Читать книгу Vergessenes Blut - Charlotta Pinot - Страница 8

Оглавление

Kein Traum?

Pasadena, 2004-09-17

Verrückte Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Meine Träume waren dunkel und sonderbar aufregend. Sie ergaben keinen Sinn. Ich träumte von nackten Körpern. Von schweißnasser Haut, die von Fingernägeln zerkratzt wurde, von betörenden Gerüchen, die mich rasend machten. Und ich träumte von Blut. Ich verzehrte mich danach – wollte es auf mir haben, darin baden. Ich wollte es schmecken. Jedes Mal schreckte ich hoch und bekam keine Luft mehr. In den wachen Augenblicken musste ich unaufhörlich an Selena denken. Erst nach vielen Stunden der Unruhe sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es war noch Nacht, als mich ein Geräusch weckte. Mit geschlossenen Augen tastete ich nach der Lampe, die rechts neben meinem Bett auf dem kleinen Nachttisch stand. Nicht, dass ich das Licht gebraucht hätte, um mich im Dunkeln zu orientieren. Es gab mir lediglich ein Gefühl von Normalität. Ich erschrak, als ich feststellte, dass ich nicht alleine im Zimmer war. Prompt begann mein Herz, zu stolpern. Nicht aus Angst oder Panik, der Grund war ein anderer. Ich sah zu dem Sessel, der am Ende des Raums stand. Da saß sie. Freundlich lächelte sie zu mir rüber und schlug lässig die Beine übereinander. Der weiße Satinstoff ihres Schlafanzuges floss in Wellen an ihrem Körper hinab und sie spielte mit meiner Taschenuhr, welche sie aus der oberen Schublade meines Nachtschranks stibitzt haben musste. „Was zur Hölle machst du hier und wie bist du hier rein gekommen?“, fragte ich sie. Sie zeigte mir ihr allerschönstes Lächeln und schwieg. Augenblicklich flogen mir kleine Engel aus dem Hintern. „Selena, bitte geh jetzt. Wenn dich hier jemand findet, bekommen wir beide einen Riesenärger.“ Sie wechselte ihre Position und streckte sich. „Mich wird niemand sehen, denn ich bin gar nicht hier. Ich liege in meinem Bett und schlafe, genau wie du. Du träumst, Ray Fox.“ Ich träumte? Es war alles so real. Wie im Speisesaal kniff ich mir in meinen Arm und spürte den Schmerz. Dennoch saß die sonst stumme Selena Coleman in meinem abgeschlossenen Zimmer und redete mit mir. Nein, die stumme, verrückte, hypnotisierende, Schlösser knackende, Gedanken lesende Stalkerin Selena Coleman. Ohne Zweifel, es war tatsächlich ein Traum. Das oder ich verlor den Verstand. Ich war total durch den Wind. Warum hatte ich das verfluchte Zimmer nicht aufgeräumt? Warum schlief ich nur in einer karierten Pyjamahose und sie konnte meine haarlose Hühnerbrust sehen? Warum kümmerte mich das überhaupt? Verwirrt blickte ich sie an und hoffte, sie würde weitersprechen. Ihre Stimme war so unglaublich angenehm in meinen Ohren. Ich wollte etwas Nettes sagen. Irgendetwas. Ich durchsuchte krampfhaft meinen Kopf nach den richtigen Worten. Er war leer, genauso wie die Straßen während der Playoffs. Nur ein helles Leuchten füllte den Hohlraum in meinem Inneren. Ich erwischte mich dabei, wie ich sie fasziniert ansah. Ich konnte einfach nicht wegsehen. Sie war unglaublich schön. Die langen dunklen Haare kringelten sich leicht in den