Читать книгу Der Patient der Patientin - Christa Burkhardt - Страница 11
Lebenshilfe
Оглавление„Ich bestell‘ mir ne Pizza, Willst du auch was, Mama?“, fragte Severin. Linda saß im Garten, ihren Laptop vor sich. „Gute Idee“, sagte sie, „für mich wie immer. Calzone, klein. Teilen wir uns einen Salat?“ „Unbedingt“, antwortete ihr Sohn und zückte sein Handy. „Ich mach‘ das hier noch fertig, dann ist Feierabend“, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf die letzten Sätze des Dokuments, das sie gerade ins Spanische übersetzte.
Sie war weit gekommen mit der Arbeit. Viel weiter als sie sich für heute vorgenommen hatte. Fast fertig. Der Rohentwurf stand. Fehlte nur noch der Feinschliff, und sie hatte noch eine ganze Woche Zeit bis zum Abgabetermin. So gut in der Zeit war sie lange nicht mehr gewesen. Naja, dachte sie. So dringend hatte sie auch noch nie eine Arbeit als Ablenkung benötigt.
„In 15 Minuten“, sagte Severin, „ich hol‘ schon mal Teller und Besteck.“ „Hm.“ Sie machte Platz auf dem Tisch, streckte sich und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Ihr kleines Paradies. Unwillkürlich verglich sie den Ausblick mit dem, den Felix Breitenbach in seinem Krankenzimmer hatte.
Entweder bodenlange Gardinen, altbacken, grobmaschig und viel zu schwer. Oder zu selten geputztes, langsam blind werdendes Fensterglas in weißem Plastikrahmen. Oder – bei offenem Fenster – ein Blick auf das angrenzende Bürogebäude. Rot verklinkert, graue Aluminium-Fenster. Kein bisschen Grün oder Natur. Trostlos. Öde. Sie seufzte.
Severin kam zurück. Außer Tellern und Besteck hatte er eine Karaffe Eistee und zwei Gläser dabei. Er stellte alles auf dem Tisch ab und goss Tee ein. „Was denkst du über Sterbehilfe?“, fragte sie. „Ich finde Lebenshilfe wichtiger“, sagte Severin, ohne groß nachdenken zu müssen. Er schien kein bisschen überrascht von ihrer Frage. Wahrscheinlich konnte ihn gar nichts überraschen. Er war ein ernsthafter Mensch, der sein Leben sehr bewusst lebte.
Es gab wahrscheinlich keine Frage, die Severin Keller sich in seinem kurzen Leben noch nicht gestellt und mit seinen Freunden sorgfältig diskutiert hatte. „Wie meinst du das? Lebenshilfe?“, fragte sie. Er trank einen Schluck. „Ich finde, das Leben ist etwas so unglaublich Kostbares. Es ist das Einzige, was wir haben. Und wir wissen, dass es endlich ist. Das Sterben kommt sowieso. Statt sich für Sterbehilfe zu entscheiden, sollte man sich für ein lebenswertes, liebevolles, erfülltes und fröhliches Leben entscheiden.“
Nachdenklich drehte sie das Glas in ihrer Hand. „Und wenn, zum Beispiel durch eine Krankheit oder einen Unfall – kein lebenswertes und erfülltes und fröhliches Leben mehr möglich ist?“ Severin legte den Kopf schief. Das tat er immer, wenn er überlegte. „Nie mehr oder nur vorübergehend nicht?“, fragte er. „Nie mehr“, sagte sie. „Sicher?“ „Sicher.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann ist es gar keine Sterbehilfe, ein solches Leben zu beenden, wenn der oder die Betroffene es beenden will. Dann ist das Lebenshilfe.“ Der Pizzabote trat ans Gartentor.
An diesem Abend recherchierte sie wieder im Internet. Sterbehilfe. Lebenshilfe. Sterbehilfe. Dann fasste sie einen Entschluss.