Читать книгу Königsfalke - Chris Svartbeck - Страница 6
Fortschritte
ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Jokon mit einem Kopf, der ihm schier zersprang. Er schaffte es gerade noch zum Abort, bevor er sich erbrach. Waschen erwies sich als schwierig. Er konnte kaum stehen. Gerade wollte er das Essen ausfallen lassen und wieder ins Bett steigen, da fiel sein Blick auf den Schrank, der wie bei seiner Ankunft vor fünf Regenzeiten weit offen stand. Die Robe darin war grün.
Endlich! Er durfte die Klasse der Anfänger verlassen und in den oberen Flur ziehen! Jokon war so erleichtert, dass er sich sofort anzog. Kein Gedanke mehr, auf das Essen zu verzichten. Er musste den andern unbedingt zeigen, dass er jetzt auch ein Grüner war.
Mit immer noch etwas wackligen Beinen, aber strahlendem Gesicht erschien Jokon am Frühstückstisch. Neidische Blicke der anderen Grauen trafen ihn. Die Grünen lachten über seinen Eifer und winkten ihn in ihre Mitte. Auch die Diener lächelten. Wenn ihr Lächeln etwas weniger herzlich ausfiel und ihre Augen mitleidig blicken, fiel es Jokon nicht auf.
„Endlich”, sagte Tevi, der schon seit fünfzehn Monden bei den Grünen war. „Jetzt können wir unseren Unterricht wieder zusammen verbringen!”
Das Leben als Grüner war interessanter. Viel interessanter. Die Grünen hatten eine sehr viel größere Bibliothek zu ihrer Verfügung. Sie durften die Grauen unterrichten. Sie durften die Diener herumkommandieren. Und sie bekamen neuen Unterrichtsstoff.
Jokon sah sich seine neuen Kameraden an. Kabato, der nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, solange Jokon noch ein Grauer und er schon ein Grüner war, erinnerte sich offenbar plötzlich daran, dass sie aus dem gleichen Dorf kamen. Tevi war während der langen Jahre hier sowieso zu seinem besten Freund geworden. Nudan, Kuron, und Isito kannte er bislang nur als Lehrer. Das gleiche galt für zwei der Mädchen, Thealina und Pacatin. Die hübsche Tisca dagegen war ihm schon während zweier gemeinsamer Regenzeiten bei den Grauen sehr sympathisch gewesen. Sie galt als Spezialistin für elegante, sehr wirkungsvolle Beschwörungen.
Es gab zurzeit ungewöhnlich wenige Grüne, viele Zimmer auf dem grünen Flur standen leer. Dafür kam ein ganzer Schwung neuer Grauer, mehr als ein Dutzend, als Meister Go von seiner nächsten Reise zurückkam. Die Grünen hatten zu tun, um die neuen Schüler anzulernen. Jokon kam nicht dazu, sich Gedanken zu machen. Er merkte bald, dass Unterricht geben schwieriger war, als Unterricht zu erhalten. Besonders die Grauen, die älter waren als er, schienen einen Grünen, der erst zwölf Regenzeiten gesehen hatte, nicht ganz ernst zu nehmen. Jokon war verärgert. Wenn die ihn nicht als vollwertigen Lehrer akzeptierten, dann würde er dafür sorgen, dass sie wirklich nichts lernten!
Er fand schnell heraus, dass es den anderen Grünen nicht besser ging als ihm. Sie kannten ja selbst kaum mehr als den Stoff, den sie nun den Grauen beibringen sollten. Das Einzige, was ihnen etwas Selbstsicherheit gab, war ihre Zauberkunst. Denn jetzt lernten sie richtig zaubern.
Die erste Stunde fand Jokon total verwirrend.
Alle Grünen hockten zusammen in ihrem Klassenraum, einem großen Saal ohne Möbel, nur ausgelegt mit großen, dicken Matten. Auf jeder Matte stand eine schwarze Tonschale, gefüllt mit Schwarzwasser.
Der Blaue Kunto war sein erster Lehrer. Ohne lange Vorrede schmetterte er nur ein „Konzentrieren!“ in den Raum, als er mit wehender Robe hereinfegte. Brav senkten alle ihre Köpfe über die schwarzen Schalen. Jokon machte es ihnen nach, dabei besorgt nach rechts und links sehend, um sicher zu gehen, dass er es auch richtig machte. Da fühlte er auch schon Kuntos breite Hand in seinem Nacken.