Spitzen und glänzten. Und ihre Augen … O mein Gott, ihre Augen! Ich war hin und weg. Im Zimmer war es still, ich erlaubte es mir nicht mal, zu atmen. Aus heiterem Himmel stand sie auf. Mein Körper reagierte sofort und ließ mein Herz erneut galoppieren. Forsch und anmutig schritt sie auf mich zu. Ihre Züge und Bewegungen hatten die Eleganz einer Königin, die Grazie einer Raubkatze. In meinem Körper verschmolzen Hitze und Kälte zu einer ganz neuen Empfindung. Es war ein magisches Gefühl und dennoch die reinste Qual für mich. Himmel und Hölle vereint in ewiger Symbiose. Wieso nur hatte ich das beklemmende Gefühl, dass meine Pyjamahose enger geworden war? Nicht mehr als sechs Schritte können es gewesen sein, aber für mich spielte sich alles in Zeitlupe ab. Selena hüpfte auf mein Bett und setzte sich im Schneidersitz vor mich hin. Ihr Rücken war kerzengerade, ihre Körperhaltung einfach perfekt. Wir waren nicht weit voneinander entfernt, trotzdem reichte es mir nicht. Ihr Körper zog mich an. All meine Kraft war nötig, um mich dagegen zu wehren. Ich wagte es nicht, ihr noch näher zu kommen. „Ich kenne deine Visionen“, hauchte sie plötzlich mit ihrer süßesten Stimme. Mein fegendes Herz legte einen Gang nach und ratterte nun wie ein alter Dieselmotor. „Welche Visionen?“, antwortete ich verlegen. „Alle, Ray. Ich kenne sie alle.“ Nein, das war nicht möglich. Wie konnte sie davon wissen? Im Schnelldurchlauf versuchte ich, mich zu erinnern, ob ich irgendwann unvorsichtig gewesen war. Hätte sie etwas bemerken können? Schlich sie womöglich jede Nacht in mein Zimmer und ich sprach im Schlaf? Oder hatte ich vielleicht Halluzinationen? „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Ray, du weißt sehr wohl, wovon ich rede. Du siehst diese Dinge schon so lange. Ich weiß, dass du Tommy nur helfen wolltest. Du hast dir die Ohren zugehalten und stumm um ihn geweint. Es hat dich gequält all die Jahre. Es verfolgt dich noch heute, nicht wahr?“ „Das ist unmöglich, wie kannst du davon wissen?“, fisperte ich. „Ich sehe es schon mein ganzes Leben. Als ich mich meinen Adoptiveltern anvertraute, zweifelten sie an meiner geistigen Gesundheit. Die Dinge, von denen ich erzählte, wurden immer grausamer und sie schleppten mich von einem Seelenklempner zum nächsten. Es gab keine Besserung. Man gab mir Medikamente, die mich müde machten. Ich wollte sie nicht nehmen, doch sie zwangen mich dazu. Nach ein paar Jahren war ich nicht mehr ich selbst. Die Tabletten machten mich krank und willenlos. Meine Eltern wollten keinen Psycho zu Hause, deshalb steckten sie mich am Ende ganz in die Klapsmühle. Irgendwann hörte ich auf, den Ärzten davon zu erzählen. Ich sagte, ich würde gar nichts mehr sehen, gab vor, sie hätten mich geheilt. Ich habe miterlebt, was Kevin mit dem kleinen Tommy gemacht hat. Die Angst in seinem Gesicht, ich habe sie bis heute nicht vergessen können“, eröffnete sie mir mit dünner Stimme. