Читать книгу Königsfalke - Chris Svartbeck - Страница 8
Ein Bund, aus Not geboren
ОглавлениеGavila reagierte ziemlich irritiert, als nicht nur Jokon aufkreuzte, sondern gleich eine ganze Gruppe von Grünen. „Seid ihr übergeschnappt? Was soll das?“
„Wir brauchen Erklärungen“, erwiderte Tevi unbeeindruckt, und Jokon fügte hinzu: „Du bist schon länger hier als wir alle. Du musst einfach mehr wissen! Was machen die Roten mit uns, warum werden ausgerechnet wir immer so häufig gerufen?“
Gavila verschränkte die Arme über der Brust. „Das geht euch nichts an. Das ist Wissen der Blauen.“
Thealina schob sich vor. „Bitte. Gavila, wir brauchen einfach mehr Informationen. Ich habe Angst, schreckliche Angst!“
Das brach das Eis. Gavila wirkte auf einmal alt und müde. Sie setzte sich auf den nackten Steinboden. Die Grünen folgten ihrem Beispiel. „Was wisst ihr?“
Isito fasste es zusammen. „Die Roten und Meister Go haben Spiegel im Turm. Viele Spiegel, hinter den Wandbehängen. Sie benutzen die Spiegel, um zu zaubern. Und sie benutzen uns, um die Spiegel irgendwie aufzuladen, damit sie noch mehr zaubern können.“
„Und wenn wir benutzt werden“, fiel Jokon ein, „dann sind wir hinterher mehrere Tage sehr schwach. Und wenn die Grauen benutzt werden, dann verlieren sie manchmal alle Zauberkraft. Dann werden sie zu Dienern.“
„Das wisst ihr also“, sagte Gavila mit trauriger Stimme. „Mehr nicht?“ Sie seufzte. „Nun gut, ich erkläre es euch.“
Sie sah eine Weile mit leerem Blick zur Wand, bevor sie fortfuhr: „Die Spiegel sammeln nicht nur Zauberkraft. Sie bestehen vollständig daraus. Jokon, hast du dir in der letzten Zeit einmal den Ring angesehen, den ich dir gegeben habe?“
Jokon hatte den Ring, eingenäht in eine Gürteltasche, fast schon vergessen. Jetzt fingerte er nervös an seinem Gürtel herum, riss den Nähfaden auf und hob den Ring vorsichtig aus seinem Beutel. Der Ring war kein Ring mehr. Statt dessen hielt er einen winzigen, runden Spiegel mit einem fein gemusterten Obsidian-Rahmen in der Hand! Ungläubig und fasziniert zugleich strich er mit den Fingern darüber. Der Ringspiegel schien unter seinen Händen zu vibrieren und er vernahm ein ganz zartes, leichtes Schwirren. Fragend sah er Gavila an.
„Du hast den Ring auf dich eingestimmt, als du ihn benutzt hast. Er hat deine Lebenskraft gesammelt, jedes Mal ein kleines bisschen, und im Laufe der Monde ist genug davon zusammengekommen, um zu einem Spiegelglas zu kristallisieren.“
„Dann sind die Spiegel die Lebenskraft der Zauberer, die sie benutzen?“
„Wenn es das nur wäre!“ Gavila sah ihre Schüler der Reihe nach an. „Da ist noch eine andere Verbindung zwischen den Spiegeln und der Energie eines Zauberers. Das ist auch der Grund, weshalb Grüne nur mit Schwarzwasser arbeiten dürfen. Schwarzwasser kann eure Energie nicht speichern und deshalb nicht zu Spiegeln kristallisieren. Es ist harmlos.“ Sie stockte einen Moment. „Spiegel sammeln nicht nur die Energie des Zauberers, der sie herstellt. Sie ernten jede Art von Lebenskraft, die in sie geleitet wird. Ein stärkerer Zauberer kann die Lebenskraft eines schwächeren in seinen Spiegel umleiten und seinen Spiegel damit stärken. Und genau das tun die Roten und Meister Go. Sie rufen euch so oft, weil ihr viel Energie habt, euch aber noch nicht gegen sie abschirmen könnt. Ihr gebt eine gute Ernte ab.“
Sie setzte wieder einen Moment aus. Das Thema schien sehr schwierig für sie zu sein.