„Nicht zappeln!“, befahl der mit dröhnendem Organ. „Nur stillhalten und in die Schale sehen. Das ist dein erster Sichtspiegel. Du sollst darin etwas sehen. Konzentrier dich!“
„Was soll ich denn sehen?“, fragte Jokon hilflos.
„Irgendwas. Was immer du sehen willst. Die Küche. Dein Zimmer. Oder meinethalben die Ochsenställe. Konzentrier dich einfach fest darauf.“
Am Ende der Stunde tanzten Jokon Sterne vor den Augen und sein Hinterteil fühlte sich durchgesessen an, aber er hatte nichts gesehen.
„Das macht nichts“, tröstete ihn Tevi, „die Sichtmagie ist anfangs immer schwer. Aber du wirst sehen, in ein paar Tagen geht es schon!“
„Gibt es hierfür keine Zauberformel?“, fragte Jokon.
„Die Zauberformel ist deine Konzentration”, erklärte Tevi. „Wirksam sind nur deine Gedanken, die du in einen Spiegel versenkst wie in einen Brennpunkt.“
Jokons Erinnerung flammte auf. „Meister Go hat aber doch auch einen Zauberspruch aufgesagt, als er damals den Spiegel in eine Quelle verwandelte!“
„Nur leerer Hokuspokus“, versetzte Tevi. „Solche Sprüche haben wir doch schon bei den Grauen gelernt. Und haben sie etwa was gebracht? Die sind nur dazu da, mehr Eindruck zu schinden!“
„Nicht ganz“, mischte sich Thealina ein, „wenn man so einen Spruch in- und auswendig kann, hilft er einem, sich schneller und besser zu konzentrieren. Aber Tevi hat Recht, man braucht sie nicht wirklich!“
Jokon wurde nachdenklich. Er hatte also Recht und Unrecht zugleich gehabt, als er während der ersten Regenzeiten seiner Ausbildung den Verdacht hegte, man wolle den Grauen nicht wirklich die Zauberkunst beibringen.
Insgesamt war der Unterricht der Grünen zwar anstrengender, aber auch um einiges befriedigender. Jokon traf alte Bekannte wieder, wie Marte, der sein erster grüner Lehrer gewesen war und ihn jetzt als Blauer wieder in Rufzaubern unterrichtete. Es gab neue Fächer. Zu Rufzauber, Besprechungen und Beschwörungen kamen Sichtzauber, Geschichte der Zauberei, Kräuterkunde und medizinisches Wissen dazu. Nicht, dass Jokon auch nur ein einziger Zauber wirklich glückte. Wenn überhaupt etwas passierte, dann garantiert das Falsche. Jokon rief einen Hund – aber das Einzige, was zu ihm kam, waren dessen Flöhe. Jokon beschwor eine kühlende Brise – ein heißer Windstoß fegte durch den Saal und wirbelte alle Papiere durcheinander. Nichts konnte er richtig. Die Sichtzauber gelangen ihm überhaupt nicht. Alles, was er in der Tiefe der Wasserschale sah, waren seine eigenen braunen Augen hinter den wirren schwarzen Locken.
Schließlich erbarmte Gavila sich seiner, eine Blaue, die zwei Regenzeiten älter war und ihrem Akzent nach aus dem Norden kam. Nach einer weiteren erbärmlich langen, langweiligen Unterrichtsstunde bei Kunto, als Jokon wieder mit einem Gefühl des totalen Versagens den Saal der Grünen verließ, stand Gavila auf dem Flur. Mit spöttischen Blitzen in ihren hellgrauen Augen neckte sie ihn: „Na, Meister Taugtnichts, war die Sicht wieder vernebelt?“
Jokon zuckte nur beschämt mit den Schultern. „Es will einfach nicht klappen.“
„Komm.“
Gavila drehte sich um und eilte zur Treppe, ohne sich weiter nach ihm umzusehen. Mit einem Seufzer trottete Jokon hinterher.