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie der dicke Kevin mir damals grinsend auf die Schulter geklopft hatte, als ich das Heim verlassen musste und man mich nach Hilton schickte. In diesem Moment ließen mich die Bilder alles Furchtbare noch einmal Revue passieren. Es war unmöglich, doch sie musste es gesehen haben. Niemand konnte das wissen. Niemand außer mir selbst. Beruhige dich, du träumst nur, ermahnte mich meine innere Stimme. „Woher wusstest du, dass ich es bin? Ich meine, du siehst doch nur die Dinge, die ich selbst auch erblicke. Visionen von Fremden, von bösen Menschen, oder etwa nicht?“, fragte ich und sie nickte. „Normalerweise bist du aber nicht ein Teil davon. Ich sah immer nur durch deine Augen und du durch die Augen derer, die Böses taten.“ Sie griff nach meinen Händen und nestelte an meinen Fingern herum. Dann redete sie weiter und das charismatische Lächeln verschwand. „An dem Tag, als die Sache mit Tommy passiert war, bist du dabei gewesen. Durch Kevins Berührung bist du später zum Teil deiner eigenen Vision geworden und ich konnte dich sehen. Dein ganzer Schmerz war so zu meinem geworden. Ich war bei dir, konnte dich fühlen.“ Langsam dämmerte es mir … Einige Szenen, die ich in der Vergangenheit zu sehen bekam, liefen wieder durch meinen Kopf. Wenn ich darüber nachdachte, dass dieses zerbrechliche Mädchen all das miterleben musste, fühlte ich mich elend. Sie streichelte meine Hand, wollte mich trösten. „Ray, es ist nicht deine Schuld, du kannst nichts dafür. Die Dinge sind, wie sie sind und wir müssen damit leben. Hinter allem steckt ein Sinn, eine Bestimmung, der man folgen muss. Nichts passiert einfach so und du wirst irgendwann begreifen, aus welchem Grund dir all das widerfährt – wissen, wo dein Platz in dieser Welt ist. Ich werde dir helfen, zu verstehen, wenn es an der Zeit ist.“ Ich schaute sie ungläubig an. „Deshalb bin ich hier, ich habe dir etwas mitzuteilen.“ Wenngleich ich versuchte, ihr aufmerksam zuzuhören, war ich wie verzaubert von ihrer Schönheit. Wieso war mir das früher nie aufgefallen? Wieso war SIE mir nie aufgefallen? Selena ließ meine Hände los und faltete ihre auf dem Schoß. Ich fühlte mich, als hätte ich ein Körperteil verloren. In Gedanken holte ich mir zurück, was mir gehörte und führte ihre Fingerspitzen an meinen Mund, um sie zu küssen. Weich und sanft holte mich ihre liebliche Stimme aus dieser kurzen Träumerei. „Wenn du diese Visionen hast, siehst du nur einen Teil des Puzzles. Du siehst nur einen Bruchteil der ganzen Geschichte.“ „Das ist mir schon klar und um ehrlich zu sein, bin ich froh darüber. Mehr abartige Details aus den Leben dieser Teufel will ich auch gar nicht wissen.“ Sie legte ihren Zeigefinger vorsichtig auf meine Lippen, um mich am Weitersprechen zu hindern. Mir schien, als wüsste sie, was ich mir in diesem Moment am sehnlichsten gewünscht hatte. Ob sie den heimlichen Kuss bemerkt hatte? „Urteile nicht vorschnell, Ray Fox! Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Unsere Augen können uns Streiche spielen. Verlasse dich auf deinen Instinkt und blicke hinter die Bilder. Folge deiner Bestimmung.“ „Ja“, hauchte ich. Zu allem hätte ich ja gesagt. „Urteile nicht vorschnell“, sagte sie erneut. Ich nickte zwar, verstand allerdings kein Wort und sah sie einfach nur weiter an. Selena lächelte und säuselte leise: „Irgendwann wirst du den Sinn meiner Worte begreifen. Wobei die Zeit ein Faktor ist, den du noch nicht erfassen kannst.