„Und den Grünen und Grauen Lebenskraft abzapfen, das tun nicht nur die Roten und Meister Go.“
Sie senkte beschämt den Kopf.
„Das tun auch wir Blauen.“
Jokons Erinnerungen ließen ihn frieren. „Dann hast du meine Lebenskraft geerntet, als du mir den Sichtzauber mit deiner Schale beigebracht hast?“
„Ja“, flüsterte Gavila, „aber ich habe wirklich nur ein ganz kleines bisschen genommen ...“
Ihre Stimme verklang.
Jokon hielt es nicht länger aus. Er sprang auf und tigerte durch den Raum, von einer Wand zur anderen, während seine Gedanken wieder und wieder um das Thema kreisten. Da war noch etwas ... etwas, was ihn schon lange verfolgte ... Er drehte sich zu Gavila um. „Marade hat nach meinem ersten Besuch bei den Roten gesagt, sie hätten mich leergesogen“, sagte er langsam. „Und Jacitin, das Mädchen aus meinem Dorf, das so schnell gestorben ist, sie hat gesagt, dass die Roten an ihr gesaugt haben. Das heißt also, dass ein Spiegel so viel Leben aus einer Person saugen kann, dass man stirbt. Und da war noch Lira, die Kleine, die mit uns hierherkam und die ich nie wiedergesehen habe. Jacitin hat gesagt ... “ – er überlegte den genauen Wortlaut – „... Jacitin hat mir gesagt, `die haben sie verbraucht´. Was bedeutet das?“
Gavilas Augen schwammen vor ungeweinten Tränen. „Das bedeutet, dass Lira gleich in der ersten Nacht zu einem Seelenspiegel wurde. Wenn ein Zauberer einen neuen Seelenspiegel herstellen will, ohne seine eigene Lebenskraft dazu einzusetzen, dann muss er die volle Lebenskraft einer anderen Person dazu benutzen. Kleine Kinder eignen sich dazu am besten. Sie können sich noch nicht wehren.“
Jokon erstarrte. „Aber wir haben ihre Leiche nicht gesehen“, sagte er langsam.
„Es gibt keine Leiche. Wenn ein neuer Spiegel auf diese Weise geschaffen wird, dann saugt er die Lebenskraft so gründlich auf, das nichts von einem überbleibt. Überhaupt nichts!“
Die vier Grünen saßen wie betäubt. Jokon sackte zu Boden. Das war ein Albtraum! Er erinnerte sich an die vielen kleinen Hinweise, die er bekommen und ignoriert hatte. An die seltsamen, mitleidigen Blicke der Diener. An die Totenklage seiner Eltern.
Gavila öffnete den Mund, als ob sie noch etwas sagen wollte, schloss ihn aber gleich wieder. Sie wartete.
„Was müssen wir tun, um nicht als Spiegel zu enden?“, flüsterte Jokon.
„Ich erkläre es euch“, sagte Gavila. „Aber nicht heute. Wir treffen uns in drei Tagen wieder. Und denkt daran, ihr dürft mit niemandem darüber reden. Keiner darf erfahren, dass ihr Bescheid wisst!“
Einer nach dem anderen erhoben sich die Grünen und gingen langsam, wie Schlafwandler, wieder in ihre Zimmer. Gavila wartete, bis niemand mehr auf dem Flur war. Dann erhob sie sich, trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. „Meine geliebten Berge“, seufzte sie. „Ich werde eure Luft niemals wieder atmen, niemals ...“
In den folgenden Monden begann für die kleine Verschwörergruppe der Grünen ein anstrengender geheimer Zusatzunterricht. Gavila fing gleich mit dem Wichtigsten an.
„Ihr braucht zuallererst einen eigenen Spiegel“, stellte sie fest und gab den anderen schwarze Ringe von der gleichen Sorte, wie auch Jokon einen von ihr erhalten hatte. Dann trainierten sie, ihre Zauberkräfte durch diesen Ring zu lenken. Jokon, der ja schon Erfahrung mit dieser Prozedur hatte, fungierte als Hilfslehrer. Es dauerte gut vier Monde, bis auch Thealina als letzte der Gruppe ihren eigenen Spiegel erschaffen hatte. Erst dann war Gavila bereit, ihren Unterricht fortzusetzen.
