutentbrannt schlug Ray mit der Faust gegen sein eigenes Spiegelbild, welches von dem auf Hochglanz polierten Fußboden reflektiert wurde.
Mit einem dumpfen Knacken splitterte eine der schlohweißen Fliesen, als wäre sie aus Zuckerguss. Er schnaufte wie eine Dampflok, der man den heißen Wasserdampf aufgedreht hatte.
Ray war nicht wirklich aufgebracht – nein, er war absolut entsetzt. Fast apathisch erhob er sich, stapfte steifbeinig an Patt vorüber und plumpste k. o. in seinen Schreibtischstuhl.
»Was für eine Scheiße, was für eine verdammte Scheiße«, brüllte er lauthals durchs Büro.
Schnurstracks stöckelte Patt zu ihm rüber, schlang sanft ihre langen Arme von hinten um seinen Hals und schmiegte sich fest an ihn. Die Wärme ihrer zarten Wange an seinem stoppligen Gesicht spendete ihm einen Moment Trost und er spürte ihr Mitgefühl deutlich. Ray war ihr dankbar, doch das machte sein Gefühlschaos nicht gerade besser. Es fiel ihm schwer, mit ihrer Zuneigung umzugehen. Das war schon immer so.
»Es tut mir so leid, was mit ihm passiert ist. Ich weiß, ihr standet kurz davor, Freunde zu werden. Und dann musst du so etwas Schreckliches auch noch aus den Nachrichten erfahren …« Patt drehte seinen Stuhl um die eigene Achse, bis er direkt vor ihr saß, und nahm Rays Gesicht in beide Hände. Für sie war er immer noch der hilflose Junge von der Straße, der ihren Schutz benötigte. Und der wäre ihm immer sicher – egal wie erwachsen oder stark er heute war.
Verflucht, Patt wusste ja noch gar nichts von letzter Nacht, dachte Ray. Er hatte sie seit Freitagabend nicht mehr gesprochen und keine Gelegenheit gehabt, mit ihr über die Sache in der Kneipe zu reden. Mal ganz abgesehen von dem, was scheinbar danach passierte.
Der Zeitpunkt konnte nicht schlechter sein, also würde er es vorerst dabei belassen. Ray hasste es, Patt anzulügen. Sie hatte die Wahrheit verdient und würde sie erfahren.
Nur nicht heute.
Hin und wieder war es besser, den Mund zu halten und damit einem geliebten Menschen schlaflose Nächte zu ersparen. Patt trug schon zu viel seiner dunklen Last auf ihren schmalen Schultern.
»Ist schon gut, ich bin okay. Ich glaube, ich brauche nur etwas Zeit für mich.« Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den offenen Händen.
»Aber natürlich mein Schatz, geh nach Hause und nimm dir so viel Zeit, wie du willst. Ich kümmere mich hier um alles. Mach dir keine Gedanken. Wenn du mich brauchst …«
»Dann rufe ich dich sofort an, versprochen!« Patt zog ihn noch einmal in eine feste Umarmung, bevor er das Büro verließ, in sein Auto stieg und mit Vollgas davonfuhr.
Rays Ziel war nicht sein Apartment, wie Patt vermutete. Vielmehr verschlug es ihn auf kürzestem Wege in Richtung Park. Seine Erinnerungen waren einfach zu bizarr, um ihnen dieses Mal Vertrauen zu schenken. Er wollte Gewissheit. Er brauchte einen Beweis dafür, was wirklich in der vergangenen Nacht geschehen war.
Viel zu schnell raste Ray über den Golden State Freeway und überfuhr die Ampeln gefährlich knapp bei Orange. Die Straßen waren relativ leer, der Berufsverkehr hatte sich mittlerweile gelegt. Doch auch sonst hätten ihn andere Fahrzeuge nur wenig behindert.
Was nicht gleichzeitig bedeutete, dass die vollgestopften Straßen ihm nicht tierisch auf die Nerven gingen.
Ray stellte seinen Chevy Citation direkt am Parkcenter ab. Wie auf einem Jahrmarkt flimmerten die rotblauen Signalleuchten der Streifenwagen über das Terrain.
»Mist!« Es wimmelte von Polizisten und Übertragungswagen der Fernsehsender. Die Journalisten rangen wie aufgescheuchte Hühner um die besten Plätze und es reihte sich Kamera an Kamera. Vorbei an der aufgeregten Meute passierte er das erste kleine Waldstück und konnte sich ein paar Hundert Meter vorarbeiten.
Beim Versuch, anschließend den schmalen Fire Road zu überqueren, marschierte er geradewegs auf eine Polizeisperre zu. In letzter Sekunde stoppte er und versteckte sich blitzschnell hinter einer großen Buche.
Angespannt linste er hinter dem Stamm hervor, um die Lage zu checken. Es waren einfach zu viele wachsame Augen hier, so kam er nicht weiter. Er würde kommende Nacht einen zweiten Versuch starten müssen. Leise fluchend trat er den Rückzug an.
Ray sprang in sein zerbeultes Fahrzeug und machte sich diesmal tatsächlich auf den Heimweg. An der Glendale Galleria stoppte er allerdings noch kurz für ein verspätetes Frühstück. Sonderlich hungrig fühlte er sich nicht, sein Magen war da fraglos anderer Meinung und knurrte wie der kleine Wadenbeißer seiner Nachbarin Tara.
Appetitlos rettete er die Pancakes vor dem sicheren Ertrinken im klebrigen Sirup und knabberte lieblos die Ränder ab. In Gedanken war er wieder mal ganz woanders. Wie sollte er in Sachen Dooley vorgehen? Patt und er brauchten dringend Kohle, das war Fakt.
Er könnte sich endlich einen Namen in der Branche machen, zukünftig gutes Geld verdienen und seine Europapläne in die Tat umsetzen.
Andererseits wusste er diese schrecklichen Dinge über ihn und das konnte er nicht einfach ignorieren. Vielleicht wäre es ja möglich, sein Vorhaben noch ein wenig hinauszuzögern und erst den Auftrag zu Ende zu bringen, wobei er die sicherlich üppige Bezahlung vorher abkassieren könnte. Bestehlen würde er ihn nicht.
Gute Arbeit für gutes Geld, das war sein Credo.
Jedoch musste sichergestellt werden, dass Dooley keine Dummheiten anstellte, während er den Job erledigte. Nur wie sollte er das bewältigen? Die vielen parallel laufenden Baustellen machten es nicht gerade einfacher.
Ray nippte an seinem Cappuccino und wischte sich den Milchschaumbart mit dem Handrücken von der Oberlippe. Mit sich selbst und seinen Problemen hatte er nun wirklich schon genug an der Backe. Und er konnte ja schlecht an mehreren Orten gleichzeitig sein.
Dem Tagesgeschäft musste nachgegangen werden, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Gleichzeitig musste er Dooleys Auftrag abwickeln, wobei noch unklar war, wie viel seiner Aufmerksamkeit das in Anspruch nehmen würde. Zwischenzeitlich dürfte er Dooley jedoch keine Sekunde aus den Augen lassen, damit niemand zu Schaden kam.
Obendrein war nach wie vor unklar, ob diese Gefängniszelle, in die man das Mädchen gesperrt hatte, heute noch existierte.
Dooley war erkennbar jünger und auch schlanker gewesen in Rays Vision. Daher war es schwierig, das Ganze zeitlich einzuordnen. Es kann fünf Jahre her sein oder zehn.
Und mal ganz abgesehen von dieser ganzen Dooley-Katastrophe, war da immer noch der gestrige Abend, der so ganz anders verlaufen war, als Ray es eigentlich geplant hatte. Auch dieser Sache musste nachgegangen werden.
Es war zum Mäusemelken. Er konnte sich ja schlecht zerteilen. Und Patt würde er nicht mit in diesen Irrsinn hineinziehen.
Zu Hause angekommen, schleppte er sich erschöpft zum Bett, nahm eine halb volle Flasche seiner kostbaren Mount Gay Reserven aus dem Nachtschrank und trank sie in gierigen Zügen leer. Sein Hals brannte von dem hochprozentigen Alkohol und er musste husten.