“ Während mir bewusst wurde, dass sie schon wieder meine Gedanken gelesen haben musste, war mir nicht aufgefallen, wie nah sie mir gekommen war. Ihr Kopf neigte weit zu mir herüber und auch ich schien meinen Kampf gegen ihre Anziehungskraft aufgegeben zu haben. Nur wenige Zentimeter trennten unsere Lippen noch voneinander und ich spürte ihren warmen Atem auf meinem Gesicht. Mit jedem Atemzug sog ich ihn tiefer in mich hinein. Ihr Geruch war unwiderstehlich. Die Hitze, die durch meine Venen rauschte, war kaum noch auszuhalten. Es tat weh, es brannte und doch war es das schönste Gefühl, das ich je erleben durfte. Ich schloss meine Augen, als sich unsere Münder berührten. Um mich herum explodierte ein Feuerwerk. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und zog sie noch näher an mich heran. Sie streichelte mich mit ihrer feurigen Zunge, bis ich ganz außer Atem war. Ihr verführerischer Geschmack nach Honig und Zimt machte mich ungeduldig. Ich wollte mehr davon, ich brauchte mehr von ihr. Ihre Küsse waren das Einzige, was meinen unbändigen Hunger stillen konnte. Etwas entfesselte sich in mir, ich fühlte mich wild und zu allem entschlossen. Wir knieten voreinander und ich presste sie fest an meine Brust. Unsere Herzen fanden denselben stürmischen Rhythmus – ich war überglücklich. Dann fühlte ich mich schwanken, fiel aufs Bett und Selena legte sich neben mich. Sie kuschelte ihren Kopf auf meine Schulter. Eine Hand brachte sie auf mein Herz und ich sah, wie sie bei jedem Schlag vibrierte. Genau dort war ihr Platz, dachte ich – jetzt erst war mein Herz vollkommen. Behütet und sicher, als läge mein Leben in ihren Händen. Freudetrunken küsste ich sie auf die Stirn und wurde müde. Nicht einschlafen, bloß nicht einschlafen. Ich wollte diesen wunderschönen Moment noch nicht aufgeben. Ich wollte mehr ... Mehr von ihren Berührungen, mehr von ihrem süßen Duft, mehr von ihrer Wärme. Angestrengt kämpfte ich gegen den Schlaf, jedoch war ich machtlos. „Ich habe noch ein Geschenk für dich“, hörte ich leise aus der Ferne und spürte ihre Lippen noch einmal auf meinen. Mit diesem Kuss schwebte ich vollends hinüber ins Traumland und hatte den schönsten Traum meines Lebens. Ich sah meine Eltern. Endlich sah ich ihre Gesichter. Wir waren auf einem Spielplatz und sie fingen mich auf, als ich eine silberne Rutsche runter sauste. Ich war noch sehr jung, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Ihre Gesichter waren freundlich und warmherzig. Ich konnte fühlen, wie sehr sie mich liebten. Sie blickten sich an und ich vernahm denselben kleinen Funken in den Augen meiner Mutter, den ich auch bei Selena zu sehen glaubte. Mein Vater hatte braunes Haar, er war nicht blond wie ich. Wobei meine Haare allmählich dunkler wurden. Vor allem ihm sah ich sehr ähnlich. Im Schlaf musste ich lächeln. Endlich wusste ich wieder, wie sie aussahen. Nie mehr würde ich diese Gesichter vergessen. Danke, murmelte ich träumend. Danke, für dieses wundervolle Geschenk.