„Diese Spiegel sind eure Lebensversicherung“, sagte sie. „Passt auf sie auf, als wären sie euer Augenlicht. Nein, passt besser auf sie auf. Auf eure Augen könnt ihr notfalls verzichten, auf die Spiegel niemals! Wann immer ihr mit einem fremden Spiegel arbeiten müsst, wird dieser Spiegel eure Lebenskraft aufnehmen. Natürlich gibt er euch dafür einen Zauber, aber das, was er nicht für den Zauber verbraucht, speichert er für seinen Besitzer. Diese überschüssige Kraft ist dadurch für euch verloren. Wenn ihr aber euren eigenen Spiegel dazwischenschaltet, fängt der die überschüssige Kraft auf und speichert sie selbst. Und aus eurem eigenen Spiegel könnt ihr eure Lebensenergie jederzeit zurückbekommen.“
Sie brachte einen ihrer eigenen Spiegel mit und ließ die Grünen mit ihr als Partnerin üben. Wieder und wieder, erbarmungslos, solange, bis jeder von ihnen ohne Nachdenken automatisch seinen eigenen Spiegel zwischenschaltete, sobald er einen Zauber versuchte.
Danach übten sie, ihren eigenen Spiegel als Schutz einzusetzen, wenn jemand überraschend einen Zauber auf sie ausübte. Gavila befahl ihnen, das erst dann außerhalb des Übungsraumes zu versuchen, wenn sie es so gut beherrschten, dass der andere Zauberer nichts davon mitbekam. Es dauerte wieder viele Monde, bevor die Grünen nach Gavilas Meinung gut genug waren, um ihre Spiegel jederzeit als Schutz zu benutzen. Trotzdem schärfte sie ihnen ein, diesen Schutz niemals bei Meister Go zu probieren. Meister Go würde es auf jeden Fall bemerken.
Sie brachte ihnen zusätzlich bei, ihre eigenen Spiegel bewusst als Speicher zu nutzen. „Wenn ihr in den Turm gerufen werdet oder zu einem Blauen, speichert vorher so viel Energie wie möglich in euren Spiegeln. Ihr werdet dann schwächer erscheinen, als ihr seid. Dann werden sie euch unterschätzen und nicht mehr so an euch interessiert sein. Außerdem habt ihr dann die Möglichkeit, euch hinterher schnell wieder aufzuladen. Aber macht das Aufladen vorsichtig und in kleineren Mengen, es darf nicht auffallen!”
Gavilas Ratschlag half. Jokon stellte fest, dass sie nicht mehr so häufig in den Turm gerufen wurden. Nur ihn rief Kai nach wie vor in jedem Mond einmal. Konnte diese gemeine Hexe ihn nicht in Ruhe lassen? Was fand die bloß an ihm, dass sie ihn dauernd quälen musste?
*
Sasi war entsetzt. Der Kronprinz hatte schon wieder nach ihr verlangt. Die kleine Dienerin konnte ihre Tränen kaum unterdrücken. Was fand Tolioro nur an ihr, dass er sie dauernd quälen musste? Warum suchte er sich keinen der kräftigeren Jungen als Spielkameraden?
„Lauf!“, sagte Tolioro.
„Wohin?“
„Zu der großen Zeder und zurück.“
Sasi fragte nicht. Tolioro erklärte ihr ohnehin nie etwas. Sie lief einfach los. Fünf Schritte, sechs Schritte, sieben Schritte ... Schon wagte sie zu hoffen, dass sie diesmal wirklich nur laufen sollte, da prallte etwas hart gegen ihre Beine. Mit einem Aufschrei stürzte Sasi. Der Göttin sei Dank, wenigstens war sie ins weiche Gras gestürzt. Aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Irgend etwas hielt sie zusammen. Sasi stützte sich auf. Eine merkwürdige Konstruktion aus Seilstücken und Steinen war um ihre Beine gewickelt.
Tolioro schlenderte heran. „Scheint so, als ob diese Waffe doch etwas taugt“, bemerkte er grinsend. „Ich hab's nicht glauben wollen. Und jetzt probieren wir aus, ob das nur ein Glückstreffer war oder ob das immer so geht!“ Er wickelte die Wurfwaffe von ihren Beinen. „Lauf weiter!“
Sasi wagte keinen Widerspruch und lief wieder los.