»Die auf Barbados wissen, wie ein guter Rum zu schmecken hat«, lallte er übertrieben in den leeren Raum hinein. Schon bald trat die ersehnte Entspannung ein und die Müdigkeit überwältigte ihn, noch bevor er seine Sachen ausziehen konnte.
Ohne einen weiteren Gedanken an seine verzwickte Lage zu verschwenden, holte sich sein Körper den so dringend benötigten Schlaf.
ώώώ
Es war tiefe Nacht, als Ray hochschreckte und mit einem lauten Keuchen nach Luft rang.
Er hatte schon wieder von dieser entsetzlichen Farbe geträumt. Jedes Mal waren es schemenhafte graue Bilder, die keinen Sinn ergaben. Und dann war es plötzlich da, dieses Rot – heller als die Sonne und von tödlicher Schönheit. Bis es in einer Flutwelle über ihn hinweg schwappte und er glaubte, darin zu ertrinken. Danach kam das Feuer und verzehrte ihn. An dieser Stelle wachte er für gewöhnlich auf.
Ray hüpfte aus dem Bett, streifte sein neues Paar Laufschuhe über die Füße und joggte, aufgeladen wie das Duracell-Häschen, Richtung Tür. Noch auf der Türschwelle vollführte er eine wacklige Pirouette, kehrte wieder um und zog sich seinen Anzug aus. Nein, er würde nicht schon wieder einen seiner wenigen Nobelfummel einsauen.
Im Kleiderschrank wühlte er nach einem bequemeren Outfit und stellte genervt fest, dass sich fast alles noch immer in der Dreckwäsche befand. Er hatte seine schmutzigen Sachen zwar vorbildlich in die Waschmaschine gestopft, aber natürlich sollte man auch das Programm starten.
»Idiot!«
Das einzig Taugliche, was der Schrank ausspuckte, war ein potthässlicher, quietsch-gelber Trainingsanzug mit dem kanadischen Wahrzeichen, dem Maple Leaf, auf der linken Brust. Patt hatte ihm das Schmuckstück mal in den Weihnachtsstrumpf gestopft und er fragte sich bis heute, ob das ein schlechter Scherz gewesen sein sollte.
Bei seinem Leben, er liebte diese Frau – wirklich, das tat er. Aber in so einem Aufzug wurde man in manchen Bundesstaaten verhaftet oder von homophoben Terrorbanden durch die Straßen gehetzt und bekam am Ende die Shorts in die Arschritze gezogen.
Egal! Es war dunkel und er konnte ja schlecht nackt gehen.
Geschwind schlüpfte er hinein, band sich seinen Messergürtel um die Hüften und machte sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf zum Griffith Park. Die Messer lugten unter der viel zu kurzen Jacke hervor, also zog er die Hose darüber, damit niemand auf der Straße einen Schreck bekam.
In der Baywood Street, abseits des Parks, stellte er seinen Wagen ab und schlich im Schatten der Nacht durch die lang gestreckte Anlage.
»Ganz alleine unterwegs, meine Schöne?«, flirtete ihn ein versiffter Fixer von seiner Parkbank aus an.
»Vielen Dank auch, Patt«, blubberte Ray kaum hörbar und beschleunigte sein Tempo. Er zog sich den engen Schritt wieder etwas tiefer und hoffte, nicht mehr wie Madonna auszusehen.
Vorbei an wild wachsenden Sträuchern und dichtem Blattwerk näherte er sich langsam der großen Lichtung, bei der er sich am Tag zuvor mit Levy verabredet hatte. Sie hatten telefoniert, er erinnerte sich wieder genau. Kurz hielt er inne und verbarg sich hinter einem der Dornenbüsche, um die Umgebung zu mustern.
++++CRIME SCENE DO NOT CROSS++++
Das gelbe Absperrband der Mordkommission dekorierte die Lichtung wie ein geschmackloses Geschenkband. Ansonsten war niemand zu sehen.
Als Ray sich näher zum Tatort vorwagte, blieb sein Ärmel an den kleinen Widerhaken des Gestrüpps hängen und riss ein hässliches Loch in seine Jacke.
»Wie schade«, murmelte er mit morbider Belustigung und freute sich wie ein Kind. Er duckte sich unter der Absperrung hindurch und kroch quer über den bemoosten Untergrund bis zu der Stelle, an der sie Levy gefunden hatten.
Der gigantische Blutfleck stach deutlich auf dem sonst grünen Boden hervor. Selbst jetzt noch konnte er den kupfrigen Geruch unverkennbar wahrnehmen.
Aufmerksam blickte er sich um, obwohl die Polizei mit Sicherheit saubere Arbeit geleistet hatte. Die moderne Technik konnte ein richtiges Arschloch sein, denn es war für ihn immer mühevoller, keine auffindbaren Spuren zu hinterlassen.
Trotz der Dunkelheit vermochte Ray die Umgebung gründlich abzusuchen und lief systematisch den Boden ab.
Als er nach dreißig Minuten noch immer nicht gefunden hatte, wovon er nicht einmal wusste, was es war, erkletterte er den Hügel aus Kalkfelsen in der Mitte der Lichtung und setzte sich an der Spitze nieder. Wäre an diesem Ort gestern kein Mensch ums Leben gekommen, hätte man die Stille und den idyllischen Ausblick wirklich genießen können.
Grillen zirpten im angrenzenden Waldgebiet und der Wind raschelte geheimnisvoll in den Bäumen. Wie ein melodisches Flüstern glitt er durch die Blätter, die im Mondschein verspielt tanzten. Die Sterne funkelten in der Schwärze der Nacht und es herrschte eine friedvolle Stimmung – irgendwie.
Festentschlossen sah Ray hoch in den Sternenhimmel und wusste, er musste noch einmal zum Vorabend zurückkehren, um sich selbst seine Erinnerungen zu bestätigen.
Er schloss seine Augen und konzentrierte sich nur noch auf das Schlagen seines Herzens. Das gleichmäßige Klopfen beschleunigte sich und Ray bündelte seine ganze Energie tief im Inneren, wobei er den Rhythmus noch weiter beeinflusste.
Heißes Blut raste durch seine Venen und das leise Pochen verwandelte sich in ein erbittertes Hämmern. Die Brennzone sammelte sich in seiner Mitte und er dirigierte die Hitze direkt in seinen Kopf.
Just in dem Moment, als das Feuer zu explodieren drohte, öffnete er seine Gedanken und ließ sich im Fluss der Erinnerung treiben, direkt zu dem Ereignis, das er suchte.
Wie auf einer Zeittafel sprang er zurück und erlebte als stummer Zuschauer im Geist die Geschehnisse des Vortages aufs Neue …
Er sah sich selbst durch den Wald eilen, leicht angeheitert und mal wieder viel zu spät dran. Nach den etlichen Gläsern billigen Fusels wäre jeder andere bestimmt vom Stuhl gefallen. Ray hingegen konnte Unmengen von Alkohol trinken und kam gerade mal bis zum Gute-Laune-Level. Der Kater am nächsten Morgen blieb ihm wiederum nicht erspart. Die Schöpfung hatte manchmal eine eigensinnige Interpretation von Humor.
Leichtfüßig rannte er durch die dunkle Nacht zu dem Treffpunkt, den er mit Levy ausgemacht hatte. Dort sollte es enden, so sehr es ihn auch schmerzte. Zumindest hätte es das getan, bis Levy Ray unbewusst zeigte, wer er wirklich war. Ein Schweinehund, der es nicht verdiente, zu existieren.
Schon den ganzen Tag hinweg hatte Ray gegrübelt, wie das Ganze vonstattengehen sollte. Auf jeden Fall schnell, soviel war sicher. Er wollte das Thema endlich hinter sich lassen und ein sauberer Abschluss musste her – ein gerader Schnitt, bildlich gesprochen.
Ray grinste.
Dieses Mal würde er sich nicht mit Fragen nach dem „Warum“ aufhalten. Er wollte es nicht wissen. Keinen Ton wollte er von diesem Verbrecher mehr hören, da es nichts gab, was seine Taten rechtfertigen konnte.
Ein wenig aus der Puste kauerte er sich hinter den Joggingjacken verschlingenden Wildrosenbusch und blickte auf die Lichtung.
