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ОглавлениеKapitel 2
Pasadena, 2003-01-26
Er war wieder da. Dieser schreckliche Traum, der mich jedes Mal schonungslos in jene Nacht zurückversetzt, keimte von Neuem auf. Ständig vergesse ich Dinge, habe Lücken in meiner Erinnerung. Tiefe Schnitte, die nicht mehr verheilen wollen. Aber die besagte Nacht kann ich nicht vergessen – verdrängen vielleicht, aber niemals auslöschen.
Ich hasse diesen Ort, das war damals mein erster Gedanke, als ich begriffen hatte, wo ich da überhaupt gelandet war. Ich hasse diese Kinder, war mein Zweiter gewesen. So gut es ging versuchte ich, mich von den anderen fernzuhalten. Das machte meine Position als verstörter Sonderling nicht gerade besser. Und diese Rolle war mir gewiss, denn die teuflischen Visionen, die mir in die Wiege gelegt worden waren, verdammten mich in eine Schublade, aus der ich nicht mehr herauskam. Ich hatte keine Freunde, ich wusste ja nicht einmal, wer ich überhaupt war. Als hätte sich ein Spalt im Boden aufgetan, kam ich aus dem Nichts und wurde in die Welt hineingespuckt. Man erzählte mir, meine Eltern wären bei einem Brand in unserem Haus in L.A. ums Leben gekommen. Nähere Informationen gab man mir keine, nicht mal ihre Namen wollte man mir verraten. Die einzigen Erinnerungen, die mir aus meiner Vergangenheit blieben, waren eine verkohlte Actionfigur und eine antike Taschenuhr – angeblich die Uhr meines Vaters. Die goldene Rückseite schmückte eine Gravur in wunderschön geschwungener Schrift. Die Buchstaben waren so verspielt ineinander verschlungen, dass man denken konnte, die Sprache wäre aus einer anderen Welt. „Dein Blut zeigt dir den Weg, wenn du bereit bist, ihm zu folgen“. Das antiquarische Schmuckstück lief zwar nicht mehr, doch obwohl sie sehr alt zu sein schien, befand sie sich in einem tadellos gepflegten Zustand und glänzte wie ein nagelneuer Kupferpenny. Die anderen Kinder waren nicht sonderlich nett zu mir gewesen. Viele waren um einiges sadistischer als die Erzieher selbst und schikanierten die Schwächeren auf eine Art und Weise, die ich am liebsten vergessen hätte. Vor 4 Jahren, in der Nacht zum 4. Juli, hatten sie Tommy Wilson ans Bett gefesselt. Er war gerade mal acht Jahre alt und gleich nach mir das schwächste Glied in der Kette. Wobei die Schwäche eines Einzelnen nicht unmittelbar am Alter gemessen wurde. Die interne Hackordnung ging nämlich streng nach dem Aggressionspotenzial und der jeweiligen Gewaltbereitschaft des körperlich Überlegeneren. Tommy war ein netter Junge. Er war hilfsbereit und steckte nie in Schwierigkeiten. Genau wie ich versuchte er, einfach so wenig wie möglich aufzufallen, um die Jahre unbeschadet zu überstehen oder besser noch, eine Familie zu finden, die ihn adoptieren würde. Mit seinen frechen Augen und den rosigen Wangen hätte er wirklich gute Chancen gehabt. Aber war man einmal im Kreislauf des Systems gefangen, gab es nur für die Wenigsten ein Zurück in ein normales Leben inmitten einer fürsorglichen Familie. Im Heim sollte man sich besser beeilen mit dem Erwachsenwerden. Wie eine junge Antilope musste man schnell auf die Beine kommen und in rasender Geschwindigkeit wachsen, wenn man den hungrigen Löwen entkommen wollte. Doch Tommy sollte es diesmal nicht gelingen. Er weinte bitterlich und strampelte heftig mit den Füßen, was seine Fesseln nur noch fester zusammenzog, bis die Sehnen an seinen Fäusten ganz weiß hervortraten. Zweifelsohne, er hatte Todesangst. Immer wieder schlugen sie ihn mit einem Gürtel und amüsierten sich dabei prächtig. Das laute Klatschen des harten Leders hallte in dem spärlich eingerichteten Zimmer wie der Peitschenknall eines Dompteurs