Eine Sanduhr und mehrere blaue Flecke später war sie restlos erschöpft. Tolioro hatte sein neues Spielzeug an jeder erdenklichen Stelle ihre Körpers ausprobiert. Ihre Arme und Beine waren aufgeschürft und ihre linke Wange brannte. Einer der Steine hatte ihr Auge gerade so eben verfehlt.
Aber Tolioro war noch nicht befriedigt. „Jetzt probieren wir aus, ob die Waffe auch im Wasser funktioniert!“, befahl er.
Sasi ließ sich müde in den Goldfischteich sinken und begann zu schwimmen.
Die Waffe war im Wasser unbrauchbar. Das Wasser bremste sie ab, sodass sie sich nicht richtig um Sasis Arme oder Beine wickeln konnte. Ergeben gehorchte das Mädchen Tolioro und brachte ihm seine Wurfsteine zurück, um dann wieder in den Teich hinauszuschwimmen. Beim fünften Wurf verfehlte Tolioro sie. Die Waffe flog an ihr vorbei und versank an einer tiefen Stelle.
„Hol´sie mir wieder!“, befahl Tolioro unwirsch.
Sasi fühlte Panik aufsteigen. „Bitte, Herr“, bettelte sie, „verlangt das nicht, ich kann nicht tauchen!“
„Du willst mir widersprechen? Tu, was ich dir sage!“
Sasi kannte diesen Tonfall. Voller Angst schwamm sie zu der Stelle, wo die Steinwaffe versunken war. Hier konnte sie nicht mehr stehen, das Wasser war zu tief. Sie versuchte zu tauchen. Keine Chance. Sie bekam gerade so ihren Kopf unter Wasser, aber ihr Körper weigerte sich zu folgen. Noch einmal. Wieder erfolglos. „Ich schaffe es nicht! Ich komme einfach nicht nach unten!“
„Komm zurück!“, befahl Tolioro.
Sasi schwamm zum Ufer.
Tolioro stand bereits im Wasser. „Ich werde dir zeigen, wie du nach unten kommst!“
Mit diesen Worten packte er ihren Kopf und ihre Schulter und drückte sie nach unten. Einen Moment war Sasi zu überrascht, um zu reagieren. Dann spürte sie Schlamm in ihrem Gesicht. Luft! Sie brauchte Luft! Sasi versucht, nach oben zu kommen. Es ging nicht. Etwas Schweres stand auf ihrem Rücken und drückte ihren Körper unbarmherzig in den Teichboden. Sie geriet in Panik. Ihre Hände griffen wahllos nach rechts und links. Da, sie bekam eine Wurzel zu packen! Ein kräftiger Zug, eine Drehung ihren Körpers, und das Gewicht verschwand von ihrem Rücken. Hustend und prustend tauchte sie auf, mühte sich ans Ufer und blieb dort total erschöpft liegen. Jemand rief. Zwei Beine tauchten in ihrem Blickfeld auf. Beine in edelsteinbesetzten Sandalen. Tolioro. „Packt diese hinterhältige Dienerin! Sie hat mich beim Spiel ohne jeden Grund angegriffen und verletzt!“
Sasi schaute ungläubig hoch. Tolioro hatte eine blutende Schürfwunde am linken Arm. Er musste gegen einen der Ufersteine gefallen sein, als sie ihn von ihrem Rücken abschüttelte.
Da waren auch schon zwei der Gartendiener zur Stelle. Sasi wurde von kräftigen Händen gepackt und auf die Füße gestellt. „Was soll mit ihr geschehen, mein Herr?“, fragte der ältere Mann.
„Sie hat mich angegriffen, mich, ihren Herren, einen Sohn des königlichen Hauses Mehme! Gebt ihr fünfzig Peitschenhiebe!“
Beide Männer zuckten zusammen. „Fünfzig Peitschenhiebe überlebt sie nicht! Das wäre selbst für einen erwachsenen Mann zu viel!“, wagte der Mann einzuwenden.