Levy stand unter der Felsformation und starrte gereizt auf seine Uhr. Kein Wunder, Ray war seit zwanzig Minuten überfällig und Mr. Oberkorrekt mochte keine Unpünktlichkeit.
Vorsichtig zog Ray sein Messer aus dem ledernen Gürtel und machte sich bereit, zuzuschlagen. Der Metallgeruch der Stahlklinge kitzelte in seiner Nase und gab ihm das fantastische Gefühl von Vergeltung. Levy würde ihn nicht einmal kommen sehen.
Ein Waldkauz trompetete sein Lied, als wollte der Vogel zum Angriff blasen.
Als Ray zum Sprung ansetzte, ließen ihn Stimmen zurückschrecken. Geräuschlos kroch er auf allen Vieren über den Waldboden und grüne Schlieren zogen sich über die Knie seiner neuen Jeans. Das erklärte im Nachhinein einiges.
Mit gesenktem Kopf robbte er zur anderen Seite des großen Busches und spitze Dornen liebkosten nun seinen Arm der Länge nach. Die Nacht konnte wohl kaum beschissener laufen.
Durch ein Loch im Gestrüpp blickte er wieder auf die offene Ebene vor ihm. Levy stand noch immer unten am Felsen, doch er war in Gesellschaft.
Ray konnte nicht viel erkennen, also schlängelte er sich noch weiter ins Gezweig hinein und schnaubte wütend, als seine Haut aufs Neue malträtiert wurde.
Hoch oben auf dem Felsen stand eine junge Frau.
Mit dem Mondschein im Rücken und der dunklen Bekleidung sah sie aus wie ein todbringender Engel. Ihre wild gestikulierenden Arme verstärkten die Wirkung noch und erinnerten an pechschwarze Flügel, die sich hoben und senkten, als würde sie sich gleich in die Lüfte erheben.
Mit hasserfüllter Miene redete sie erkennbar mit Levy oder besser gesagt, sie schnauzte ihn an.
Ray kommandierte einen Schwall heißes Blut zu seinen Ohren und lauschte interessiert dem Dialog. Er war sich sicher, dass die Person oben auf dem Felsen im Moment nichts zu befürchten hatte, da Levy annehmen musste, dass Ray hier bald aufkreuzen würde. Mit Leichtigkeit blendete er die Geräusche des Waldes aus und richtete seine volle Aufmerksamkeit zum Felsen.
»Du mieser Drecksack, endlich habe ich dich gefunden«, beschimpfte die aufgebrachte Frau seinen Kumpel – falsch, Ex-Kumpel. Er rutschte noch einen Meter näher heran. Na hallo, jetzt wurde es aber spannend.
»Ach, du erinnerst dich nicht mehr an mich? Soll ich dir auf die Sprünge helfen, du elendes Stück Scheiße?« Levy zeigte ihr seine opalweißen Zähne und grinste.
»Verpiss dich, du kleine Nutte, ehe ich zu dir rauf komme und dich übers Knie lege«, bellte er zurück.
»Komm hier hoch und ich schneide dir dein dämliches Grinsen aus dem Gesicht!«
Er leckte sich über die Lippen.
»Ich geb dir hiermit die letzte Verwarnung, Weib. Hau ab oder ich vergesse, warum ich eigentlich hier bin und werde mein geplantes Abendprogramm umgestalten.«
Ray verfolgte das Gespräch mit Neugierde und konnte kaum glauben, was er zu hören bekam.
»Du hast zum letzten Mal deine kranken Fantasien auf Kosten kleiner Mädchen gestillt – sie unter deinen abartigen Körper gezwungen und mit der Klinge verstümmelt.« Der schwarze Engel war wirklich angefressen und kochte vor Rage. Ein Geruch von Zorn und Verachtung breitete sich über dem Felsen aus wie die Schwingen eines Greifvogels.
»Da hast du ja Glück, dass du mir zu alt bist, du Miststück.« Beim Blick in ihr bissiges Gesicht fiel es Levy auf einmal wie Schuppen von den Augen.
»Diese Narbe …«, sagte er beflissen. Er erkannte scheinbar die sichelförmige Narbe auf ihrer Stirn, die sich durch eine Augenbraue bis hin zur Schläfe zog. Weiß und blutleer entstellte sie ihre sonst so liebliche Erscheinung.
»Aber natürlich, jetzt erkenne ich dich wieder, du Teufelsweib«, stellte Levy fasziniert fest und bewunderte voller Freude sein Meisterwerk. Purer Stolz leuchtete aus seinem Gesicht.
»Du bist diese kleine Göre aus dem Club in den Höhlen. Wie lange ist das her, sechs Jahre?«
»Eher Sieben!«, berichtigte sie ihn.
»Oh, du hast mich scheinbar ebenso vermisst, wie ich dich. Mir tun immer noch die Eier weh von deinem Gestrampel«, keifte er aggressiv. »Ich hatte nach einem Kätzchen verlangt und sie gaben mir einen tollwütigen Tiger für mein schwer verdientes Geld. Wie schade, dass wir nur so wenig Zeit hatten. Hätten sie mir ein paar Minuten mehr mit dir zugestanden, würdest du jetzt nicht mehr so frech daherreden. Was machst du eigentlich hier, ich nahm an, du wärst längst verreckt in diesem Dreckloch?«
Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze, obwohl sie die markante Augenbraue sarkastisch in die Stirn zog.
»Ach, weißt du, ich hatte solche Sehnsucht nach dir, da dachte ich mir, ich büxe aus, finde dich und dreh dir deinen stinkenden Hals um!«
Ray hörte ihren jagenden Puls und spürte, dass sie jedes Wort genauso meinte. Er hatte den ganzen Abend schon Lust gehabt, dieses Schwein fertigzumachen, aber jetzt konnte er sich kaum noch zurückhalten. Sie wusste über Levy Bescheid und allem Anschein nach hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit.
Mit einem lauten Fauchen sprang sie die drei Meter vom Felsen und landete geschmeidig direkt vor Levys Nase. Anmutig umkreiste sie ihn, wie ein Haifisch seine Beute.
Selbstsicher lächelte Levy sie weiter an und war die Ruhe in Person. Der Gestank von protziger Überheblichkeit dampfte ihm aus den groben Poren. Ray wurde ganz schlecht von dem beißenden Aroma.
Im nächsten Augenblick ging Levy zum Angriff über und stürzte sich ungestüm auf die Fremde.
Mit einer galanten Drehung sprang sie zur Seite, duckte sich und schoss ihm mit dem rechten Fuß die Beine weg.
Er schlug hart auf.
Ein geschickter Satz von ihr und sie saß auf seinem Rücken, riss seinen Kopf an den Haaren zu sich und hielt ein gezacktes Messer an seine Kehle. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
»Kätzchen, der liebe Levy hat doch nur Spaß gemacht. Komm schon, nimm das Spielzeug weg und lass uns wie Erwachsene reden«, presste er mit weit aufgerissenen Augen panisch hervor.
Sie drückte ihm ihr Knie noch fester in den Rücken und er japste nach Luft. »Reden? Du wolltest doch sonst nie mit mir reden! Lass uns doch einfach da weitermachen, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben«, träufelte sie wie Gift in sein Ohr, als sie mit dem Messer die Muskeln in seiner Wange zerschnitt.
Levy quiekte und wand sich wild unter ihr. Die Frau knallte sein entstelltes Gesicht gnadenlos auf den Boden und ließ sich nicht abschütteln.
Ray machte es sich etwas bequemer in seinem Busch, um das Schauspiel noch eine Weile zu genießen. Hilfe schien sie ja nun wirklich nicht zu benötigen.
Was für eine Wahnsinnsfrau.
Immer mehr Schnitte zierten jetzt Levys Wangen und das Blut sog sich tief in seinen Hemdkragen. Wie roter Morgentau schmückten die glitzernden Perlen den moosgrünen Boden.
»Das neue Lächeln steht dir wirklich gut«, verspottete sie ihn, und obwohl sie irgendwie glücklich aussah, klang ihre Stimme todtraurig.
Levys Schmerzen mussten unermesslich sein, ging Ray durch den Kopf und er musste fast lächeln bei diesem Gedanken.