im Zirkus. Umso lauter er brüllte und bettelte, desto mehr Freude bereitete ihnen dieses makabre Spiel. Sein Blut drang scharlachrot durch den Schlafanzug, an den Stellen, wo die Haut unter den Gürtelschlägen aufplatzte wie eine heruntergefallene Melone. Nacheinander warfen sich diese kleinen Monster über ihn und sprangen auf Tommy herum. Seine Augen drehten sich nach innen, bis man nur noch das Weiße sah. Er schnappte rasselnd nach Luft, würgte. Sie machten weiter. Ein Knacken. Noch einmal. Etliche Male knackte es in Tommys kindlichem Körper. Die Geräusche, die er ausstieß, während er vergebens um Sauerstoff kämpfte, wurden dann von einem röchelnden Gurgeln abgelöst. Dunkler Schaum quoll aus seinem weit geöffneten Mund. Er versuchte zu sprechen, konnte es aber nicht. Anstatt von ihm abzulassen, lachten sie und droschen abermals auf ihn ein. Ich rief um Hilfe, schrie sie an, sie sollen aufhören, doch das stachelte diese schrecklichen Kinder nur noch mehr an. Kevin Tall, dessen Name sein bulliges Erscheinungsbild unterstrich, war der Schlimmste. Immer schon. Seine abscheuliche äußerliche Erscheinung war nichts im Vergleich zur Hässlichkeit in seinem Inneren. Seine Seele war so schwarz und klebrig wie Teer. Pausenlos prügelte Kevin auf den fast bewusstlosen Jungen ein. Er nahm den Kippenstummel aus seinem Mund und brandmarkte damit Tommys winzige Stirn mit seinem persönlichen Sklavenmal. Wenngleich dieser schon viel zu weit weg war, um es noch zu registrieren. Mir wurde schlecht. Kaum bemerkte ich, wie ich auf den Boden erbrach und mich in einer Ecke des Zimmers zusammenrollte. Die Hände hatte ich fest auf meine Ohren gedrückt, um Tommys Keuchen zu entfliehen. Die Zeit stand still – eingefroren. Ich sah nur noch Blut, überall um mich herum. Es war die Farbe aus meinen Albträumen. Ein Rot, das mir seit jeher Angst machte – welches mich, seit ich denken konnte, verfolgte. Kevin und seine Jungs lachten immer lauter, während Tommys Hecheln allmählich leiser wurde. Dann war es ruhig. Es war die unheimliche Stille im Auge eines Tornados. Leicht und schwerelos betäubte sie meine Qualen. Da wusste ich, dass Tommy keine Schmerzen mehr hatte. Ich wusste, er war gegangen und ich war froh darüber. Dankbar, dass dieser grauenhafte Todeskampf endlich ein Ende gefunden hatte. Und ich hasste mich dafür. Die Jungs rannten aus dem Zimmer und ließen mich mit Tommy allein. Auf wackligen Beinen stolperte ich zu seinem Bett. Die festen Knoten der Wäscheleine ließen sich nicht öffnen. Bei jedem meiner Versuche, sie zu lösen, schnitt sie noch tiefer in sein Fleisch. Ich schüttelte ihn, flehte ihn an: „Aufwachen Tommy, wach bitte auf!“ Natürlich rührte er sich nicht. Ein lauter Knall. Fast wäre die Tür aus den Angeln geflogen, als einer der Erzieher ins Zimmer gestürmt kam. Er fand mich über Tommy gebeugt, rüttelnd an seinem leblosen Körper. Kevin stand auf der Türschwelle und lächelte zufrieden. Dieses abstoßend sonnige Grinsen werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen. „Was hast du getan, was hast du nur getan, du kranker Bastard?“, murmelte Mr. Butcher immer wieder vor sich hin.
Sie brachen Tommy vier Rippen in dieser Nacht. Eine davon bohrte sich tief in seine Lunge und er erstickte langsam am eigenen Blut, sollte ich später erfahren. Sie hatten ihn eiskalt zu Tode gefoltert und der Mörder saß schon auf der Anklagebank. Der Mörder war ich. Vom Newhaven Kinderheim in Cerritos schickte man mich nach Hilton, einem Heim für auffällige Jugendliche in Pasadena. Alle Kinder und Jugendlichen, die von ihren Mitmenschen aufgegeben wurden, rottete man hier zusammen.
Und an diesem Ort bin ich noch heute. Ich habe es so satt.
