Читать книгу Der Patient der Patientin - Christa Burkhardt - Страница 9
Patrick
ОглавлениеEine Pflegerin hatte ihren Besuch bei ihm abrupt beendet. Der Patient müsse jetzt umgelagert, die Bronchien müssten abgesaugt, Urin- und Kotbeutel geleert und dann müsse der Patient gefüttert werden. Sie könne gern ein anderes Mal wiederkommen, auf Wiedersehen.
Wie betäubt schloss sie die Tür hinter sich. Sie war einfach gegangen. Wie hätte sie sich auch verabschieden sollen? Sie wollte gehen. Raus hier. Weg hier. Aber sie konnte nicht. Kraftlos sank sie auf einen der Stühle, die im Gang standen. Sie konnte nicht mehr. Was hatte er bei ihrem ersten Besuch gesagt? Komm‘ wieder, wenn du es aushältst. Aber sie hielt es nicht aus. Es war nicht auszuhalten. Es war zu viel.
„Noch nicht oft hier, was?“, fragte auf einmal jemand und hielt ihr ein Glas Wasser hin. Dankbar nahm sie es entgegen. Ohne zu fragen, setzte er sich neben sie. Er war jung. Er trug die hellblaue Kleidung des Pflegepersonals und hatte seine Rasta-Mähne in einen Pferdeschwanz gezwungen.
„Nach meiner ersten Woche hier auf der Station bin ich in die Heim-Kapelle geflohen und habe zwei Stunden lang Rotz und Wasser geheult. Konnte nicht mehr aufhören. Das musste raus. Alles. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tränen ein Mensch auf einmal weinen kann. Das war bestimmt genug für zwei Leben. Weinen. In der Kapelle! Ich. Dabei habe ich mit Gott und Kirche nichts am Hut. Aber das musste sein.“
Sie sahen sich an. „Patrick“, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. „Ich mache hier FSJ. Parken vor dem Medizinstudium“, grinste er. „Diese Station ist echt hardcore. Und Felix hat es am schlimmsten getroffen.“ Sein Kopf zeigte Richtung Zimmer 321. „Du warst doch bei Felix? Er bekommt sonst nie Besuch.“
Felix. Felix Breitenbach. „Warum bekommt er keinen Besuch“, fragte sie. Er hatte doch Familie. Seine Frau, die beiden Kinder. „Er will keinen. Das hat er so bestimmt. Als er die Diagnose bekam, hat er Tabula rasa gemacht. Er hat sich von seiner Frau scheiden lassen, seine Kinder zu einem Abschiedsbesuch herbestellt, einen Arztkollegen als Bevollmächtigten für den Fall der Fälle eingesetzt, und in seiner Patientenverfügung steht, dass er auf keinen Fall irgendwelche Reanimationsmaßnahmen möchte.“
Durfte Patrick ihr das eigentlich alles erzählen? Sie war ja nur eine entfernte Bekannte. Eine ehemalige Patientin des Patienten. Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen, denn sie wollte mehr über Felix Breitenbach erfahren. Sie hatte ein Recht darauf, dachte sie. Denn schließlich hatte er sie gebeten, ihm dabei zu helfen, sein Leben zu beenden. Da musste sie doch möglichst viel erfahren.
„Sein Arztkollege taucht hier alle paar Wochen auf. Sonst besucht ihn keiner. Den Seelsorger des Hauses hat er rausgeschmissen.“ Patrick grinste. „Unsere beiden Psychologen auch. Hochkant. Die Physiotherapeuten muss er ranlassen, dagegen kann er nichts machen. Und uns Pfleger natürlich auch. Die meisten gehen nicht gern rein zu ihm. Er zieht so runter, sagen sie. Ich setz‘ mich öfter mal zu ihm ans Bett, wenn ich Zeit habe. Ich mag ihn und er tut mir leid. Er ist noch keine 55. Mein Vater wird heuer 60, managt eine Riesenfirma, geht Bergwandern und spielt Tennis. Und Felix ...“ Patrick schwieg.
Spät in der Nacht brannte noch Licht in ihrem behaglichen Wohn- und Arbeitszimmer. Rhodos schnurrte auf dem Sofa neben ihr. Auf dem Tisch dampfte eine Tasse Kräutertee. Auf dem Schoß hatte sie ihren Laptop. Sie las. Sie recherchierte. Sie sammelte Informationen, Fakten, Zahlen. Das war ihre Welt. Darin war sie gut.
Sterbehilfe. Ging das in Deutschland? In welchem Land war sie erlaubt? Unter welchen Umständen war sie erlaubt? Welche seriösen Optionen, Gesetzeslücken, Schlupflöcher gab es? Wie hoch waren die Kosten? Welche Unterlagen und Unterschriften waren nötig? Was gab es für Risiken? Fragen über Fragen.
Sie las auf Internetseiten von Medien, Stiftungen, Bestattern, Patienten- und Angehörigenorganisationen und -vereinen, kämpfte sich durch Gesetzestexte, scrollte sich durch verschiedene Kirchen und Ethikratsseiten. Passive Sterbehilfe, indirekte Sterbehilfe, assistierter Suizid, aktive Sterbehilfe – ihr schwirrte der Kopf. Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Erlaubt in Belgien, Niederlande, Luxemburg. Draußen wurde es hell.
Sie rieb sich die müden Augen und trat ans Fenster. Tja, Linda Keller, da stehst du nun, dachte sie. Da stehst du und weißt nicht weiter. Worauf hast du dich da eingelassen? – Auf gar nichts. Noch nicht. Willst du dich überhaupt darauf einlassen? Mal angenommen, du hast alle wichtigen Fragen beantwortet. Mal angenommen, du hast einen legalen Weg gefunden, Felix Breitenbachs Wunsch zu erfüllen. Mal angenommen, du hast ein Mittel zur Sterbehilfe in der Hand. In der Hand, mit der du bisher seine Hand gehalten hast. Was tust du dann? Gibst du es ihm? Schaffst du das? Kannst du ihn sterben sehen? Willst du das? Und wenn nicht? Kannst du ihn weiterhin leben sehen? So leben sehen? Sie wusste keine Antwort.