»So mein Lieber, dann verabschieden wir uns jetzt mal ganz höflich voneinander, denn du langweilst mich«, spie sie ihn weiter an und erhob ihre Klinge, um zuzustechen.
Ray verpasste fast seinen Einsatz. Er schnellte aus dem Busch, stand in nur einer Sekunde beim Felsen und griff nach ihrer Messerhand.
»Schätzchen, vielen Dank für die gute Vorarbeit, aber von hieran übernehme ich«, sagte er ruhig, ohne darüber nachzudenken, dass es vielleicht nicht sonderlich clever war, ihr sein Gesicht zu zeigen.
Sie sprang von Levys Rücken, schlug Rays Hand beiseite und trat ihm in einer Wendung so heftig in den Bauch, dass Ray durch die Luft flog.
Das hatte noch keiner geschafft.
Kampfbereit baute sie sich vor ihm auf und fuchtelte vor seiner Nase mit dem Messer umher. Es sah aus, als wollte sie ihren eigenen Schatten erwischen. In ihren Augen sah er jetzt keine Wut mehr, sondern der pure Horror war zu erkennen.
»Wie lange verfolgst du mich schon?«, brüllte sie ihm mit bebender Stimme entgegen, die Augen starr vor Entsetzen. Das Blut rauschte durch ihre Venen wie ein reißender Fluss und er befürchtete, sie würde gleich umkippen.
»Beruhigen Sie sich, ich werde Ihnen nichts tun. Wir sind im selben Team«, redete Ray geduldig auf sie ein.
Sie ging wieder in Kampfstellung und zog ein zweites Messer aus einem der Halfter an ihren Oberschenkeln. Einzelne Strähnen ihrer langen rotbraunen Haare wehten ihr ins Gesicht, den Rest hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Eingehüllt in eine Art schwarzes Leder und die Füße in hohen Kampfstiefeln, sah sie gemeingefährlich aus. Fesselnd gemeingefährlich.
Dass sie nicht für einen Abendspaziergang gekleidet war, war nicht zu übersehen. Ein Schwert auf dem Rücken hätte das Bild vermutlich noch abgerundet.
»Mir nichts tun? Und was ist mit dem, was ihr mir schon angetan habt, ihr Monster? Ich werde nicht mit dir zurückgehen, dann töte mich lieber gleich. Aber sei dir gewiss, ich werde es dir nicht leicht machen!« Sie tänzelte wie ein Boxer von einem Bein auf das andere und Ray hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach.
Wer wusste schon, aus welcher Anstalt die ausgebrochen war. Dass sie nicht ganz richtig tickte, bestätigte ja schon die Tatsache, wie sie Levy einer plastischen Gesichts-OP unterzogen hatte. Jedoch sollte Ray das aus eigenem Anlass vielleicht nicht überbewerten.
»Hören Sie Lady, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Bitte gehen Sie einfach nach Hause und vergessen Sie, was hier passiert ist.«
Sie beäugte ihn misstrauisch. Levys Blut tropfte an ihrem Messer herunter und ploppte gleichmäßig zu Boden, wie das Ticken einer Uhr oder ein Countdown. Spannung lag in der Luft.
»Du gehörst nicht zu den Hotheri?« Ihre Stirn lag in Falten und sie blickte ungläubig in Rays Gesicht.
Die Messer fest in den Händen, ließ sie ihn nicht aus den Augen und er wusste, sie würde sofort angreifen, wenn er auch nur einen Schritt näher käme. Sie umkreisten sich wie bei einem altertümlichen Tanz.
»Welche Gang auch immer Sie damit meinen, ich arbeite allein. Ich will Ihnen nichts tun, ehrlich. Gehen Sie einfach und ich kümmere mich um unseren Joker hier.«
Levy war inzwischen ein paar Meter weggerobbt. Weit kam er nicht, er hatte eine gehörige Menge Blut verloren. Auf der Seite liegend sah er erleichtert zu Ray auf. Insofern dieser die Erleichterung aus seinem entstellten Gesicht deuten konnte. Man brauchte schon etwas Fantasie.
»Ray, Kumpel, zum Glück bist du da. Diese Verrückte hat mich angegriffen. Sie wollte mich umbringen! Schnapp sie dir, schnell, du musst sie ausschalten«, rief er ihm schwer verständlich entgegen.
»Halts Maul!«, schrien Ray und die Frau gleichzeitig in seine Richtung.
Levy winselte zunächst weiter, dann keifte er, und als das alles nichts nützte, begann er zu weinen.
»Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, aber mir geht das Geheule langsam tierisch auf den Geist.« Mit einem Satz stand Ray hinter ihm und zog sein Messer geschmeidig durch Levys Hals. Wie durch Butter glitt die Schneide durch seine Kehle und eine rote Fontäne pumpte harmonisch aus dem sauberen Schnitt. Jeder Metzger wäre vor Neid erblasst.
Rasch sprang Ray von ihm weg, um sich nicht auch noch die Schuhe zu besudeln. Zufrieden legte er den Kopf zur Seite, blickte auf seine getane Arbeit und wischte sich das Messer am rechten Hosenbein ab. Was sollte es, die Jeans war ja doch nicht mehr zu retten.
Die Frau stand da wie angewurzelt und starrte mit offenem Mund zu ihm rüber.
»Sie räumen dann auf, Schätzchen?«, fragte er unverblümt und schlenderte Richtung Dickicht.
Ihr Herzschlag war jetzt ruhiger und er konnte sie unbesorgt alleine lassen. Ray war zwar daran interessiert, wer sie war und warum sie Levy ans Leder wollte, aber sein Instinkt signalisierte ihm, dass es besser war, die Sache auf sich beruhen zu lassen und schnell zu verschwinden.
»Wer bist du?«, fragte es plötzlich direkt hinter ihm.
»Auf jeden Fall Ihr Fan seit heute Nacht«, antwortete er cool mit einem Augenzwinkern.
»Du bist genau wie sie, aber auch wieder nicht. Sag mir, was du bist?«, verlangte sie couragiert.
»Ich bin nur der Förster, der die kranken Tiere des Waldes erlöst«, entgegnete Ray und rannte in die Nacht, ohne sich noch einmal umzudrehen …
Als Ray die Augen wieder aufschlug, wusste er, dass ihn seine Sinne nicht getäuscht hatten. Die gestrige Nacht war genauso verlaufen, wie seine wiederkehrende Erinnerung es ihm mitgeteilt hatte und er war nicht der Einzige gewesen, der hinter Levy her war.
»Hallo Förster, ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf aus deiner Trance.« Hinter ihm stand der düstere Engel mit beiden Händen dicht an den Messern.
»Du warst bestimmt eine halbe Stunde weggetreten. Ist das nicht etwas unvorsichtig so alleine im Wald?« Ray musterte das schwarze Ed Hardy Shirt und ihre Röhrenjeans, die sie zu knallbunten Chucks trug.
»Sie können ja richtig nett aussehen, wenn Sie nicht gerade auf Todesmission sind«, sagte Ray, während er aufstand.
Sie begutachtete ihr Shirt. »Heute war Casual-Day im Büro. Und du bist scheinbar auf dem Weg zu einer Kostümparty. Welcher der Village People bist du?«
Ray schaute an sich herab und zog seine Hosenbeine etwas tiefer, die ihm trotzdem gerade mal bis zu den Knöcheln reichten. Es herrschte eindeutig Hochwasseralarm. Beschämt stellte er fest, dass er ihrem Spruch absolut nichts entgegensetzen konnte.
»Was wollen Sie … was willst du … schon wieder?«
»Ich wohne hier«, sprach sie gebieterisch und verbeugte sich überzogen.
»Im Wald?«
»Sagen wir in der Nähe.«
»Wie auch immer, es war ein langer Tag, ich muss los«, erklärte Ray und stiefelte schweren Schrittes den Felsen runter.
»Hey, warte, du kannst nicht schon wieder abhauen, wir müssen reden«, rief sie ihm nach und kletterte hinterher. Dicht hinter ihm hüpfte sie Felsen für Felsen herunter und beäugelte dabei interessiert die gut proportionierten Muskeln in der knallengen Jogginghose vor ihr.