Pasadena, 2004-05-13
Neulich habe ich wieder an Tommy denken müssen. Nicht an den toten Tommy, sondern an den quietschlebendigen Tommy, der immer so fröhlich gewesen war. Er fehlt mir. Ich würde nicht behaupten, dass wir Freunde waren, aber wir kamen gut miteinander aus. Ich hätte ihn beschützen müssen. Heute weiß ich, es wäre so einfach gewesen. Nie wieder werde ich zulassen, dass so etwas geschieht.
Seit ein paar Wochen darf ich mit den anderen im Speisesaal essen. Ich habe mich „bewährt“, hat Mr. Doyle gesagt. Viel lieber bliebe ich allein. Die Jungs haben Angst vor mir, sie meiden mich. Ich kann ihre Panik riechen, sobald ich nur einen Fuß in den Raum setze. Es überrascht mich nicht, schließlich hält man mich für einen Mörder. Einen Jungen, der mit elf Jahren ein anderes Kind erbarmungslos zu Tode geprügelt hat. Ob es mich stört? Nein – im Gegenteil. Die Einsamkeit ist ein treuer Begleiter, den ich äußerst zu schätzen gelernt habe. Denn Isolation ist mein einziger Schutzschild gegen die dämonischen Bilder, die mich nachts in meinen Träumen heimsuchen. Wie Geister umhüllen sie mein Leben und lassen mir keine Normalität. Immer auf der Hut, nicht aufzufliegen und mein Geheimnis bewahren zu müssen, fliehe ich vor mir selbst. Ich bin verflucht.
Pasadena, 2004-06-21
Von Zeit zu Zeit stöbere ich durch meine alten Tagebucheinträge, um meine Erinnerungen zu festigen. Denn gelegentlich verlege ich sie wie einen Haustürschlüssel – manchmal verliere ich sie ganz. Traurige Dinge noch einmal zu lesen, wühlt mich auf. Beim letzten Mal hatte es mich so aus der Bahn geworfen, dass ich die Seiten wütend herausgerissen habe und am liebsten verbrennen wollte. Aufgrund der Tatsache, wie meine Eltern ums Leben kamen, hielt ich dies glücklicherweise für zu theatralisch. Schon verrückt, dass ich das Wort „theatralisch“ überhaupt kenne. Jetzt sind meine ganzen Erinnerungen nur noch ein heilloses Durcheinander, passend zum Chaos in meinem Kopf. Anfangs mochte ich das Schreiben gar nicht. Die schrullige Psychotante – Schwester Maria – meinte, wenn ich meine dunklen Gedanken zu Papier bringe, würden sie meine verdorbene Seele reinwaschen. Hauptberuflich arbeitet sie logischerweise als Nonne, insofern man das denn als Job bezeichnen kann. Ich bin mir sicher, sie hält mich für den Teufel. Ständig behauptet sie, in mir würde eine uralte Seele schlummern, die vertrieben werden müsse. Bei jeder unserer Sitzungen umklammert sie das silberne Kreuz an ihrer Halskette so fanatisch, dass sich sämtliche Falten aus ihren schrumpeligen Händen ziehen. Selbst vor hinterhältigen Weihwasser-Übergriffen schreckt diese Frau nicht zurück. Mit so einem linken Angriff einer gottesfürchtigen Greisin rechnet natürlich keiner. Alte Giftspritze …
Pasadena, 2004-07-24
Egal wann man die verrückte Selena Coleman sieht, sie sitzt apathisch in einer Ecke und starrt ins Leere, als würde sie sich einen Film anschauen, den außer ihr niemand sonst sehen kann. Heute lief dieser spannende Streifen scheinbar direkt in meinem Gesicht, denn sie sah unentwegt zu mir rüber. An sich ist sie ein ziemlich hübsches Mädchen. Sie ist in etwa in meinem Alter und hat lange rabenschwarze Haare. Das Besondere an ihr sind ihre Augen – sie sind unglaublich. So ein sattes Blau habe ich noch nie zuvor gesehen – so eine Art Blau gibt es eigentlich gar nicht. Durchscheinend und tiefgründig ziehen sie einen in ihren Bann. Wie bei mir, weiß niemand so wirklich, wo Selena herkommt. Angeblich ist sie in so vielen verschiedenen Heimen und psychiatrischen Einrichtungen gewesen, dass keiner mehr ihren tatsächlichen Ursprung kennt. Auch gesprochen hat sie noch nie. Ihre Blicke machten mich heute nervös. Sie verschlang mich derart mit ihren Augen, dass mir ganz schwindlig wurde. Es fühlte sich an, als hätte ich zu lange in der heißen Sonne gelegen, als kehrte sich etwas Angenehmes ins Gegenteil. Ich fühlte mich plötzlich so schwach und verwundbar – ich musste von ihr weg.