„Na gut, dann die Hälfte!“, forderte Tolioro mit verkniffenem Gesicht. „Und ich werde die Ausführung der Strafe selbst überwachen!“
Die Männer brachten Sasi ohne weiteren Widerspruch zum Hof der Schreie und banden sie an einen der Strafpfosten. Sasi protestierte nicht. Ihr Wort stand gegen das des Kronprinzen. Wer würde ihr schon glauben? Vor ihr stand Tolioro und lächelte. Seine Zunge tanzte über seine Unterlippe. Das war das letzte Bild, das Sasi bewusst aufnahm. Dann schloss sie ihre Augen und wartete auf den Biss der Peitsche.
Iragana hörte sich interessiert an, was ihre Zofe über Tolioros neusten Streich berichtete. Tolioros kleine Dienerin hatte ihre Strafe knapp überlebt. Wie geschickt Tolioro die Sache so hingebogen hatte, dass er als der geschädigte Teil erschien! Hoffentlich würde er später als Herrscher genauso geschickt die Schwächen seiner Gegner finden.
*
Kai war geübt darin, die Schwächen ihrer Opfer zu finden, und nutzte sie gnadenlos aus. Sie merkte sofort, dass Jokons größte Angst war, die Herrschaft über seinen Körper zu verlieren. Kai perfektionierte ihren Bindezauber und erlaubte ihm nicht die kleinste Bewegung. Sie genoss es, im Spiegel Jokons Furcht und Frustration zu spüren. Geradezu panisch wurde er, als Kai auch seine Atmung blockierte und ihm erst einen Atemzug gestattete, als er kurz vor einer Ohnmacht stand.
Oft arbeitete sie mit Tur zusammen. Tur blieb meist als Zuschauer im Hintergrund, gab aber Kai Tipps, wie sie ihre Opfer noch mehr quälen konnte. Zudem war Tur ein Spezialist darin, die widerwärtigsten Spiegel zu finden und gezielt einzusetzen. Jokon wusste nicht, wen von beiden er mehr fürchtete. Kai war grausam, Tur war gemein. Ihre Spiegel waren wie ihre Besitzer. Jokon lernte bald, beim ersten Kontakt mit einem Rufzauber zu erkennen, wer von den Roten ihn rief. Turs Spiegel fühlte sich eklig an, wie Schneckenschleim mit Spinnweben. Nach jedem Kontakt hatte er stundenlang das Bedürfnis, sich wieder und wieder zu waschen. Kais Spiegel waren wie Glassplitter, hart, rau, scharf und schmerzhaft. Sie versetzten ihn in einen Zustand zerschlagener Erschöpfung, durchsetzt mit Attacken panischer Angst.
Meister Gos Schlangenspiegel verlor seinen Schrecken. Nach seinen Besuchen bei ihm fühlte Jokon sich lediglich sehr erschöpft. Auch Nao arbeitete sachlich und pragmatisch mit ihm. Natürlich würde ihn auch Nao jederzeit in einen Spiegel verwandeln können. Trotzdem fühlte Jokon sich bei Nao fast geborgen. Der junge Mann hatte eine selbstsichere Art, die ihn vor allen anderen auszeichnete. Was machte Nao so anders?
Jokon erinnerte sich an Aleti. Die Diener wussten so allerhand über die Bewohner des Hauses. Er suchte Aleti auf, redete ein wenig mit ihr über ihre alte Heimat, und fragte sie geschickt nach Nao aus. Aleti war nur zu gerne bereit, über Nao zu plaudern. Wie viele der Dienerinnen war sie in den gut aussehenden, umgänglichen jungen Mann verliebt. Offenbar war Nao ein Adeliger, sogar ein hochrangiger, einer aus dem altehrwürdigen Hause Kirasa-Poetoni. Man hatte ihn in Meister Gos Dienste gegeben, nachdem Go dem Königshaus einen besonderen Dienst erwiesen hatte. Keiner wusste Genaueres, aber man munkelte, es habe sich um eine Abstimmung gegen eine von der Kristallkammer und vielen Adeligen befürwortete Änderung der Thronfolge gehandelt.