»Hast du Verlustängste oder wieso läufst du mir nach wie ein Kätzchen?«
Mit einem langen Sprung war sie vor ihm auf den Zehenspitzen und presste die Spitze ihres Messers direkt an sein Herz. »Nenn mich noch einmal Kätzchen und ich schwöre dir, ich steche zu.«
Das glaubte er ihr gerne. Doch ehe sie sich versah, hatte Ray ihr das Messer abgenommen und sie ungalant vom letzten Felsen geschubst.
Sie fiel einen Meter, landete geradewegs auf ihrem Hintern und schnaubte wie ein durchgegangenes Pony. Als sie den Mund öffnen wollte, um mit ihren Drohungen fortzufahren, streckte Ray ihr hilfsbereit seine Hand entgegen.
Ohne danach zu greifen, richtete sie sich auf und klopfte sich den Dreck von ihrer Hose. Mit einer stummen Handbewegung deutete Ray auf ihren Po und räusperte sich. Ein grüner Fleck zierte nun herzförmig ihre Rückseite.
»Ganz toll, da geht man einmal in Zivil auf die Straße …«, fluchte sie leise, während Ray schon wieder den Rückzug antreten wollte.
»Herrgott, jetzt warte doch mal, ich muss was mit dir besprechen.«
Er sah sie emotionslos an: »Dann rede!«
»Ich würde das lieber an einem privateren Ort tun.«
»Rede oder ich bin weg.«
»Wes, Kyle …«, rief sie laut in den Wald hinein und zwei hünenhafte Gestalten traten aus der Böschung. Beide steckten in seltsamen schwarzen Overalls mit dazugehörigen Jacken, die sie offen trugen. Ihre Kleidung bestand aus einem Stoffgewebe, das Ray in dieser Form noch nie gesehen hatte. Aggressiv und kampfbereit fokussierten ihre Augen jede seiner Bewegungen.
Eine geballte Ladung Testosteron kroch Ray in die Nase. Breitschultrig, grimmig und muskelbepackt hinterließen sie die Präsenz von Elitesoldaten einer Kampfeinheit und begafften ihn mit mordlüsterner Miene. Die Burschen waren definitiv auf Krawall gebürstet.
Wieso eigentlich nicht? Gegen eine kleine Rangelei, in der die Fäuste flogen, hatte Ray nichts einzuwenden. Er drehte sich zu ihr und das Fragezeichen stand ihm auf die Stirn geschrieben.
»Das sind meine Brüder – Wesley und Kyle«, deutete sie von rechts nach links. »Sie wollen sicherstellen, dass du mir nicht an die Kehle springst.«
Die will mich wohl verarschen, dachte Ray.
»Deine Brüder, ja?«
»Ganz genau!«
Rays stechend grünen Augen schwangen hin und her wie bei einem Pingpong Spiel.
»Ich glaube, euer Daddy hat die Jungs zu oft in der Sonne spielen lassen«, bemerkte er schneidend, als er zu den beiden Nubiern rüber sah. Ein eindeutiges „Fick Dich“ formte sich auf den Lippen des Typs mit Irokesen-Frisur.
»Aha, ein Pantomime.« Ray schüttelte den Kopf und wollte verschwinden, doch sie packte ihn fest am Arm und sah ihm befehlend in die Augen. Zum Glück erwischte sie nur den aufgerissenen Ärmel seiner Jacke und er stieß erleichtert die Luft aus.
»So schnell kommst du mir nicht wieder davon. Erst reden wir, komm!« Sie zog ihn weiter auf die Lichtung.
»Ganz klar, wer bei euch in der Familie die Hosen anhat.« Ray tapste brav hinter ihr her und sie kletterte auf den Stamm einer umgestürzten Eiche. Seine geschärften Sinne witterten den Geruch von lange getrocknetem Blut an der Rinde des Baumes und auf dem Boden, welches an dieser Stelle einmal vergossen wurde. Wahrscheinlich hatte ein Jäger hier irgendwann mal einen Hirsch erlegt.
Ihre Aufpasser verblieben am Rand der Lichtung auf ihrem Wachposten. Der gefährliche Glatzkopf behielt seine Hände dicht an den Waffen und sah nicht sonderlich begeistert aus, dass sich seine angebliche Schwester so weit von ihnen entfernt hatte. Ray legte die Hände in die Hüften und wartete.
»Wer genau bist du?«, fragte sie nun in einem sanfteren Ton.
»Ich bin Immobilienmakler.«
»Und ich bin eine berühmte Ballerina. Verkauf mich nicht für dumm!«
»Dafür bist du viel zu kurvig.«
»Wie bitte?«
»Fürs Ballett … du bist … ähm … nicht knochig genug.« Er verzog das Gesicht, als er das Fettnäpfchen bemerkte. Ihr hingegen blieb die Spucke weg bei so viel Dreistigkeit.
»Okay … ich bin ein miserabler Immobilienmakler und das ist die reine Wahrheit«, räumte er ein und fuhr sich verlegen mit der Hand über den Nacken.
»Wieso hast du das Arschloch gestern getötet?« Sie baumelte mit den Beinen in der Luft und von der gestrigen Angst war nichts mehr zu spüren.
»Wieso wolltest du ihn denn töten?«, wollte Ray im Gegenzug wissen.
»Wir können das Spiel noch ewig weiterspielen, aber um deinetwillen solltest du langsam anfangen zu reden!«
»Sonst was? Hetzt du mir Mr. T und 50 Cent da drüben auf den Hals? Du willst doch nicht, dass ich deinen ›Brüdern‹ wehtue, oder?«
Aus dem Sitz sprang sie auf ihre Beine, sah majestätisch von ihrer erhöhten Position aus auf ihn nieder und zeigte mit dem Finger auf seine Brust.
»Versuch es und du wirst dein blaues Wunder erleben! Die haben schon etliche von deiner Sorte fertiggemacht! Doch erst mal musst du an mir vorbei …«
Ihre Augen blitzten raffiniert. Diese Frau war risikobehafteter als ein Schießeisen – in jedweder Hinsicht.
»Was genau meinst du mit ›meiner Sorte‹?«, erwiderte Ray und wollte jetzt selbst den Job des Quizmasters übernehmen.
»Du weißt es wirklich nicht, oder?« Ihre Stimme klang ehrlich, als wäre ihr in diesem Moment ein Licht aufgegangen.
»Das sage ich doch die ganze Zeit. Ich habe das Gefühl, du sprichst in einer kryptischen Sprache, die ich nicht verstehe.«
»Okay, dann werde ich dir mal eine kleine Geschichte erzählen.«
Ray sprang neben sie auf den Baumstamm und sie zuckte zusammen, weil sie mit seiner schnellen Bewegung nicht gerechnet hatte – dumm von ihr.
Er setzte sich hin, lehnte sich mit dem Rücken an die hochragenden Wurzeln und winkelte gemütlich die Beine an.
»Ich liebe Geschichten. Dann schieß mal los, Schätz… ähm, wie war noch gleich dein Name?«
»Jules … sie heißt Jules, du Arschloch!«, rief es im Chor aus der Böschung.
Sie verdrehte kurz die Augen und wandte sich dann wieder Ray zu.
»Ich war sieben Jahre alt, als man mich den Armen meiner Schwester entrissen hatte und mich verschleppte. Der Ort, an dem man mich gefangen hielt, war dreckig, stickig und es war bitterkalt.«
»Ja, wirklich traurig, aber …«
»Willst du es nun hören oder nicht?«
»Also gut, erzähl weiter.« Ray lehnte sich wieder zurück und deutete ihr an, dass er nun seinen Schnabel halten würde.
