Читать книгу Der Patient der Patientin - Christa Burkhardt - Страница 10

Schmerzen

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„Herr Breitenbach?“ Heute lag er auf dem Rücken flach im Bett. Wieder nahm sie seine Hand. Sie war kalt. Das kannte sie schon. Aber heute war sie außerdem feucht. Sie wartete. Beobachtete ihn. Sein Atem ging langsam und schwer. Sie wollte ihm Zeit lassen. Er hatte bisher jedes Mal Zeit gebraucht, hier in diese Welt, in die Begegnung mit ihr zu finden. Aber dieses Mal kam er nicht an. Was war los?

War er nur müde? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Wovon denn? Er hatte viel zu viel Zeit zum Schlafen und keine einzige Gelegenheit, sich müde zu laufen, zu arbeiten, irgendwie zu agieren. „Herr Breitenbach?“ Seine Lider flackerten. War er krank? Hatte er Fieber? Unwillkürlich sorgte sie sich, zog seine Decke höher ans Kinn, prüfte, ob er in Zugluft lag. Nein, durch das gekippte Fenster kam warme Sommerluft ins Zimmer.

Er stöhnte. Hatte er Schmerzen? Er sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Wortfetzen. Satzfetzen. Zusammenhanglos. Für sie unverständlich. Nicht an sie gerichtet. Er nahm sie gar nicht wahr. Was war hier los? Sie verließ das Zimmer und suchte jemanden vom Pflegepersonal. Sie hoffte, Patrick würde kommen. Aber der ließ sich heute nicht blicken.

„Schwester?“, sagte sie schließlich, in der Tür zum Stationszimmer stehend. So ein Schwachsinn, dachte sie. Warum sage ich dieses Wort? Meine Schwester heißt Helen, lebt in München und arbeitet in einem In-Salon als Visagistin. Das hier ist garantiert nicht meine Schwester. Warum nenne ich sie so? „Schwester“, sagte sie gegen ihren Willen noch einmal. „Hm“, machte es hinter einem Stoß Akten auf dem Schreibtisch. Da saß eine Pflegerin, schrieb etwas auf einen Zettel, und tippte dann etwas in den Computer.

Sie ließ sich nicht stören. Erst als sie fertig war, schaute sie auf. „Ja, bitte?“ „Mein Name ist Linda Keller. Ich besuche Herrn Dr. Breitenbach. Er wirkt heute auf mich, naja, irgendwie komisch. Anders als die letzten Male. Ich mache mir Sorgen. Deshalb wollte ich fragen, ob, also, ob alles in Ordnung ist oder ob er krank ist oder so.“

– Was für ein blöder Text! Linda, reiß‘ dich zusammen. Du stehst hier in einem Pflegeheim. Hier gibt es dutzendweise Kranke. Deshalb sind sie ja alle hier. Weil sie krank sind. Deshalb läuft hier jede Menge Pflegepersonal herum. Deshalb gibt es Ärzte, Pflegebetten, Monitore und überall Notfallklingeln. Und du machst dir ausgerechnet hier Sorgen, dass einer irgendwie anders krank ist als normal? Was ist denn an einer Krankheit normal? Wie geht das denn, unauffällig krank? Normal krank?

Mit Schwung klappte das Notebook auf dem Schreibtisch zu. „Sind Sie eine Angehörige?“ Die Pflegerin musterte sie von Kopf bis Fuß. Diese Frage hatte kommen müssen. „Nein, das bin ich …“ – „Es tut mir leid, aber dann darf ich Ihnen keine Auskunft geben“, fiel ihr die Pflegerin ins Wort. Blöde Kuh, dachte Linda. Aber aufgeben wollte sie noch nicht.

„Hören Sie“, versuchte sie es noch einmal, „ich möchte ja gar keine Auskunft. Ich habe lediglich beobachtet, dass Herr Breitenbach heute irgendwie anders ist als sonst. Ich mache mir Sorgen um ihn und wollte Ihnen das mitteilen. Denn Sie wissen sicher, was zu tun ist.“ Na also, Linda, geht doch. Du kannst einen vollständigen Satz sagen, lobte sie sich in Gedanken selbst, um sich Mut zu machen.