Gavila ging mit ihm direkt in ihr Zimmer. Jokon duckte sich erschrocken, als etwas beim Hereingehen seine Haare streifte. Vorsichtig schielte er nach oben. Eine lange Stoffbahn hing von der Decke herab. Gavilas ganzes Zimmer hing voll von diesen Stoffbahnen. Es war ein großes Zimmer, mehr als doppelt so groß wie die Zimmer der Grünen. Auf dem Boden lag ein dunkelblauer, warmer, flauschigweicher Teppich. An einer Wand stand ein großes Bücherbord. Das Zimmer hatte zwei große Fenster. Und direkt vor dem ersten stand eine merkwürdige Konstruktion, auf die eine Stoffbahn gespannt war.
„Sieh´dich ruhig um”, forderte Gavila ihn freundlich auf.
Jokon besah sich die Konstruktion näher. Die Stoffbahn war teilweise bemalt, und vor der Konstruktion lagen auf einem kleinen Tischchen Pinsel und Tuschblöcke. Die Zacken auf der Stoffbahn bildeten Berge. Eine Landschaft. Jokon sah noch einmal zu den herabhängenden Stoffbahnen. Sie alle hatten das gleiche Motiv. Hohe, kahle, abweisend wirkende Berge, grau, stahlblau, nach unten in braun und grün auslaufend. Einige hatten auf ihrer Spitze hellblau-weiße Flächen.
Gavila war hinter ihn getreten. „Das ist meine Heimat,“sagte sie. Unüberhörbar schwang das Heimweh in ihrer Stimme. „Das sind die Himmelsberge, und dort, das sind die Drachenzähne, und da hinten, da habe ich die Nordmauer gemalt. Natürlich sind sie in Wirklichkeit noch viel schöner ...“
Ihre Stimme verklang. Jokon drehte sich um. Gavilas Gesicht war weiß und spitz. Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Aber sie fing sich sofort wieder. „Genug davon. Du bist nicht hier, um die Berge zu lernen, sondern um Sichtmagie zu üben.“
„Du unterrichtest doch sonst keine Sichtmagie“, sagte Jokon.
„Stimmt, aber ich bin trotzdem sehr gut.“ Ein wenig wehmütig fuhr sie fort: „Was glaubst du, wie es mir sonst gelungen wäre, meine Berge so genau zu malen?“
Sie zog ihn in den Bereich zwischen den beiden Fenstern.
„Erste Lektion: wenn du Sichtmagie ausübst, arbeitest du besser mit indirektem Licht.“
Auf dem Boden stand eine schwarze Schale, gefüllt mit einer silbernen Flüssigkeit. Jokon steckte fasziniert einen Finger hinein. Die Flüssigkeit war ziemlich zäh und kalt. Als er den Finger wieder herauszog, blieb nichts daran haften. „Was ist das?“
„Das ist Quecksilber. Es leitet den Zauber sehr viel besser als Schwarzwasser. Deshalb benutzt man es normalerweise nicht für Anfänger. Aber ich glaube, damit kannst du es eher lernen.“
Jokon setzte sich vor die Schale. „Was soll ich anvisieren? Die Küche? Oder mein Zimmer? Oder die Ochsenställe?“
Gavila brach in schallendes Lachen aus. „Hat Kunto euch das sehen lassen? Kein Wunder, dass ihr so miserable Fortschritte macht! Nein, das Wichtigste am Anfang ist, dass man etwas zu sehen versucht, was einem sehr wichtig ist. Wahrscheinlich hat Kunto die Küche ausgesucht, verfressen, wie er ist, aber trotzdem ... Nein, Jokon, du brauchst etwas, was du liebst, etwas, an dem dein Herz hängt. Nur dann ist die Kraft bereit, für dich zu arbeiten. Später, wenn du diesen Zauber fast im Schlaf beherrschst, kannst du auch unwichtige Sachen sehen. Aber nicht gleich am Anfang! Was willst du wirklich sehen? Was willst du mit aller Kraft wissen?“
Als Jokon den Mund aufmachte, winkte sie ab.
„Ich will es gar nicht wissen. Ich muss es auch nicht wissen. Wichtig ist nur, dass du dich darauf ganz fest konzentrierst. Und jetzt versuch´ es!”