»Monatelang ließ man mich alleine und schob das Essen durch rostige Gitterstäbe. Die Zeit verschwamm vor meinen Augen. Irgendwann wusste ich nicht mehr, welcher Tag war und ich lebte mit der Gewissheit, dies war die Endstation. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte man mich aus der nassen Zelle in ein Zimmer. Dort war es sauber, es gab ein weiches Bett mit kuscheligen Spitzenkissen und es hatte sogar ein Badezimmer. Ich verbrachte Stunden in der Dusche und wärmte mich unter dem heißen Wasserstrahl. Goldene Armaturen und ein Waschbecken aus weißem Marmor ließen mich beinahe vergessen, wo ich die letzten Wochen verbracht hatte. Dann öffnete sich plötzlich eine zweite Tür und man sagte mir, ich müsse den langen Tunnel bis zum Ende durchschreiten. Ein feuchter Wind wehte mir um die Nase, obwohl ich mich tief unter der Erde befand. Piktische Symbole durchzogen die hellgrauen Felswände zu allen Seiten. Sie verwandelten das sonst karge Gestein in ein uraltes Geofakt, welches vom herunterhängenden Wurzelwerk umwoben wurde, als wollten die Pflanzen es bis in alle Ewigkeit vor dem Zahn der Zeit bewahren. Ich lief auf lehmigem Untergrund, der von vielen kleinen Füßen festgetrampelt worden war. Nur mit einer Kerze in der Hand und großer Furcht wagte ich mich weiter in die Finsternis. Am Ende des Weges empfing mich ein ehrfurchterregendes Tor und ich betrat einen herrschaftlichen Saal von monumentalem Ausmaß. Alles war hell erleuchtet und wunderschöne blaue Glasgebilde, die das Licht in alle Himmelsrichtungen reflektierten, formten die hohe Decke. Wandteppiche fielen hoch oben vom Gewölbe und ein Königsthron auf einer Empore verlieh diesem Saal etwas unglaublich Mächtiges. Ein verwunschenes Märchenschloss dachte ich damals. Was war ich doch naiv!«
Jules lachte bitter. Sie könnte sich heute noch ohrfeigen für ihre Blauäugigkeit.
»Trotz meines Misstrauens fühlte ich mich sicher und geborgen in dieser historischen Umgebung. Ich stellte mir vor, ich wäre eine Prinzessin und ein kühner Prinz auf einem weißen Pferd würde mir bald zur Hilfe eilen und mich befreien.« Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals, aber fasste sich wieder.
»Ein anderes Tor öffnete sich. Es war jedoch kein Prinz, der eintrat. Eine riesige Gestalt mit langen pechschwarzen Haaren fixierte mich mit eisblauen Augen – spiegelnd und kühl wie zwei geschliffene Diamanten. Er maß bestimmt zwei Meter vom Scheitel bis zur Sohle und altertümliche Gewänder kleideten ihn. Seine Brust umfing eine Art Lederpanzer, der seine Muskeln nachformte und ein schwerer Umhang, der an seinen Schultern befestigt war, bedeckte den gewaltigen Rücken. Wie ein keltischer Krieger verdrängte er die Luft im Raum mit bedrohlicher Wirkung. Ich wollte weglaufen, wollte fliehen, aber die Angst lähmte mich. Schon stand er vor mir und packte mich mit seinen gewaltigen Pranken. Er schnüffelte an mir herum wie ein Bluthund, der einer Fährte nachspürte und knurrte auch genauso. Ich habe ihn angefleht, mich loszulassen, hab versucht, mich von ihm loszureißen, aber in seinem brutalen Griff gefangen, konnte ich mich keinen einzigen Zentimeter bewegen. Dieser Riese starrte mich an, als wäre er besessen von mir. Ich erschrak, als sich sein eisblauer Blick plötzlich in die glühenden Augen eines Dämons verwandelte. Seine nachtschwarzen Pupillen zogen sich zusammen, bis nur noch ein schmaler Schlitz zu sehen war. Seine Iris dagegen brannte lichterloh. ›Da hat mir Goblin nicht zu viel versprochen‹, waren seine letzten Worte, bevor er mir die Zähne in die Schulter rammte. Sein Biss war fürchterlich und meine Beine gaben nach. Doch er hielt mich so fest umklammert, dass ich in der Luft baumelte. Immer gieriger saugte er an meiner Schulter, bis ich dachte, jeden Moment reißt er mir das Fleisch von den Knochen. Schmatzend und grunzend stieß er immer wieder zu, um noch mehr Blut zu trinken. Ich fühlte mich plötzlich schwerelos, beinahe gleichgültig. Um mich herum wurde es dunkel und ich konnte spüren, dass dieses Monster das Leben aus mir sog. Die Wärme verließ mich und eine kalte Leere nahm meinen Körper in Besitz. An der sicheren Schwelle zum Tod fand ich mich mit meinem Schicksal ab und kämpfte nicht weiter gegen ihn an. Sanft ließ ich mich in dem eisigen Fluss treiben und bedrängte ihn, noch mehr von meinem Blut zu nehmen. In der Ferne hörte ich eine Stimme und ich wünschte mir, dass es meine tote Schwester war, die von der anderen Seite nach mir rief. ›Genug mein Herr, ihr bringt das Mädchen sonst um‹, vernahmen meine Ohren leise. Noch ein weiterer tiefer Zug und er ließ endlich von mir ab. ›Bring sie weg, Goblin!‹, fauchte er verärgert und warf mich zu Boden, als wäre ich eine leere Milchschachtel. Genüsslich leckte er sich danach das Rot von den Lippen und schnurrte zufrieden, dieser versoffene Scheißkerl. Dann steckte man mich zurück in die schmutzige kleine Zelle und ich erholte mich nur langsam von den Verletzungen.«
»Scheiße, das ist ja schrecklich.«
Ray war ganz flau im Magen. Irgendwie tat sie ihm leid, obwohl er sie gar nicht kannte.
»Das war schrecklich? Warts ab, das war noch lange nicht das Ende der Geschichte.«
Jules fuhr fort: »Die Jahre verliefen wie in einer Endlosschleife. Die meiste Zeit hockte ich alleine in dieser Zelle. Nur selten hatte ich die Möglichkeit, mit den anderen Mädchen zu sprechen, die mit mir gefangen waren. Wir mussten unsere Worte sorgfältig wählen, denn die Wände hatten Ohren. Manchmal redeten die Wachen mit mir. So sehr ich sie auch hasste, ich war froh über jede noch so kleine Konversation. Einer brachte mir hin und wieder heimlich Bücher vorbei. Manchmal sogar Schulbücher. Dennoch fürchtete ich, er würde irgendwann eine Gegenleistung dafür einfordern. In regelmäßigen Abständen brachte man mich wieder in das schöne Zimmer, um mich anschließend dieser schrecklichen Kreatur zu übergeben. Sie haben mich vorher immer mit vitaminreicher Kost gefüttert, damit ich diesem Wichser auch gut schmeckte. Irgendwann, keine Ahnung, wie viel Zeit bereits verstrichen war, hörte es auf. Ganz plötzlich. Ich habe ihn niemals wiedergesehen. Doch dafür viele andere. Denn als ich älter wurde, schickte man mir ›Besuch‹. Es waren Männer, nicht so wie diese Kreaturen, sondern ganz normale Männer, die dafür bezahlten, mit mir tun zu können, was auch immer sie wollten. Wie unser Freund Levy. So hieß er doch, oder? Levy Gumb?«
Ray nickte.
Auf ihren Wimpern glitzerte etwas, doch sie wischte es hastig beiseite.
»Eines Nachts kam eine der Kreaturen zu mir. Es war einer ihrer Jäger, ich erkannte es an der Uniform, die er trug. Ich hatte keine Angst, denn es gab nichts, was man mir nicht schon längst angetan hatte. Er stöhnte vor Schmerzen und war offensichtlich schwer verletzt. Als er näher kam, sah ich die klaffende Wunde an seinem Bauch, wie sie eigentlich nur die Klinge eines Schwertes hinterlassen haben konnte. Er presste die Hände dicht an seinen Körper, damit die Eingeweide nicht herausfielen. ›Dein Blut wird mich retten‹, hatte er gekrächzt, bevor er zubiss. Er trank gerade mal zwei Schlucke von mir, als ich mit bloßem Auge zusehen konnte, wie die Wundränder sich wie von Zauberhand schlossen und alles nahtlos verheilte. Später belauschte ich die Wachen und erfuhr, dass man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, weil er es wagte, die Nahrung des Königs anzurühren. Von da an beobachtete ich die Kreaturen aufmerksam und über die Jahre hatte ich ihre Strukturen und Bräuche verstanden. Ich gab mir selbst das Versprechen, es eines Tages dort rauszuschaffen. Dafür musste ich alles über sie lernen, sie studieren und verstehen.«
»Was sind sie?«, hakte Ray nach.