Auch über Kai und Tur hatte Aleti einiges zu sagen, allerdings war wenig davon schmeichelhaft. Nur Meister Gos ausdrücklicher Befehl, die Diener arbeitsfähig zu lassen, schütze sie einigermaßen vor der Willkür der beiden Roten. Trotzdem zogen es die Diener vor, den Roten nicht aufzufallen. Das Haus hatte tausend Augen und Ohren. Die Diener wussten nur zu genau, was hinter den Türen des roten Flures passierte. Sie wussten, was im Turmzimmer der Roten hinter den Wandbehängen hing. Sie wussten, was die Roten mit den jüngeren Schülern taten. Sie waren es, die hinterher die Weinenden trösteten. Sie waren es, die die Totenfeuer anzündeten. Und sie alle waren selbst einmal Schüler gewesen.
Isito fiel es als erstem auf. Die Blauen wurden plötzlich dezimiert. Zuerst die jungen Frauen. Gavila war die einzige weibliche Blaue, die am Ende der zweiten Regenzeit nach Jokons Aufstieg zu den Grünen noch da war. Von den jungen Männern blieben nur Marte, Tasao, Pereon und Krudion übrig. Marte und Pereon hatten nach ihrem letzten Besuch bei Meister Go ihren Namen geändert. Sie trugen feuerrote Schärpen, bestanden darauf, nur noch Mar und Per genannt zu werden, und verkündeten stolz, dass sie jetzt Anwärter auf den Adepten-Status seien.
Gavila wirkte zunehmend nervös. Wie Jokon bei seinen seltener werdenden Besuchen in ihrem Zimmer feststellen konnte, hatte Gavila aufgehört, an ihren Bildern zu arbeiten. Jokon begann, sie zu beobachten. Sie zog sich immer häufiger auf das Dach zurück, wo sie sich nur hinlegte und in den Himmel sah.
Mar und Per dagegen wurden sehr launisch. Ihr Unterricht war den einen Tag locker und leicht, den nächsten Tag langweilig und unverständlich. Mal lernten sie selbst wie besessen, mal schickten sie nur nach einigen Dienerinnen, um sich die Zeit zu vertreiben. Es waren nicht nur Dienerinnen, nach denen sie riefen. Sie riefen auch die weiblichen Grünen.
Auch Krudion beteiligte sich an diesem speziellen Zeitvertreib. Er hatte es dabei besonders auf Thealina abgesehen. Krudion schien es zu genießen, dass sie ihn widerwärtig fand und nur unter äußerstem Widerstreben gehorchte. Mehr als einmal kehrte Thealina nachts nicht in ihr Zimmer zurück. Mehr als einmal erschien sie am nächsten Morgen mit verweinten, angeschwollenen Augen im Unterricht, die dünnen Arme gezeichnet von blauen Flecken.
Marade sah sich das eine Zeitlang an, dann nahm sie Thealina unter ihre Fittiche. Sie versorgte ihre Verletzungen, hörte sich ihre unzusammenhängenden Berichte an und sprach ihr Mut zu. Schließlich redete sie mit Meister Go. Danach wurde Thealina zwar immer noch zu Krudion gerufen, aber sie hatte hinterher keine blauen Flecken mehr. Dafür begannen auch Mar und Per, Thealina öfters zu rufen.
Jokon, dem das ganze Geschehen rätselhaft war, fragte sie schließlich direkt bei ihrem geheimen Unterricht. Thealina brach sofort in Tränen aus. Die Mädchen im Raum sahen sich aus wissenden Augen an. Gavila nahm es auf sich, den schwierigen Sachverhalt zu erklären.
„Ich habe euch doch schon gesagt, dass auch wir Blauen eure Energie anzapfen können. Das klappt natürlich am besten mit einem Spiegel. Aber es gibt auch andere Methoden. Bei einer starken emotionalen Beziehung kann der stärkere Partner die Energie des schwächeren ausnutzen. Das wird noch verstärkt durch eine körperliche Vereinigung.“
„Ich bezweifle, dass Thealina Krudion liebt“, versetzte Jokon sarkastisch. „Vermutlich würde sie eher den alten Karados lieben wollen als Krudion.”
„Liebe ist nicht notwendig. Nur Gefühle. Hass ist genauso gut wie Liebe, vielleicht sogar noch besser.“
Jokon ging ein ganzer Lichterspiegel auf. Deshalb triezten und quälten Kai und Tur ihn so! Ohne es zu wollen, hatte er ihnen durch seine wütende Reaktion beste Energie geliefert. Sie ernteten seinen Hass und seine Verzweiflung. Und so wie Kai und Tur für ihn der größte Horror waren, so war es Krudion für Thealina.
