Читать книгу Königsfalke - Chris Svartbeck - Страница 5
ОглавлениеDie Weichen werden gestellt
Tolioro starrte auf die Wiege. Noch einen Bruder, den Ioros Mutter geboren hatte. Noch einer, in den sein Vater vernarrt sein würde. Er ballte die Fäuste. Was sah sein Vater bloß in dieser Konkubine und ihren unnützen Bälgern? War er nicht der rechtmäßige Erbe? Sollte nicht ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters zustehen? Stattdessen kriegte er immer wieder diesen Ausbund an Vollkommenheit, seinen älteren Bruder Ioro, als gutes Beispiel vor die Nase gehalten. Er hasste Ioro! Er hasste ihn mit aller Inbrunst seiner sechseinhalb Jahre. Und er hasste diesen neuen Bruder.
Tolioro schob die Unterlippe vor. Was hatte ihm seine Mutter noch erzählt? Ein böses Lächeln glitt über sein Gesicht. Mit beiden Händen packte er ein Seidenkissen vom Diwan und hielt es über die Wiege. Das Baby bewegte seine Ärmchen etwas und gluckste im Schlaf. Dieser Bruder würde ihm nicht in die Quere kommen. Entschlossen drückte er das Kissen auf das kleine Gesicht. Er wartete. Keine Bewegungen. Sicherheitshalber wartete er noch ein bisschen länger. Dann hob er das Kissen. Das Baby lag da wie zuvor. Aber es atmete nicht mehr. Mit funkelnden Augen legte er das Kissen zurück. Dann schlich er sich aus dem Zimmer.
Miomio konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Weshalb straften die Götter sie so? Ihr jüngstes Kind, ihr zweiter Sohn, dahingerafft noch vor der Blüte seiner Kindheit! Es war der letzte Sohn, den sie Kanata gebären konnte. Die Ärzte hatten ihr nach seiner Geburt keine Hoffnung gemacht, dass sie jemals wieder ein Kind austragen würde. Vorbei, vorbei. Gütige Göttin, war sie etwa zu stolz gewesen auf ihre beiden wohlgeratenen Töchter? Zu vernarrt in ihren wunderschönen ältesten Sohn? Miomio sank vor der Wiege zu Boden und wiegte ihren Oberkörper hin und her, während ihr lautlose Tränen über die Wangen liefen.
Eine Hand berührte ihre Schulter. Die Amme. „Herrin, ich teile Euren Schmerz. Bitte, versenkt Euch nicht zu tief in Eure Trauer. Wir hätten nichts tun können. So viele Kinder sind in den letzten Monden gestorben, selbst hier im Palast. Die Dürre, die Hitze hat das ganze Land mit Tod und Verderben geschlagen. Der König wird Euch keine Schuld geben. Er wird mit Euch um Euren Sohn trauern.“
Miomio zuckte zusammen. Das hatte sie beinahe vergessen. Kanata musste sofort vom Tod seines jüngsten Sohnes unterrichtet werden. Schwerfällig erhob sie sich wieder. „Schick mir die Zofe. Sie soll das weiße Trauergewand mitbringen.“
Kanata zog drohend seine Augenbrauen zusammen. „Du willst mir nicht wirklich sagen, dass diese Zauberer keinen Regen herbeirufen können?“
Der Bote der Kristallkammer wagte nicht zu antworten. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Insgeheim schickte er ein Stoßgebet an die Götter, dass er diesen Besuch beim König überleben würde.
„Zufällig weiß ich, dass sie durchaus Regen machen können.“ Kanata hieb zornig mit der Faust auf den Stapel Papiere. „Zu Zeiten meines Großvaters gab es eine ähnliche Dürre. Die Zauberer haben sie in nur einer Nacht bezwungen.“ Er lehnte sich etwas nach vorne. „Diese Dürre hat mich schon wieder einen Sohn gekostet. Vor drei Monden der meiner fünften Konkubine und vor zwei Tagen der meiner Ersten Konkubine. Ich werde keinen weiteren Verlust tolerieren. Ich gebe deinen Herren ein Ultimatum. Entweder sie sorgen dafür, dass es ausreichend regnet, oder ich lasse alle Zauberer der Stadt verweisen und die Kristallkammer schleifen. Ihr habt genau fünf Tage Zeit.“
Mit einer unwirschen Handbewegung entließ er den Boten.
Das Konklave der Zauberer war in Aufruhr. Das königliche Ultimatum kam nicht unerwartet, aber über die Antwort entzweiten sich die Parteien.