Das Notebook wurde wieder aufgeklappt, zwei, drei Klicks ausgeführt, kurze Pause. Lesende Augen hinter einem Aktenstoß. „Herr Breitenbach hatte Schmerzen und ein entsprechendes Medikament bekommen. Vielleicht ist er deshalb heute ein wenig – müde“, sagte sie mit wichtiger Stimme. Linda überlegte. „Kein Grund zur Besorgnis“, sagte die Pflegerin, klappte das Notebook wieder zu, stand auf und wollte an Linda vorbeigehen. Sie zögerte. „Wissen Sie, er hat nur wenige gute Tage. Vielleicht haben Sie bei ihren bisherigen Besuchen solche erwischt? Wenn Sie mich dann entschuldigen würden? Ich habe zu tun.“

Wenn Linda noch nicht verstanden hatte, dass die Pflegerin das Gespräch auf diese Weise beenden wollte, half ihr ein Leuchten über Zimmer Nummer 322. Erleichtert steuerte die Pflegerin darauf zu und ließ Linda stehen. „Die Pflicht ruft.“

Zeitverschwendung, dachte Linda. Und irgendwie hatte die Frau ja recht: Sie war keine Angehörige und nicht auskunftsberechtigt. Was war sie eigentlich? Eine Freundin der Familie? Sicher nicht. Eine Bekannte? Genau genommen war sie nicht einmal das. Sie hatte Herrn Breitenbach nie außerhalb seiner Arztpraxis getroffen oder gesprochen, nie ein privates Wort gewechselt. Keine Angehörige. Was machte sie eigentlich hier?

Langsam ging sie zurück in Zimmer 321. Schließlich war sie ja gekommen, um ihn zu besuchen. Wenigstens wollte sie noch eine Zeitlang seine Hand halten. Auch wenn er heute nicht gut drauf war, aus welchen Gründen auch immer. Nur wenige gute Tage. Konnte das sein? Schätzte sie die Lage, schätzte sie ihn so falsch ein? Gerade hatte sie Klinke in der Hand, als Patrick um die Ecke bog.

Er nickte ihr zu, zeigte auf seine Uhr, hob fünf Finger einer Hand, zeigte dann in Richtung Zimmer 321 und betrat ein Krankenzimmer. Wahrscheinlich hatte er in fünf Minuten Zeit und würde dann zu ihr kommen. Also zu Dr. Breitenbach. Sein Zustand war unverändert. Sie nahm seine Hand und wartete auf Patrick.

„Hat ein bisschen länger gedauert.“ Patrick grinste schief und trat neben sie. „Frau Walter ist ein kleines Malheur mit der Nudelsuppe zum Mittagessen passiert. Jetzt ist sie wieder frisch und ihr Bett auch.“ Sie nickte. Pflegealltag. Nun widmeten sich beide Herrn Breitenbach. Er schwitzte und sprach nach wie vor unverständlich.

„So eine Sauerei“, empörte sich Patrick nach einer Weile, „der lallt ja richtig. Da konnten sie sich wieder bei der Dosierung nicht beherrschen.“ Er lachte bitter. „Oder wollten nicht.“ Er erhöhte das Kopfteil ein Stück. „Möchtest du einen Schluck Wasser, Felix“, fragte er und hielt ihm einen Schnabelbecher hin. Er trank gierig, schien aber immer noch nichts wahrzunehmen. Sie schaute Patrick fragend an. „Dosierung?“

„Mit dieser Frage sollte ich vielleicht doch noch einmal in die Heim-Kapelle gehen“, sagte er schließlich leise, ohne Felix Breitenbach aus den Augen zu lassen. Zärtlich ruhte sein Blick auf seinem Schützling. „Aber da schweigt der Mann am Kreuz sicher vornehm. Und auch unser Pfarrer räuspert sich höchstens verlegen.“ Sie ließ Patrick Dampf ablassen und hörte ihm zu. Breitenbachs Hand ließ sie nicht los.

„Was hat dir dieser Mann getan, hä? Großer Gott, was hat er dir getan, dass er hier liegt bei vollem Verstand, sich nicht rühren kann, nichts spürt, aber trotzdem Schmerzen leiden kann. Was hat er dir getan?“ In Patricks Augen standen Tränen. Er schaute sie an. „Wie perfide ist das denn? Das Einzige, was Felix Breitenbach spüren kann, sind wahnsinnige Kopfschmerzen. Wäre sein Schicksal nicht ohne schon schlimm genug? Warum muss er so leiden?“ Sie wusste keine Antwort.

Patrick ergriff seine andere Hand. Sie saßen schweigend da. Ab und zu flüsterte er, sagte etwas. Aber weder Linda noch Patrick verstanden ihn. Die Worte waren wohl auch nicht für sie bestimmt. Felix Breitenbach war gar nicht da. Weggetreten. „Zugedröhnt“, sagte Patrick und „verantwortungslos“ und „ein Verbrechen“. Linda dachte an den Gefallen, um den dieser Mann sie gebeten hatte.



Der Patient der Patientin

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