Pasadena, 2004-08-23
Sie verfolgt mich! Egal wo ich mich aufhalte, Selena ist in meiner Nähe. Ihre Blicke treffen mich jedes Mal wie die Spitze eines Pfeils – direkt in mein Innerstes. Forschend und fordernd sieht sie mir geradezu in die Augen und fesselt mich mit ihrem intensiven Blick. Es ist, als würde sie auf mich warten oder etwas von mir „erwarten“. Nur was? Manchmal zucken ihre Mundwinkel und ich überlege, ob sie vielleicht in sich hinein lächelt und ihr mein Unbehagen Freude bereitet. Selena gibt mir das Gefühl, sie wüsste über mich Bescheid – als kenne sie mein Geheimnis. Natürlich ist das kompletter Unsinn. Doch ihre bloße Gegenwart aktiviert etwas in mir. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir Angst.
Pasadena, 2004-09-16
Es war kühl geworden, absonderlich kühl für diese Jahreszeit. Da ich sonst niemals fror, wunderte ich mich heute darüber. Doch es war nicht nur die kalte Luft, die mich frösteln ließ. Vielmehr die Vermutung, beobachtet zu werden. Im Rücken konnte ich ein Augenpaar fühlen. Ganz deutlich. Mein Instinkt warnte mich, doch als ich mich rasch umdrehte, um nachzusehen, war niemand da. Nur der Zaun, der das Heim umschloss und ein paar Bäume, die sich im Wind wogen, waren zu sehen gewesen. Aber irgendjemand war da. Und dieser Jemand war nicht Selena, denn die starrte mich sowieso schon seit Stunden von ihrem Zimmerfenster aus an. Ich verschwand aus ihrem Sichtfeld und aus Langeweile heraus, belauschte ich den rothaarigen Fred und seinen Kumpel Billy, die sich bei einem lustlosen Basketballspiel unterhielten. Worüber redeten normale Jungs? Es ging um Mädchen. Fred erzählte Billy stolz von seinen sexuellen Erfahrungen und zeigte, in Ausübung eindeutiger Hüftbewegungen, sein widerlichstes Grinsen. Ich konnte spüren, dass er log bis sich die Balken bogen. Das konnte ich immer. Er wollte bei seinem Freund Eindruck schinden, welcher diesen bedeutsamen Schritt bereits hinter sich hatte. Ein ungesunder violetter Schimmer umschweifte Billy wie eine unwiderrufliche Kennzeichnung. Selbst Schuld! Wahrscheinlich hatte er sich bei einer der Bordsteinschwalben vom Bahnhof einen Tripper eingefangen. Ich wusste, er war krank. Als ich mich nach meiner üblichen Runde Grübeln zum Essen gesellte, bezog ich wieder meinen Außenseiterplatz an dem kleinen Tisch rechts neben der Essensausgabe. Über mir an der Wand hing ein Bild von Jesus am Kreuz, welches am Morgen noch nicht da gewesen war. Ich konnte mir denken, wem ich diese Ölmalerei zu verdanken hatte. Der Sohn Gottes war mir direkt sympathisch, was Schwester Marias Exorzismus-Absichten wahrscheinlich verfehlte. Dieser Jesus schaute irgendwie genauso drein, wie ich mich ständig fühlte: Verraten, gebrochen und allein. Und trotz der Dornenkrone auf seinem Haupt und den Nägeln in seinen Handgelenken glaubte ich, ein blasphemisches Lächeln in seinem gepeinigten Gesicht erkannt zu haben. Der dicke Carlos stand am Tresen und knallte mit grimmiger Miene Erbsensuppe auf die Teller derer, die anstanden. Es hatte nicht wirklich die Konsistenz von Suppe, sondern war eher ein zähflüssiger Brei, der stets nach Dreck schmeckte. Dankend verzichtete ich auf die stinkende Mahlzeit, als Carlos mit der Kelle an meinen Tisch trat und wie immer Grimassen zog. Er mochte mich nicht besonders und machte nie einen Hehl daraus, mir das auch offen zu zeigen. Ich wollte aufstehen, bevor er mir wie beim letzten Mal, den Inhalt seiner Kelle ins Gesicht schleudern konnte, hielt jedoch kurz inne, als der Stuhl gegenüber knarzte und sich jemand setzte. Selena Coleman nahm Platz und Carlos trabte mit unverhofft