Der alte At verschaffte sich mit wütendem Gebrüll Gehör. „Kanata hat uns noch nie gemocht. Und jetzt das! Glaubt der König, er kann uns einfach Befehle geben? Ich bin entschieden dagegen, ihm zu helfen!“
Ke aus dem Westland stemmte die Hände in die Hüften. „Und was, bitte sehr, soll das bringen? Nicht der Palast leidet am meisten unter der Dürre, sondern das Volk. Ich finde, Kanata hat Recht, wenn er uns an unsere Pflichten erinnert.“
At kniff seine eisgrauen Augen wütend zusammen. „Junger Schnösel! Bist du nicht erst unter der Herrschaft von Kanatas Großvater geboren worden? Du weißt doch gar nicht, worum es hier wirklich geht! Es geht nicht um das Wohlergehen des Volkes, es geht nicht um Pflichten und Rechte, es geht einzig und alleine um die Macht! Kanata will uns ans Leder, seitdem wir die Änderung der Thronfolge zugunsten von Prinz Ioro versucht haben!“
Sofort brandeten wieder erregte Diskussionen auf.
Bis zum späten Abend zeichnete sich noch immer kein Kompromiss ab. Großmeister Ro machte schlussendlich von seinem Vetorecht Gebrauch.
„Wir müssen uns König Kanatas Befehl beugen. Diesmal zumindest. Er hat das Volk auf seiner Seite. Sie haben zu lange unter der Dürre gelitten. Wenn wir jetzt unsere Hilfe verweigern, haben wir die ganze Bevölkerung gegen uns.“
Er musterte die Ränge. Verkniffene Gesichter, steinerne Mienen, nervös zuckende Augenlider. Glasklar, niemand hier war mit seinem Vorschlag wirklich zufrieden.
„Wir werden dies alle zusammen tun müssen. Deshalb gebe ich einen Spiegel der Kristallkammer frei.“
Kollektives Aufatmen ging durch den Saal. Niemand würde einen eigenen Spiegel opfern müssen. Die Auseinandersetzung war vertagt. Aber sie war nicht vergessen.
Drei Tage später rauschte der ersehnte Regen hernieder und brach den Würgegriff der Dürre.
*
Drei Tage nach Jacitins Tod kam Meister Go von einer seiner ominösen Missionen zurück. Mit ihm kam der Regen. Jokon hielt dankbar das Gesicht zum Himmel und fing mit der Zunge die ersten schweren Tropfen auf. Sein Heimatdorf war damit wohl endgültig gerettet.
Es gab keine Feiern, wie es im Dorf üblich gewesen wäre. Die Tage vergingen in gleichmäßigem Trott, mit oder ohne Regen. Jokon sah den Turm weiterhin nur aus der Ferne. Dogon dagegen wurde nach der Regenzeit bereits zum zweiten Mal in den Turm gerufen. Anschließend konnte er sich überhaupt nichts mehr merken. Einer der Roten kam, untersuchte ihn und schickte ihn dann zu den Dienern. Dogon arbeitete danach bei den Ochsen. Mit seinem bisschen restlichen Verstand und seinen bulligen Kräften schien er den Tieren jeden Tag ähnlicher zu werden. Jokon lernte schnell, dass man über die Ausgeschiedenen nicht redete und sie nach Möglichkeit nicht mehr beachtete. Die Grauen verdrängten ihre Verluste.
Auch Aleti wurde zu den Dienern geschickt, schon nach ihrem ersten Turmbesuch. Sie schien äußerlich unverändert, schwatzte und lachte wie immer. Aber etwas fehlte. Aleti sang nicht mehr. Sie konnte nicht mehr singen. Der Turm hatte ihr die Melodien geraubt. Kabato dagegen war erst sehr krank, nachdem er im Turm gewesen war, aber dann durfte er zu den Grünen ziehen. Und das, obwohl er ein Jahr jünger war als Jokon!
Als Jokon seine zwölfte Regenzeit gesehen hatte, wurde auch er endlich in den Turm gerufen. Meister Go holte ihn persönlich. Was immer das zu bedeuten hatte, Jokon war froh, dass es endlich geschah. Er kam inzwischen fast um vor Langeweile. Den spärlichen Unterrichtsstoff kannte er nach fünf immer gleichen Jahren auswendig. Die kleine Bibliothek der Grauen hatte er von vorne bis hinten durchgelesen. Er konnte mittlerweile jedes Spiel bis ins kleinste Detail, an das er oder die anderen Kinder sich erinnerten, und hatte vor lauter Überdruss begonnen, sich neue Spiele auszudenken. Manchmal spielten die Diener mit ihnen oder sie erzählten ihnen Märchen und Sagen. Aber sie erzählten nichts von der Welt draußen. Es war, als ob außerhalb der Mauern nichts mehr existierte. Fünf Jahre lang nichts außer Meister Gos Haus mit einem immer gleichen Tagesablauf. Jokon war es herzlich satt.
