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Versprechen und Gefahren
ОглавлениеIm Unterschied zur modernen Physik und anderen Wissenschaftszweigen hat die Evolutionstheorie unmittelbare und weitreichende Konsequenzen für eine ganze Reihe von philosophischen und weltanschaulichen Fragen. Manche traditionellen Begriffe erhalten unter evolutionärem Gesichtspunkt einen gänzlich neuen Stellenwert, etwa die Identität des Menschen (wer sind wir und woher kommen wir?), der Ursprung der Moral (werden wir von selbstsüchtigen Genen gesteuert oder ist unbedingter Altruismus möglich?) oder die Entstehung des menschlichen Geistes (welche Funkion hat unser Bewusstsein, können Tiere auch denken?). Das große Versprechen des evolutionären Paradigmas besteht darin, dass wir mit seiner Hilfe besser verstehen lernen sollen, was der Mensch ist und woher er kommt. Die Evolutionstheorie schlägt somit eine Brücke zwischen Wissenschaftsgebieten, die bisher getrennt waren. In den Sozialwissenschaften wächst die Einsicht, dass eine Kenntnis der modernen Evolutionsbiologie für ein vollständiges Bild des Menschen und der Gesellschaft unentbehrlich ist. So entstanden die Soziobiologie und die Evolutionspsychologie. Vor einigen Jahrzehnten wäre eine solche gegenseitige Befruchtung noch undenkbar gewesen.
Aber die Evolutionstheorie birgt auch Gefahren in sich. Sie bietet sich Wissenschaftlern und Phantasten dazu an, sie ideologisch zu missbrauchen. Man denke etwa an den Sozialdarwinismus und die Eugenik oder „Rassenhygiene“. Unter Berufung auf Darwin argumentierte man, man müsse den hilfsbedürftigen Mitmenschen seinem Schicksal überlassen, da dies den Gesetzen der Natur entspreche. Die Evolutionstheorie kann als „wissenschaftliche“ Rechtfertigung für Ungleichheit, Armut und Krieg dienen. Anhänger der Eugenik (ein von einem Vetter Charles Darwins geprägter Begriff, der „gute Abstammung“ bedeutet) gingen noch weiter. Um die menschliche Spezies zu „verbessern“, wurden Menschen mit angeblich „schlechten“ Genen zwangssterilisiert oder ermordet, damit künftige Generationen von solchen „Aberrationen“ verschont blieben. Und heute ist der Eingriff in die Evolution mittels genetischer Manipulation aktueller denn je. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms besitzen wir quasi den Bauplan unserer selbst. Die Versuchung, an der menschlichen Evolution herumzubasteln, ist groß, und es verwundert daher nicht, dass viele Menschen diese Entwicklung mit großer Skepsis beobachten.
Eine andere Gefahr besteht darin, dass wir in unserer Euphorie irgendeiner Form des biologischen Determinismus verfallen, dem Gedanken, der Mensch werde ganz und gar von seiner biologischen Natur, von seinen Genen bestimmt. Die Frage, was das menschliche Verhalten am stärksten beeinflusst – Natur oder Kultur – wurde im Lauf der Zeit mal so, mal so beantwortet. In den Sozialwissenschaften herrschte lange das Dogma des kulturellen Determinismus, die Auffassung nämlich, der Mensch sei gänzlich das Produkt seiner Kultur, seines Milieus und seiner Erziehung. Dies wird nun mehr und mehr relativiert. Gegenwärtig wird das Bild des Menschen stärker von den Natur- und Biowissenschaften geprägt. Manche übereifrigen Evolutionstheoretiker sind sogar der Ansicht, man könne alle menschlichen Eigenschaften auf ein paar simple evolutionäre Prinzipien zurückführen. Letztendlich drehe sich alles um die Differenzierung der Gene. Unter diesem Aspekt ist Kultur nichts anderes als eine „biologische Anpassung“, die uns befähigt, unsere Gene weiterzugeben. Ein solcher Reduktionismus ist natürlich unzulänglich und daher nicht wünschenswert. Unsere Kultur ist mindestens so wichtig und bestimmend wie unsere Natur. Doch die Frage bleibt, in welcher Wechselwirkung miteinander diese beiden Einflüsse stehen.