„Warum ausgerechnet jetzt? Warum nicht schon früher, und warum wollen alle ausgerechnet Thealina am häufigsten?”
„Thealina ist diejenige unter den Grünen Mädchen, die in den letzten Monden am stärksten geworden ist. Von ihr können sie die jetzt meiste Energie ernten.“ Einen Moment sah es so aus, als wollte Gavila nicht weiterreden, aber dann fuhr sie fort:
„Es ist ja nicht zu übersehen, dass nur noch wenige von uns Blauen übrig sind. Die anderen ...“– sie schauderte – „... die anderen sind alle zu Spiegeln geworden. Meister Go hat uns persönlich aussortiert. Wenn die Lehrzeit der Blauen zu Ende ist und sie zu Roten Adepten aufsteigen können, prüft er uns. Die schwächsten bleiben, als Ausbilder für die neuen Blauen. Aus den Durchschnittlichen macht er seine Seelenspiegel. Die drei besten steigen als Anwärter auf und dürfen ihre Namen kürzen. Sie müssen sich am ersten Mond nach der neuen Regenzeit mit den Roten im Zweikampf messen. Der Sieger des magischen Duells führt den Posten des Roten Adepten fort. Der Verlierer ...“ – wieder schauderte sie – „... wird ebenfalls zum Spiegel. Zu einem Seelenspiegel der Roten. Und in den letzten Zweikampfzeiten hat keiner der Blauen es geschafft, einen Roten zu besiegen.“
Jokon wusste einen Moment nicht, warum das soviel schlimmer sein sollte, als zu einem Spiegel Meister Gos zu werden, aber dann dachte er an das Gefühl, das er beim Kontakt mit Turs und Kais Spiegeln bekam. Ein Blick in die Runde bestätigte ihn. Alle sahen blass und bedrückt aus.
Tevi fragte: „Es sind drei Rote. Kämpfen die alle? Dann muss Meister Go doch noch einen Blauen mehr auswählen.“
„Mmm...“
„Oh!“ Tevi begriff. Gavila fürchtete, selbst ausgewählt zu werden. Zwei Rote Männer, bislang nur zwei männliche Anwärter, eine Rote Frau ...
Tevi fiel noch etwas andres auf. „Wenn Blaue und Rote die Mädchen und die jungen Frauen beschlafen, warum kriegen die keine Kinder?“
„Hast du irgendwo in diesem Haus jemals auch nur ein Baby gesehen?“, fragte Thealina zurück. Sie sah unruhig zu Gavila, die ihr nur zunickte. Mit trockenem Schlucken fuhr sie fort: „Hier ist noch nie ein Kind geboren worden. Die Spiegel saugen freie Energien auf. Immer. Die größeren werden zugedeckt, damit sie den Lebenden nicht zuviel Energie entziehen. Überall im Haus hängen kleine Spiegel. Überall um das Haus verteilt sind kleine Spiegel, eingelassen in der Mauer. Sie wirken wie Sammler. Dazu kommen die großen Spiegel im Turm. Kein ungeborenes Leben ist stark genug, den Sog der Spiegel zu überstehen. Marade hat es mir erklärt. Niemand in diesem Haus wird jemals ein Kind haben. Keine von uns. Keiner von euch wird jemals ein Kind zeugen.“
Sie brach ab.
Jokon war wie vor den Kopf geschlagen. Im Dorf hatte es als höchste Gnade der Göttin gegolten, Kinder zu bekommen, denn nur durch Kinder war sichergestellt, dass die Seelen der Ahnen vor dem Umherirren nach dem Tode geschützt wurden. Wer keine Kinder hatte, wessen Asche keine anderen nahen Verwandten nach dem Tod einen Platz in ihren Hauswänden anbieten konnten, der war verflucht, ein wandernder Geist zu werden, und wurde von allen bemitleidet.
„Und das“, fügte Gavila hinzu, „ist auch der Grund, weshalb Meister Go kleine Kinder, die er in sein Haus bringt, sofort verbraucht. Sie würden ohnehin sterben. So hat er noch den größten Nutzen von ihnen.“
Jokons Eingeweide zogen sich zusammen. Er dachte an die kleine Lira. An ihre großen runden Augen, ihr Weinen, daran, wie Jacitin sie auf dem Wagen gehalten und in den Schlaf gewiegt hatte. Nutzen. Sie waren alle nichts anderes als Nutzen. Material, das verbraucht wurde. Er stand auf und ging wortlos hinaus.