Meister Go stieg mit ihm die Treppe hoch bis in die Turmspitze. Die kleine Wendeltreppe öffnete sich zu einer sichelförmigen Plattform. Von zwei kleinen, schießschartenartigen Fenstern aus konnte Jokon das Dach des Seitenflügels sehen. In der Mauer vor ihnen befand sich eine sehr alt und schwer aussehende Tür aus schwarzen Holzbalken mit einem kleinen ovalen Spiegel in der Mitte. Meister Go stellte sich so, dass sein Gesicht den Spiegel fast berührte. Die Tür schob sich lautlos in die Wand zurück. Genauso lautlos schloss sie wieder, nachdem beide hineingegangen waren. Jokon versuchte gar nicht erst, seine Neugier zu verbergen. Mit hungrigen Blicken inspizierte er die neue Umgebung. Das Turmzimmer nahm den ganzen Durchmesser des Turmes ein. Die Wände waren über und über mit kleinen, gestickten Wandbehängen bedeckt. Um das ganze Zimmer zog sich ein Ring verglaster Fenster und sorgte für gutes Licht. In jede Glasscheibe waren kleine Spiegel eingelassen, nicht größer als eine Handfläche. Gegenüber vom Eingang gab es eine Feuerstelle mit einem Kamin und mitten im Raum einen großen ovalen Tisch, unter dem sich Berge von Büchern stapelten. Auf der Tischplatte lagen zwei Papierrollen und etwas Schreibzeug neben einem vier Handspannen hohen Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Ein halbes Dutzend Stühle schienen wahllos im Raum verteilt.
Meister Go zog einen hohen Lehnstuhl an den Tisch, nahm Platz und begann gleich zu schreiben. Irritiert blickte er nach einigen Minuten auf. „Nun setz´dich schon endlich“, brummelte er.
Jokon schnappte sich einen dreibeinigen Hocker und setzte sich direkt gegenüber von Meister Go an den Tisch. Der Spiegel verdeckte Meister Gos Kopf. Jokon dachte an den Zauberspiegel im Dorf. Was dieser Spiegel hier wohl für mächtige Zauber enthielt? Auch der hier erzeugte heftiges Schwirren in seinem Kopf.
Gespannt studierte Jokon den Spiegel. Die Oberfläche sah auf dieser Seite mattschwarz aus, wie geschliffener Stein. Sein Gesicht war in der Schwärze nur schemenhaft zu erkennen. Mehrere ineinander verflochtene Schlangen bildeten den Rahmen. Ihre Köpfe schienen die Spiegelfläche zu halten. Jokon verfolgte die Windungen eines Schlangenleibes mit den Augen. Die Schuppenstränge liefen rund um den ganzen Spiegel. Hier eine Biegung ... dort noch eine ... und wieder ... und wieder ... und wieder ...
Jokon schrak hoch. Meister Go hatte das dicke Buch zusammengeschlagen, in dem er gerade gelesen hatte. Verwirrt versuchte Jokon, sich zu orientieren. Es war dunkel, nur das glosende Feuer im Kamin und zwei Kerzen zu beiden Seiten des Spiegels gaben etwas Licht ...
Dunkel? Vor ein paar Minuten war es doch heller Mittag gewesen! Jokons Nackenhaare stellten sich auf, als er wieder zur Tischmitte blickte. Der Spiegel selbst war ... anders! Entsetzt erkannte er den Grund. Die Schlangen hatten ihre Position verändert. Sie hatten sich halb abgelöst vom Spiegelrahmen, und ihre züngelnden Köpfe schwebten in seine Richtung. Jokon sprang heftig atmend auf. Er war seltsam matt und ausgelaugt, gleichzeitig fühlte er, wie seine Glieder vor Angst schlotterten.
Meister Go lächelte schmallippig. „Schon gut, dieser kleine Zauber war wohl etwas viel für den Anfang. Du kannst gehen, für heute ist es genug!“ Mit einer herrischen Handbewegung öffnete er die Tür.
So schnell seine wachsweichen Beine ihn trugen, wankte Jokon aus dem Turmzimmer. Auf der Wendeltreppe fiel er zweimal hin. Nur die Krümmung der Wand verhinderte, dass er geradewegs nach unten rollte. Auf dem Weg zu seinem Zimmer schlich er an der Flurwand entlang, immer wieder nach Halt suchend. In der Eingangshalle kam ihm Karados, der Nachtdiener, entgegen. Ohne ein Wort zu verlieren, packte ihn der große Mann und trug ihn in sein Zimmer. Jokon schlief, bevor sein Kopf das Kissen berührte.