Der Lärm laut spielender Kinder holte mich aus diesem großartigen Traum. Es war bereits heller Tag und die hochstehende Sonne erhellte den kompletten Raum. Lächelnd dachte ich an die letzte Nacht und die kleinen Stromschläge kehrten zurück. Schwelgend in Erinnerungen drehte ich mich nach links, um meine schlafende Schönheit zärtlich aus ihren Träumen zu küssen. Mein Herzschlag setzte kurz aus, als ich bemerkte, dass ich allein im Bett lag. Ich sah mich im Zimmer um, sie war weg. Sicher war sie schon aufgestanden und wollte mich nicht wecken, vermutete ich. Ich sprang aus dem Bett, schlüpfte in Windeseile in meine Jeans und zog mir ein sauberes T-Shirt über. Voller Aufregung und bewaffnet mit meinem neuen Dauergrinsen, stürmte ich zur Tür. Sie öffnete sich nicht, sie war verschlossen – genauso, wie ich sie am Abend zuvor hinterlassen hatte. Ein Traum? Nein, das konnte kein Traum gewesen sein. Es durfte kein Traum gewesen sein! Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Ich hatte jemanden gefunden, bei dem ich mich nicht verstellen musste – jemanden, der mein Geheimnis kannte und mich verstand. Und nun sollte alles nur eine psychische Aktivität meines Gehirns während des Schlafens gewesen sein? Eine Illusion? Geschockt sank ich wieder auf mein Bett. Doch neuer Mut erwachte in mir. Okay, vielleicht hatte ich alles nur geträumt. Doch Selena gab es wirklich. Sie war mit mir in dieser Einrichtung, sie war Realität! Fest entschlossen, sie zu suchen, um ihr alles zu erzählen, rannte ich los und ahnte nicht, was dann passieren würde … Mein Herz starb, als Mr. Doyle folgende Worte sprach: „Selena Coleman hat uns doch schon vor über einem Jahr verlassen. Sie ist von ihren Eltern in ein Heim nach Europa gebracht worden. Ihr Vater hat dort einen neuen Job und sie wollen Selena in ihrer Nähe wissen. Weißt du das nicht mehr, Ray?“ Das konnte doch nicht sein? Ihre Eltern interessierten sich nicht für sie. Sie wollten keinen Psycho zur Tochter. Sie hatte es mir doch selbst erzählt – oder nicht? Wut und tiefe Trauer wischten meine neu gewonnenen Glücksgefühle weg, wie ein Scheibenwischer Insekten von der Windschutzscheibe fegt. Einen kurzen Moment hatte mein Leben einen Sinn gehabt und ich hielt mich nicht für einen psychisch-kranken Verrückten, sondern für einen ganz normalen Jungen. Für einen winzigen Moment waren die düsteren Erinnerungen anderer vergessen und Licht trat in mein dunkles Leben. Und nun sollte alles nur ein Traum gewesen sein? Ein Traum, der niemals Wirklichkeit werden würde? Das letzte Fünkchen Hoffnung starb auf dem Weg zurück in mein Zimmer. Wütend riss ich das Kissen vom Bett und schlug auf alles ein, was sich im Raum befand. Ich knallte es gegen die Schränke, die Stühle und gegen die Tür. Mit der übermenschlichen Kraft, die ich mir sonst nie gestattete rauszulassen, haute ich alles kurz und klein. Mit letzten Reserven kroch ich auf mein zerwühltes Bett, ließ zu, dass die innere Leere mich langsam auffraß. Plötzlich fiel mein Blick auf etwas Seltsames. Neben mir auf dem Bett lag ein Stück Papier. Es musste unter dem Kopfkissen gelegen haben. Zitternd faltete ich den Zettel auseinander und las mit sausendem Herzen, was darauf geschrieben stand: „Träume sind manchmal wahrer als man vermutet, mein lieber Ray. Vergiss meine Worte nicht … Urteile nicht vorschnell. Verurteile die Menschen nicht anhand weniger schwacher Momente ihres Lebens. Durch deine Bilder werden wir immer miteinander verbunden sein. Auch wenn dunkle Visionen fortan mein Leben begleiten, so werden es immer die Deinen sein – Dein Geschenk an mich. Mein Herz, du bist jetzt ein Teil von mir.“