»Sie nennen sich selbst die Hotheri – ich nenne sie Kreaturen –, sie leben ähnlich organisiert wie ein Bienenstaat. Der König ist ihr Oberhaupt. Wir Mädchen waren ausschließlich für ihn und die ranghöheren Kreaturen vorgesehen und dienten ihnen abwechselnd als Nahrungsquelle. Meistens jedoch verlangte er nach mir. Mein Blut schien besonders wertvoll für ihn zu sein. Das Blut meiner Schwester war scheinbar nicht rein genug oder sie war schlichtweg zu alt. So überließ Goblin, seine rechte Hand, Anna damals seinen Männern und sie tranken sie leer bis auf den letzten Tropfen. Waren wir nicht mehr jung genug oder das Blut verunreinigt durch die Krankheiten der Menschenmänner, bekamen wir einen neuen Verwendungszweck und trugen ihre Babys aus. Oft verschwanden die Mädchen auch einfach und kehrten nie mehr in ihre Zellen zurück. Manchmal fütterten sie uns mit ihrem Blut, wenn wir krank waren, um uns zu heilen. Doch viele von ihnen verzehrten sich so sehr nach unserem Schmerz, dass sie uns lieber leiden ließen. Die Wachen waren für die Gefangenen verantwortlich und stellten sicher, dass keiner entkam. Ihre Jäger schwärmten jeden Tag aus, um frisches Blut zu finden. Reines Blut, aus einem perfekten Genpool. Die Soldaten unter ihnen waren präzise ausgebildete Kämpfer, einzig gezüchtet zum Schutz der Gemeinschaft. Doch die wichtigste Aufgabe hatten ihre Mischlinge. Diese Hybriden entsprangen der Verpaarung mit einer Menschenfrau. Die Nachkommen waren hochintelligent und körperlich absolut fehlerlos. Das Erbgut wurde sehr sorgfältig ausgewählt und nur die perfekteste DNA durfte sich vererben. Hochmoderne Labore und Wissenschaftler in ihren Kreisen erleichterten ihnen die Auslese. Die Hybriden lebten unbemerkt in der Menschenwelt – auch heute noch. Sie werden jahrelang auf ein Leben außerhalb der unterirdischen Verstecke vorbereitet. Dort agieren sie und manipulieren die Wirtschaftsspitze und die Politik zu ihren Gunsten. Doch sie sind schwer zu kontrollieren. Sie sind schlau und starrsinnig gleichermaßen. Der menschliche Teil lässt sie emotionaler denken und handeln. Sie sind in der Lage, Mitleid zu empfinden, zu trauern oder zu lieben. Und sie können hassen, selbst ihre eigene Art.«
»Und die anderen können das nicht?«
»Sie sind aufgrund ihrer Genetik den Anweisungen des Königs verpflichtet. Ihre Natur lässt es nicht zu, Befehle zu verweigern oder eigene Interessen über die der Gemeinschaft zu stellen – selbst wenn sie es wollten. Ihr sonst freier Wille wird vom König unterdrückt. Hybriden hingegen spüren diese natürliche Verbundenheit kaum und hin und wieder hatte der König Probleme, ihre Loyalität zu erhalten. Der Fortbestand der Rasse war – ist – ihr oberstes Ziel. Durch die intensive Zucht und Selektion konnten sie bis an die Spitze der Nahrungskette heranwachsen und entwickelten über die Jahrhunderte hinweg Eigenschaften, die denen der menschlichen Spezies weit überlegen waren. Sie sind schneller, kraftvoller, schlauer. Sie beherrschen die Gabe der Telepathie – kommunizieren, ohne zu sprechen. Ihre Sinne sind um ein Vielfaches geschärfter als die der Menschen. Vor ein paar Jahren gelang mir die Flucht. Und seitdem sind sie hinter mir her. Jeden Tag. Aber ich habe den Spieß herumgedreht. Jetzt jage ich sie!«
Jules beendete ihre Ansprache und Ray sah ihr mit einer Mischung aus Skepsis und Entsetzen direkt in die Augen.
All die schrecklichen Erinnerungen holten sie kurz ein und sie wusste, er konnte ihr aufgeregtes Herz hören. Dennoch war sie stolz, dass sie es geschafft hatte, zu überleben.
Von ihrer Härte, mit der Ray bereits Bekanntschaft gemacht hatte, war nun nichts mehr zu sehen. Ihre Züge waren weich und sie wirkte erleichtert, ihm davon erzählt zu haben.
»Na das nenn ich mal ’ne Gruselgeschichte!« Ray war noch nie ein Mann geschickter Konversation und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sie war aufgewühlt und das war ihm unangenehm.
»Du glaubst mir nicht?«
Ihm gingen viele Dinge durch den Kopf. Er dachte an Dooley und die Zelle, in der er das Mädchen missbraucht hatte. Vielleicht war auch sie eine Gefangene dieser Monster und wurde an Männer verkauft. Das alles klang so unwirklich und verrückt, doch genau das war sein Leben auch und sein Leben war echt. Verdammt echt.
»In meinem Leben sind so viele unglaubliche Dinge geschehen – Dinge, die weit über das menschliche Verständnis hinausgehen. Es ist total verrückt, aber ja, ich glaube dir.«
Hoffnungsvoll sah sie ihn an. Ihre Narbe war jetzt nicht mehr weiß und blutleer und man erkannte ihr hübsches Gesicht.
»Was ich dagegen nicht verstehe, ist, wieso du gerade mir das alles erzählst? Wir kennen uns keine vierundzwanzig Stunden.« Jules setzte sich wieder.
»Hast du es denn immer noch nicht kapiert?«
»Was kapiert, verdammt noch mal?«
Sie schwieg einen Moment, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Ich wusste es im ersten Moment, als ich dich gesehen habe. Deine Schnelligkeit, deine Kraft, das Blitzen in deinen Augen. Und ich wette, du kannst Gedanken lesen«, bemerkte sie besserwisserisch.
Ray schnappte nach Luft.
»Warte, du denkst aber nicht, dass ich eine dieser ›Kreaturen‹ bin?«
»Doch, genau das vermute ich. Oder besser gesagt, ich weiß es. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass du ein Reingeborener bist. Dafür bist du viel zu ungeschickt, selbst ich hätte dich töten können, wenn mir der Sinn danach gestanden hätte.«
»Hey, ich bin nicht …«
»Ich denke, du bist ein Abkömmling, ein Hybrid. Ein Elternteil, wahrscheinlich deine Mutter, wurde mit einem von ihnen verpaart.«
Ray musste sich an der Baumwurzel festhalten.
»Verpaarung? Du denkst, ich entstamme einer Zucht … wie ein Rassekaninchen?«
Jules musste schmunzeln. »Wäre möglich. Vielleicht bist du aber auch die süße Frucht eines schwerwiegenden Verbrechens. Ohne die Zustimmung des Königs ist es nämlich nicht gestattet, sich fortzupflanzen. Die Gene dürfen sich unter keinen Umständen unkontrolliert mit den menschlichen mischen, da nie sichergestellt werden kann, in wieweit die Hotheri die Nachkommen dann noch unter Kontrolle haben. Sie könnten sie anhand des Geruches nämlich nicht mehr identifizieren. Geschweige denn ihren Willen versklaven. Sie könnten ein komplett menschliches Leben annehmen und den Hotheri schaden. Sich weiter mit Menschen paaren und vielleicht zu einer ganz neuen Rasse heranwachsen. Einer Bedrohung. Ich weiß, dass es solche Fälle gegeben hat. Und wenn du keinem der Zuchtprogramme entstammst, waren da eventuell ehrliche Gefühle im Spiel.«
Ihre Wangen leuchteten, als sie lächelte. Ray hingegen sah aus, als hätte man bei ihm Krebs im Endstadium diagnostiziert.
»Es kommt vor, dass sich Kreaturen so sehr zur Menschenwelt hingezogen fühlen, dass sie fast wahnsinnig werden. Sie verlieben sich und wollen nicht mehr unter dem Zwang des Königs stehen. Ein paar Wenige waren in der Lage, die Verbindung zu kappen und sich von ihnen abzuwenden. Ihr einziger Wunsch war die Freiheit und ein menschliches Leben. Eine kleine Gruppe schaffte es, zu fliehen, verbündete sich und plante einen Aufstand. Doch fast alle wurden vernichtet, nur eine Handvoll ist heute noch am Leben. Das Netzwerk ist einfach zu groß.« Sie hüpfte vom Stamm.