Jokon sah in die Schale. Seine Gedanken wirbelten. Was wollte er sehen? Sein Zimmer? Tevi? Kabato? Er erlaubte seinen Gedanken, einen Weg zu gehen, den er bislang fest in sich verschlossen hatte. Zurück, weiter zurück. Viel weiter. Nach Hause. Sein Zuhause, seine Eltern, das war es, was er wirklich sehen wollte. Verzweifelt schloss er die Augen, als die ersten Tränen fielen. Es war ihm peinlich, vor einem Mädchen zu weinen, noch dazu vor einer Blauen, aber er konnte nicht mehr an sich halten. Unerbittlich tropften die Tränen. In seinen Ohren dröhnte das Blut. Der Kopf schwirrte ihm. Plötzlich erinnerte er sich daran, was das Schwirren bedeutete. Er riss die Augen auf. Durch einen Tränenschleier starrte er ungläubig auf das Bild in der Schale. Es sah in das Haus seiner Eltern. Seine Mutter saß dort, mit Mia auf dem Arm, neben ihr ein fremdes Mädchen. Seine Mutter sah älter aus. Tiefe Falten zogen durch ihr Gesicht, an die Jokon sich nicht erinnern konnte. Mit einem Schock begriff er. Die Jahre, die vergangen waren – das war nicht Mia, die seine Mutter in den Schlaf wiegte! Das war ein anderes, jüngeres Kind, ein Geschwisterchen, das er nie kennengelernt hatte. Und das fremde Mädchen neben Mutter, das war Mia, nur das Mia jetzt bereits sechs Regenzeiten zählte!
Jokon schielte zur Seite. Aber Gavila stand nicht mehr neben ihm. Sie war zu der Konstruktion gegangen und starrte auf das unfertige Bild. Unendlich dankbar sah Jokon wieder in die silberglänzende Schale. Für einen ganz, ganz kleinen Moment war es, als ob er wieder Zuhause wäre.
Es schien ihm nur ein kurzer Augenblick vergangen zu sein, als Gavila seine Schulter rüttelte. „Aufhören! Komm zurück, Jokon, für heute hast Du genug gesehen!“
„Nur noch ein bisschen!“, bettelte Jokon.
„Nein, das ist zu gefährlich. Die Magie bezieht ihre Kraft aus dir. Wenn du zu lange mit einem Spiegel arbeitest, saugt er dich aus, und du kannst hinterher längere Zeit gar nichts mehr mit Zauberei machen!“
Irgendetwas rumorte bei ihren Worten in Jokons Hinterkopf, aber er fand nicht die Energie, das genauer zu formulieren. Er fühlte sich tatsächlich müde und ausgelaugt. Nicht so schlimm wie nach dem Besuch bei Meister Go, aber immer noch genug, dass er nur noch in sein Bett wollte.
Gavila schien das zu wissen. Sie machte keine Anstrengungen mehr zu irgendeiner Art von Unterhaltung, sondern schob ihn nur in Richtung Tür und hinaus auf den Flur. Beinahe schlafwandelnd fand Jokon in sein Zimmer zurück.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß Tevi grinsend auf seiner Bettkante. „Na du schräger Vogel, du hast es ja faustdick hinter den Ohren! Gerade erst in unserer Gruppe angefangen und schon ein Techtelmechtel mit einer hübschen Blauen!“
Jokon begann automatisch, zu protestieren, aber Tevi lachte nur. „Gib dir keine Mühe! Du siehst gut aus, du bist jünger als sie, du bist ein Grüner, klar, dass Gavila dich in ihr Zimmer ruft. Die anderen Blauen wollen das Blassauge ja nicht. Sag, wie war sie?“
Jokon lief flammendrot an. Wieder machte er den Mund auf, um zu protestieren, schloss ihn aber gleich wieder. Die Wahrheit war ja noch viel peinlicher. Er hatte geweint wie ein kleines Kind, geweint vor Heimweh, vor einem Mädchen! „Es ist nichts gewesen“, wehrte er nur schwach ab. Nicht einmal in seinen eigenen Ohren klang das überzeugend.
Beim Frühstück neckten ihn selbst die Küchenmägde mit seiner neuen Eroberung. Jokon war das verdammt peinlich, besonders, als Gavila in den Essraum kam und von einigen eindeutigen Pfiffen empfangen wurde. Beschämt versuchte er, sie nach dem Essen abzupassen. Aber Gavila ging mit den anderen Blauen zusammen hinaus, sodass er keine Chance bekam.