Es war nicht Gavila, sondern Tasao, der zum nächsten Anwärter wurde. Mit stolzgeschwellter Brust und roter Gürtelschärpe kam er vier Tage später von einer Sitzung mit Meister Go zurück und verkündete seinen neuen Namen: Tas. Gavila fiel ein zentnerschwerer Felsbrocken vom Herzen. Krudion dagegen guckte scheel. Es war schon drei Jahre länger bei den Blauen als Tas. Hätte diese Ehre nicht ihm zugestanden?
Am nächsten Tag rief Meister Go die ganze Gruppe der rebellischen Grünen zusammen mit Gavila in den Turm. Das war noch nie zuvor passiert. Jokon traute sich nicht, zu den anderen hinüberzusehen, und ihnen schien es ähnlich zu gehen. Wie ein Haufen armer Sünder standen sie im Halbkreis vor Meister Go.
Der schritt ein paar mal auf und ab und blieb dann vor ihnen stehen. „Ihr habt euch also zusammengetan. Glaubt nicht, dass ich nichts bemerkt habe. Die Roten Adepten konntet ihr austricksen. Mich nicht.“
Jokon wünschte sich, er könne im Boden versinken. Würde der Meister sie in seinem Zorn alle in Spiegel verwandeln?
Meister Go fuhr fort: „Ihr seid die besten in eurer Gruppe. Die fähigsten Zauberer, die klügsten Denker. Es wäre eine Verschwendung, wenn ich euch dafür bestrafen würde. Ich befördere euch alle zu Blauen.“ Er lachte leise, aber es war kein freundliches Lachen. „Glaubt nicht, dass ich euch damit einen Gefallen tue. Als Blaue seid ihr unmittelbar die zukünftige Konkurrenz meiner Adepten. Sie werden euch jetzt besonders ins Auge fassen und beobachten. Sie werden euch herausfordern. Ihr werdet euch untereinander herausfordern.“
Er machte einen Schritt auf Gavila zu, hob ihren Kopf mit einer Hand an und sah ihr in die Augen. „Die neuen Blauen werden dich herausfordern!“
Dann wandte er sich wieder an die anderen. „Wenn ihr geschickt seid, werdet ihr die kommenden Monde überleben und eines Tages selbst unter den Roten sein. Wenn nicht, bekommt der Turm ein paar sehr gute, neue Spiegel.“
Wie damals im Dorf hob Jokon den Kopf, um in die nachtschwarzen Augen des Meisters zu sehen. Er musste den Kopf nicht mehr in den Nacken legen. Meister Go war nur noch einen halben Kopf größer als er. Aber der Schrecken, den er verbreitete, war weitaus bedrohlicher geworden.
Jokon, Tevi, Thealina und Isito zogen in den Blauen Flur um. In schneller Folge ernannte Meister Go in den nächsten Tagen noch sechs weitere Grüne zu Blauen: Sacan, Kobo, Miramee, Tirana, Migra und Sistero. Krudion war jetzt der dienstälteste Blaue nach den Adepten-Anwärtern und bildete sich mächtig etwas darauf ein. Offiziell wurde er dadurch zu ihrem Leiter. Die Organisationsarbeit machte aber alleine Gavila. Sie teilte den Unterricht für die Grünen ein. Sie sorge dafür, dass Marade die Listen für die Ausstattung ihrer Zimmer bekam. Sie setzte die Experimente für den eigenen Unterricht der Blauen an und schrieb die Berichte, die Meister Go erwartete. Krudion war unfähig. Er kommandierte herum, genoss das Gefühl, jeden nach seiner Pfeife tanzen zu lassen und spielte weiterhin den Boten für die Roten Adepten. Das war sein ganzer Arbeitsbeitrag.
Die Adepten-Anwärter erhielten in dieser Zeit Einzelunterricht bei Meister Go. Für die Blauen fiel der Unterricht aus. Es roch nach weiteren Veränderungen. Die Luft knisterte förmlich vor Spannung.