Es war wirklich passiert. Unser Gespräch, unsere Blicke, unser Kuss, die Wärme ihrer Haut. Sofort nahm ich Stift und Papier und begann, jede Sekunde dieser Nacht niederzuschreiben. Niemals wollte ich es vergessen. Nicht ein einziger Moment dürfte jemals in Vergessenheit geraten. Nicht ein einziges gesprochenes Wort verloren gehen. Ich schwor mir, ich würde sie eines Tages wiedersehen … Nein, ich werde sie wiedersehen! Ich werde sie suchen und finden. Egal wie lange es dauert, ich werde niemals aufgeben!

~Ray Fox~

ώώώ

Der blutrote Himmel kündigte die ersten Sonnenstrahlen des Tages an. Das Mädchen saß noch immer im Schutz der Gasse in ihrem Versteck und legte den letzten Zettel beiseite.

Hoffnung erfasste ihr bleiches Gesicht. Hoffnung, dass es jemanden gab, der ihr helfen konnte. Jemanden, dessen einzigartigen Fähigkeiten so unglaublich waren wie ihre erschreckende Vergangenheit. Genauso unglaublich wie die Kreaturen, die sie jahrelang gefangen hielten und ihr grauenhafte Dinge angetan hatten.

Nur jemand, der das Unwirkliche selbst erlebt hatte, war imstande zu verstehen und zu glauben. Dieser Junge – Ray – schien ein reines Herz zu haben. Er war mitfühlend und stark, hatte selbst Schlimmes erleben müssen und am aussichtslosen Ende zur Hoffnung gefunden. Er war nun ihre Hoffnung, ihr Grund weiterzumachen. Ihr Grund, zu überleben.

Sie kramte eine alte Zeitung aus dem Container, wickelte die Mappe darin ein und schlich geduckt aus der Gasse. Die Straße erwachte langsam zum Leben und die ersten Autos kämpften sich Richtung Innenstadt zur Arbeit. Wo sollte sie hin? Wie hieß nur diese Bar, in der ihr angeblich geholfen werden würde? Sie hatte es vergessen.

Sieben Jahre waren vergangen, als sie den Armen ihrer Schwester entrissen wurde. Als sie zusehen musste, wie sie Anna getötet hatten. Sie waren über sie hergefallen wie eine Horde hungriger Wölfe und ließen außer ihrem kalten Fleisch nichts übrig.

Eine Träne kullerte über ihr schmutziges Gesicht. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie ihre leblose Schwester wieder am Boden liegen, die mit trüben Pupillen ins Nichts starrte.

Sie waren nie wohlhabend gewesen. Annalisa hatte nach dem Krebstod ihrer Mutter für sie gesorgt. In Soglio, einem kleinen Bergdorf im schweizerischen Kanton Graubünden, teilten sie sich früher ein kleines Zimmer. Anna arbeitete in dem Büro einer Tischlerei und sie selbst besuchte die zweite Klasse der Grundschule.

Anna und sie waren glücklich, selbst nach dem Tod ihrer Mutter. Bis zu der Nacht, in der die Kreaturen angriffen und ihre Schwester ermordeten.

Man verschleppte sie selbst nach Amerika, um sie wie Vieh zur Erhaltung ihrer eigenen Art einzupferchen. Zum Leidwesen der gefangenen Mädchen war ihre sogenannte „Agrarwirtschaft“ nicht sonderlich ertragreich gewesen.

Ob das an dem mangelnden Wissen über die Bedürfnisse der menschlichen Spezies lag oder es ihnen schier egal war, wusste sie nicht. Was sie wusste, war, dass diese Wesen, die den Menschen so unverwechselbar ähnlich sahen, keine Menschen waren.

Sie konnten keine Menschen sein, denn so verhielten sich Menschen nicht. Sie sahen aus wie sie, sprachen wie sie, dennoch waren sie anders. Ihre Augen hatten dieses wilde Funkeln, wenn sie wütend oder hungrig waren. Ihre Bewegungen waren kraftvoller, schneller. Oh ja, sie waren verdammt schnell diese Biester.

Sie hörten, was in den Zellen gesprochen wurde, obwohl sie nicht mal in der Nähe waren. Sie kannten jede noch so kleine Verschwörung, ehe sie überhaupt ausgesprochen wurde. Es war unheimlich, doch wenn man sie lange genug studierte und sie aufmerksam beobachtete, konnte man es erkennen.

Oft brachte man auch Menschen zu ihr. Die Männer wollten allerdings nicht dieselben Dinge wie diese Kreaturen. Manchmal fragte sie sich, wer ihr wohl schlimmeres Leid zufügte.

All das machte sie wütend und sie sann nach Rache. Die gleißende Wut machte sie stark, hielt sie am Leben. Und sie wollte leben. Der einzige Gedanke, der sie noch aufrecht stehen ließ, war die Chance auf Vergeltung an denen, die ihr das angetan hatten. Sie sollten leiden und Höllenqualen ertragen müssen.

Mit entschlossenem Herzen rannte sie der Morgenröte entgegen. Sie musste diesen Ray finden und betete zu Gott, dass er wirklich existierte. Dass die niedergeschriebenen Erinnerungen echt waren und nicht nur der Feder eines fantasievollen Schreiberlings entsprangen.

Vergessenes Blut

Подняться наверх