In der nachmittäglichen Pause fasste er seinen ganzen Mut zusammen und ging zu Gavilas Zimmer. Zweimal hob er die Hand, um anzuklopfen, beide Male verließ ihn sein Mut wieder. Aber als er sich gerade umdrehte, um wegzugehen, öffnete sich die Tür. „Was willst du?“, fragte Gavila gleichgültig.
Jokon spürte, dass er erneut feuerrot wurde. „Mich entschuldigen“, brachte er mühsam heraus.
„Wofür?“
Große Göttin, das wurde schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. „Weil die anderen denken ... weil ich den anderen nicht gesagt habe ... weil ich ... also, ich hab´s richtig vermasselt, und die denken jetzt alle das Falsche.“
In Gavilas Augen blitzte etwas auf. „So, denken die. Na, dann sollen sie noch etwas mehr denken. Komm rein!“ Sie zog Jokon in ihr Zimmer und schloss die Tür mit einem sehr lauten Knall.
Irgend jemand kicherte auf dem Flur.
„Was hast du ihnen denn jetzt gesagt?“, wollte Gavila wissen.
„Eigentlich gar nichts“, brachte Jokon verlegen heraus, „die glauben nur, dass da was zwischen uns läuft, und ich konnte ihnen einfach nicht sagen, was wirklich passiert ist.“
„Ist auch besser so. Ich glaube nicht, dass die anderen Blauen es gut fänden, wenn sie wüssten, was ich dir gezeigt habe. Eigentlich ist das Sehen mit dem Quecksilberspiegel schon eine Übung für Fortgeschrittene. Kunto wäre vermutlich stinksauer, wenn er wüsste, was ich getan habe.“
„Ist es verboten, Grüne mit einem Quecksilberspiegel arbeiten zu lassen?“, wollte Jokon wissen.
„Nein, aber gefährlich. Wenn ein Zauberer zu schwach ist, einen Spiegel zu kontrollieren, kann der Spiegel ihn ausleeren.“
Wieder rumorte es in Jokons Erinnerungen, vage, ohne feste Konturen.
„Ich habe dich beobachtet“, fuhr Gavila fort. „Du bist einer der stärksten in deiner Gruppe. Das ist auch der Grund dafür, dass du so schlecht mit dem Schwarzwasserspiegel arbeiten kannst. Das Schwarzwasser ist einfach nicht speicherfähig genug, um deine Kräfte richtig zu bündeln.“
Sie ging zu ihrem Schrank und suchte etwas heraus. Zufrieden streckte sie ihm einen kleinen Gegenstand entgegen. Es war ein Ring aus einem leicht durchscheinenden schwarzen Material. „Das ist Obsidian, ein Vulkanglas. Wenn du wieder mit dem Schwarzwasserspiegel arbeiten musst, lege diesen Ring hinein und konzentriere dich nur auf den Ring. Er wird deine Kräfte besser bündeln.“
„Vielen Dank“, murmelte Jokon verwirrt. Sie stand jetzt dicht vor ihm, ihre grauen Augen nur zwei Finger über den seinen, kaum eine Handbreite von ihm entfernt. „Warum hilfst du mir?“
Gavila trat einen Schritt zurück. „Weil ich Lust dazu habe“, antwortete sie schnippisch und drehte sich um. „Du kannst gehen.“
„Und die anderen, was soll ich denen sagen?“
„Nichts. Lass´sie denken, was immer sie denken wollen. Es könnte mir sogar Spaß machen, sie etwas hinters Licht zu führen!“ Gavila war zum Fenster gegangen und sah hinaus. Ohne sich noch einmal umzudrehen, fügte sie hinzu: „Sag ihnen überhaupt nichts. Das ist keine Bitte. Das ist ein Befehl!“
Jokon machte, dass er aus dem Zimmer kam, verwirrt, aber mit einer Trophäe, mit der er nicht gerechnet hatte. Tief in seiner Tasche fühlte er den Ring, glatt und warm. Er schien zu pulsieren, wie sein Herzschlag.
Zunächst nutzte Jokon seine frisch erworbenen Fähigkeiten, um jeden Abend einen Blick nach Hause zu tun. Er hatte sich einen eigenen kleinen Schwarzwasserspiegel gemacht, mithilfe von etwas Kerzenruß in einer Wasserschale, in die er den Ring hineinlegte. Es war wie eine Sucht. Er sah seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister, sein Dorf. Und er fühlte ein nahezu überwältigendes Heimweh. Gavila merkte, was in ihm vorging, und rief ihn wieder zu sich. Irgendwie schien sie zu wissen, welchen Sichtzauber Jokon gebraucht hatte.