heiterer Miene von dannen. Ich hatte vor, zu gehen, aber meine Beine bewegten sich nicht. Sofort begann sie, ohne mich auch nur anzusehen, gierig ihre Suppe zu löffeln. Mein Magen rebellierte beim Gedanken an diese ekelhafte Schlammpampe. Am liebsten hätte ich mich in Slow Motion zwischen sie und ihren Teller geworfen und laut „neeeeeeeinnnnn“ geschrien. Ich starrte sie peinlich an. So peinlich, dass mein Gesicht vor lauter Peinlichkeit Feuer fing. Sie ignorierte mich und ließ sich nicht stören bei ihrem köstlichen Mahl. Interessiert beobachtete ich sie weiter, doch ihr Gesicht war unter der herunterhängenden Mähne verborgen. Als sie fertig war, stützte sie die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihr spitzes Kinn auf die zusammengefalteten Hände. Dann sah sie mich unverwandt an und neigte den Kopf langsam hin und her, wobei sie mich nicht aus den Augen ließ. Wie einen elektrisierenden Lockruf fing ich ihren Blick auf und versuchte, meinen abzuwenden. Meine Augen hatten scheinbar andere Pläne. Ein kalter Schauer kroch mir den Rücken hinunter. Ich hatte auf einmal das Gefühl, sie bräuchte nur mit den Fingern zu schnipsen und mein Körper stünde parat in Erwartung auf ihre Befehle. Doch da war noch etwas anderes. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber für einen winzigen Augenblick glaubte ich, einen Funken in ihren Augen wahrgenommen zu haben. Nur ein kleines Glimmen, das sofort wieder erlosch. In mir breitete sich eine unglaubliche Ruhe aus und ich fühlte mich glücklich. Zumindest nahm ich an, dass es sich um ein Glücksgefühl handelte, denn bisher war ich es niemals wirklich gewesen. An meine Kindheit außerhalb des Heims konnte ich mich zwar nicht mehr erinnern, doch trage ich seit jeher so viel Schmerz und Trauer in mir, dass es mit Sicherheit keine schönen Erlebnisse gewesen sein können. Mein Körper baute irgendwann eine Mauer um mich herum, die mich einschloss. Nichts kam herein und nichts konnte heraus. Meine eigene kleine Festung ohne Gedanken an das, was vorher war. Mein ganzes Leben lang konnte ich Menschen von „Fort Fox“ fernhalten. Und in nur wenigen Augenblicken drang dieses Mädchen zu mir durch. Ich wusste nicht, wie es geschah – wann es geschah. Jedoch sah ich förmlich, wie Stein für Stein bröckelte und Licht in meine Dunkelheit einfiel. Erst nur winzige Strahlen. Sie schimmerten durch die engen Fugen und begannen, sich langsam auszubreiten. Dann wurde es heller. Es blendete mich, versengte mir die Augen. Aber ich wollte hinsehen. Ich verließ meinen Körper und schwebte. Plötzlich trat ein breites Grinsen in ihr Gesicht. Ihre schneeweißen Zähne blitzten hervor und kleine Grübchen zeichneten sich auf den erröteten Wangen ab. Das Grinsen wurde breiter und ging in ein leises Kichern über. Ich war total durcheinander und fühlte mich wie ein Volltrottel. Selena sprang auf, schnellte zu mir rüber und wuschelte mir durch die Haare, ohne dass mich eine Vision überkam. Dann rannte sie davon. Kurz kniff ich in meinen Arm, um zu spüren, dass ich nicht träumte. Aber es war kein Traum. Ich saß im Speisesaal und die verstörte Selena Coleman hatte mit dem als Mörder abgestempelten Eigenbrötler Ray Fox Kontakt aufgenommen. Und sie fand mich auf irgendeine Art lustig. Keiner hatte unsere Beinahe-Konversation mitbekommen. Ganz im Gegenteil, alle schlürften brav ihre Suppe und sahen nicht mal auf.
Es gibt zwei Dinge, derer ich mir nun vollkommen sicher bin: Erstens, dieses unglaubliche Mädchen hat mehr Geheimnisse zu hüten als Harry Houdini – und zweitens, ich werde Berge versetzen, um derjenige zu sein, dem sie alle anvertraut.