»Sehr interessante Theorie – die ich leider widerlegen muss.«
Ray hob seinen Zeigefinger belehrend in die Luft. »Wieso halte ich mir kein saftiges Mädchen im Keller, wenn ich doch so eine blutsaugende Bestie bin?«
»Gut kombiniert, Dr. Watson.«
»Danke, Sherli!«
Sie schüttelte amüsiert den Kopf.
»Die Hotheri können auch ohne Blut leben. Sie ernähren sich von ganz normalen Dingen wie du und ich. Aber das Blut erhält ihre Fähigkeiten. Es gibt ihnen Vitalität und Kraft, hütet sie vor Krankheiten. Es heilt Verletzungen und verlängert ihre Lebensdauer erheblich. Außerdem schmeckt es ihnen einfach. Man könnte es mit einem Alkoholrausch vergleichen.«
Ray verzog angewidert den Mund.
»Nur der König entscheidet, wer sich von Menschen ernähren darf. Rangniedere oder Genschwache kriegen ihr ganzes Leben keinen einzigen Tropfen. Sie altern und sterben wie normale Menschen auch.«
»Okay, aber an deiner Theorie stimmt trotzdem was nicht!«
»Aha?«
»Wenn ich laut deiner Aussage einer von ihnen bin, jedoch kein Blut trinke, wieso habe ich dann diese ›Fähigkeiten‹, wie du sie nennst?«
Sie biss sich frech auf die Lippe, was bei ihr irgendwie unglaublich verwegen aussah.
»Siehst du, und genau das, müssen wir herausfinden! Ich habe nämlich absolut keine Ahnung, und soweit ich das mitbekommen habe, gab es bisher keinen wie dich. Zumindest keinen, der überlebt hat und solange unentdeckt blieb.«
»Keinen wie mich? Bisher habe ich noch kein loderndes Feuer in meinen Augen gesehen«, prustete Ray, als er vom Baum sprang und ihr in Richtung der beiden Kraftprotze folgte.
»Wes, wirf mir mal die Taschenlampe rüber.« Gekonnt fing sie das Geschoss mit ihrer linken Hand auf und kramte ein Handy aus der Hosentasche. Sie schaltete die Frontkamera an und drückte es Ray in die Hand.
Er hielt sich das Display vors Gesicht und begutachtete seine Augen, während sie ihn mit der Taschenlampe anleuchtete. »Jab, ich sehe verdammt gut aus bei Vollmond, aber schau, keine Leuchtfeuer von Gondor«, erklärte er zufrieden.
»Sorry, mein Fehler!« Sie nahm ihm das Handy ab, lächelte ihn zuckersüß an und schlug ihm dann so heftig ins Gesicht, dass seine Ohren wackelten.
Das laute Klatschen ließ die Nachtvögel hektisch aus den Bäumen flüchten. Ein seltsames Geräusch entwich ihm im selben Moment – ein Grollen, als käme es tief aus seinen Eingeweiden. Ray hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Im Hintergrund hörte er die beiden Möchtegern-Schlägertypen laut losgrölen und knurrte jetzt erst recht.
Rays Wange färbte sich feuerrot und prickelte. Ihre kraftvolle Backpfeife hatte verdammt wehgetan, allerdings auf eine seltsam angenehme Weise. Ehe Ray etwas sagen konnte, positionierte sie das Handy erneut vor seinem Gesicht und er verschluckte sich beinahe vor Schreck. Seine Augen brannten wie schwelende Holzkohle. Sie waren noch immer Absinthgrün – irgendwie – doch hinter seiner Iris konnte er es deutlich erkennen. Und Moment, was war das?
Ray zog das Handy etwas näher an sein Gesicht und war fassungslos. Seine Pupillen waren kaum noch zu sehen. Schmale Schlitze teilten die Augen in der Mitte wie bei einem Alligator … oder einem Gecko … oder einer Katze bei Nacht. „Alien“ wäre ihm als nächstes in den Sinn gekommen.
Etwas Wildes und Gefährliches verbarg sich dahinter. Wie ein aufgewühlter rotgelber Ozean schwappte das Glühen hin und her und die Wellen überschlugen sich. Es war das flüssige Feuer aus seinen Venen, das nun langsam abkühlte, immer schwächer wurde und am Ende ganz erlosch. Nach ein paar Sekunden war nichts mehr zu erkennen.
Ray schnappte nach Luft und das heiße Blut floss quälend langsam zurück aus seinem Kopf und verteilte sich wieder im Körper.
Sollte diese verrückte Geschichte wirklich wahr sein? War das der Grund für sein ganzes beschissenes Leben? Dass er nicht normal war, hat er ja schon immer gewusst. Jedoch dachte er, dass es an ihm lag, dass er einfach nicht ganz richtig im Kopf sei.
Sollte seine Herkunft nur eine Lüge gewesen sein und er war nicht einmal menschlich? Rays Wange war nun nicht mehr rot, er war kreidebleich wie ein Gespenst.
»Geiler Scheiß was, Maple Leaf?«, rief Wesley von der Seite.
»Jungs, jetzt lasst ihm mal eine Minute«, tadelte Jules ihre Brüder. »Ihr seht doch, er steht unter Schock.«
»Sein Teint hat etwas Farbe verloren. Wir sollten ihm einen Skunk fangen, er braucht vielleicht ’ne kleine Stärkung«, provozierte der kahl geschorene Kyle und klatschte Wesley in die offene Hand.
Jules bemerkte nur einen kühlen Luftzug, als Ray schon vor Kyle stand und ihm sein Messer gegen den Schritt drückte.
»Noch so ein Spruch und du singst die Zauberflöte in einer anderen Tonart, verstanden?«
Kyle verzog keine Miene. Seine teerschwarzen Augen blinzelten nicht einmal.
»Wes, Knarre runter! Du, Messer weg! Und Kyle, du hältst jetzt die Klappe!«, schrie Jules wie eine überforderte Mutter. Sie sah ziemlich angepisst aus und alle drei ließen gehorsam voneinander ab.
Ray raufte sich die Haare. »Leute, ich muss das hier erst mal verdauen. Reden wir ein anderes Mal weiter.«
»Treffen wir uns morgen wieder?«, fragte Jules unvermittelt.
»Einverstanden, ich bin gegen Mitternacht hier.«
»Wie wär’s, wenn wir uns im Zombie treffen?«, warf Wesley ein und glitt sich mit den Fingern durch seinen buschigen Iro.
»Jetzt sag nicht …«
»Nein, es gibt keine Zombies. Zumindest kenne ich persönlich keinen«, beschwichtigte Jules Ray mit einem Lächeln im Gesicht.
»Ähm, Jules, was ist mit Ty? Bei dem wäre ich mir da nämlich nicht so sicher!« Ihr Blick schoss scharf zu Wesley und sie legte sich die Hand auf die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. »Lass ihn das besser nicht hören.« Ihre zwei Brüder im Zaum zu halten war schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten.
»Er meint das Zombie-Calyptica. Das ist ein Club in Glendale.«
»Unser Club«, fügte Wes mit vor Stolz geschwollener Brust hinzu.
»Alles klar, dann morgen im Z-o-m-b-i-e. Ich hoffe, Daryl Dixon kommt auch.«
»Daryl wer?«
»Ach, schon gut. Und hey, ich werde morgen viele Fragen haben, dass das mal klar ist«, prophezeite Ray und deutete mit der Hand nacheinander auf alle drei, bevor er in den Wald stapfte.
»Ey, Maple Leaf, wie heißt du eigentlich?«, brüllte Wesley in die Dunkelheit.
Mit einer raschen Handbewegung riss Ray sich das aufgenähte Ahornblatt von der Brust und trampelte es wüst in den Waldboden. »Ray … mein Name ist Ray Fox!«, hallte es leise aus der Ferne und die Brüder stürzten augenblicklich zu Jules, die beim Klang seines Namens zusammenklappte wie ein Kartenhaus.