„Du musst damit aufhören!“, befahl sie. „Du machst dich kaputt, wenn du immer wieder nach Hause schaust!“
„Aber du tust es doch auch!“
„Das ist etwas anderes. Ich sehe nur meine Berge. Die Berge sind ewig. Sie werden sich nie verändern. Sie werden immer so sein, wie ich sie in Erinnerung habe, und irgendwann werde ich sie wiedersehen. Aber ich sehe nicht mehr nach meiner Familie. Für meine Familie bin ich tot. Sie leben ihr Leben weiter, ohne mich. Ich werde nie wieder zu ihnen gehen können. Und käme ich zurück, würde ich nie wieder zu ihnen gehören. Glaube mir, es ist besser, wenn du deine Familie nicht mehr siehst!”
An diesem Abend legte Jokon den Ring nicht in die Schwarzwasserschale. Er schlief unruhig. Auch die nächsten zwei Tage versuchte er keinen Sichtzauber nach Hause, obwohl es ihm sehr schwer fiel. Tevi bat ihn, eine besonders schwierige Stelle im Astrologie-Buch mit ihm durchzugehen. Der Blaue Pereon übte einen interessanten Illusionszauber mit ihnen. Am dritten Tag stellte Jokon abends fest, dass er den ganzen Tag nicht an Zuhause gedacht hatte. Irgendwie war seine Familie in den Hintergrund getreten. Es schien ihm einfach wichtiger, die Zauberkunst zu lernen, als seinem Vater beim Hacken der Felder und seiner Mutter beim Essenkochen zuzusehen. Da wusste er, dass Gavila recht hatte. Die Erinnerungen schwächten ihn nur und lenkten ihn unnütz ab. Es war eine Schwäche, die er sich hier nicht leisten konnte. Mit Feuereifer konzentrierte er sich wieder auf seine Studien.
Jokon entdeckte bald, dass der Ring nicht nur seine Fähigkeiten beim Sichtzauber verbesserte. Welche Art von Zauberkunst auch immer er versuchte, es klappte viel besser, wenn er den Ring vor seine Augen hielt und sich dann konzentrierte. Er übte heimlich in seinem Zimmer, denn er wollte nicht in die Verlegenheit kommen, den anderen oder, Göttin behüte, eventuell sogar den Blauen erklären zu müssen, woher der Ring kam. Schon bald stellte er fest, dass er den Ring nicht unbedingt vor seine Augen halten musste. Es reichte, wenn er ihn in den Händen fühlte und sich vorstellte, den Ring vor seine Augen zu halten. Zwei Monde intensiven Übens, und nicht einmal das war noch nötig. Er musste den Ring nur irgendwo am Körper tragen. Jokon nähte ihn in eine kleine Tasche an der Innenseite seines Gürtels ein.
Er machte rasante Fortschritte beim Zaubern. Fortschritte, um die ihn erst alle beneideten, und die später seinen Klassenkameraden unheimlich wurden. Auch die Blauen reagierten aufmerksam, fast schon verstört. Zur Wintersonnenwende gelang es Jokon, einen Rufzauber ohne irgendein Hilfsmittel durchzuführen und einen Falken zu sich zu rufen, der hoch über dem Turm seine Kreise gezogen hatte. Er stand im Hof, den Falken auf seiner Hand, und sah die wilden gelben Augen des Vogels, der wegwollte und nicht konnte, der ihm gehorchen musste und auf seiner Hand wie festgebunden saß. Er spürte die scharfen Krallen, die der Falke nur zu gerne in seine Hand gebohrt hätte, aber sein Wille befahl dem Falken, was er zu tun und zu lassen hatte, und der Falke konnte sich nicht rühren. Der stolze Vogel war ihm untertan, war ihm wehrlos ausgeliefert. Voller Stolz trug Jokon seine Trophäe durch den ganzen Hof und zeigte ihn den Grauen, den Grünen, den Blauen und den Dienern. Zu diesem Zeitpunkt wurden endlich die Roten auf ihn aufmerksam.