Читать книгу Der Patient der Patientin - Christa Burkhardt - Страница 6

Herr Breitenbach?

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Ein L-förmiger Zweckbau. Beton. Grau. Fenster an Fenster. Keines davon sah bewohnt oder gar einladend aus. Kein wenig Grün davor. Parken war hier verboten. Fahrradständer gab es nicht. Als ob sich hier niemand aufhalten soll, dachte sie. Unwirtlich. Ungastlich. Unmenschlich.

Sie wusste nicht mehr, warum sie Frau Jablonski nach dem Namen des Heims gefragt hatte. Aber sie hatte es getan. Und sie hatte sich den Namen sogar gemerkt. Nun stand sie davor. Besuch‘ ihn, hatte Severin vorgestern gesagt. Diese beiden Worte klangen seitdem in ihr nach.

Für Severin war das Leben einfach: Wenn einen etwas beschäftigt, beschäftigt man sich damit. Sonst hört es nicht auf und hält einen von den wirklich dringenden Beschäftigungen ab. Wenn einem etwas durch den Kopf geht, denkt man darüber nach. Sonst bleibt es Wirrwarr hinter den Schläfen und macht Kopfschmerzen. Sonst wird es klarer Gedanke. Wenn du etwas tun willst, dann tu es. Halte dieses Kribbeln in dir nicht länger als nötig hin. Steh‘ auf und leg‘ los. Sonst lähmt es Kopf und Körper. Wie konnte einer mit 22 so weise sein? Sie war es heute, mit 51 oft noch nicht. Besuch‘ ihn.

Nun stand sie da. Der Gehweg war schmal. Von der Bushaltestelle führte eine zwar kurze, aber enge und düstere Unterführung zum Eingang. War das so geplant, dass man sich schon auf dem Weg hierher dumpf und elend fühlen sollte? Wie auch immer so ein Heim hieß, lenkte der Name doch nur vor der einen wahren Tatsache ab: Hier war das Ende der Einbahnstraße. Hier ging es nur rein, aber nicht mehr raus. Endstation.

Warum regnete es eigentlich nicht? In der Nähe dieses „Heims“ konnte es nur ein einziges Wetter geben: Nieselregen, bewölkt, 10 Grad Celsius. Die Art Wetter, die einen von innen frieren ließ. Dementorenwetter nannte ihre Tochter als eingefleischter Harry-Potter-Fan das. Und genauso fühlte es sich an. Sie stand im Schatten, den das Gebäude an diesem späten Vormittag in den strahlenden Sommertag warf. Besuch‘ ihn, sagte Severin in ihren Gedanken wieder.

Sie machte einen Schritt, und die Automatiktür öffnete sich. Der Eingangsbereich war eifrig bemüht. Bemüht, einladend zu wirken. Bemüht, Sicherheit zu vermitteln, Zuversicht. Hier sind Sie gut aufgehoben, schrien grell der geschickt ausgeleuchtete Empfangstresen aus hellem Holz, die Yucca-Palmen an ausgesuchten Plätzen und die beiden deplatzierten und sicher kaum benutzten Sitzgruppen vor den Fenstern. Beige wie der Anstrich der Wände.

Sie durchschritt die kleine Halle und wandte sich zu den Aufzügen. Ins Auge fielen ihr zwei Getränke- und Snack-Automaten, die ein wenig Normalität vortäuschten und die Schilder „Notausgang“. Sie drückte auf die 3. Station B. Gerontopsychiatrie. Was um alles in der Welt hatte Dr. Breitenbach in der Gerontopsychiatrie zu suchen? Er war kaum älter als sie und sicher nicht dement.

Sie lief den Gang entlang. Zimmer 321. Klang diese Zahl nur in ihren Ohren wie ein Countdown? Null, dachte sie, und klopfte. Keine Antwort. Sie atmete auf. Na also. Er war gar nicht hier. Oder er wollte niemanden sehen. War sie überhaupt willkommen? Sie hatte keine Ahnung. Sie hatte es versucht. Sie hatte ihr Bestes gegeben. Sie war gekommen. Sie hatte das Zimmer gefunden. Sie hatte geklopft und keine Antwort bekommen. Sie hatte sich bemüht. Sie hatte alles getan, um ihren vagen Vorsatz umzusetzen. Es sollte nicht sein.

Was hatte sie schon hier zu suchen? Sie war doch nur eine ehemalige Patientin. Sie kannte diesen Mann eigentlich gar nicht und hatte ihn mindestens drei Jahre nicht mehr gesehen. Sie konnte einfach wieder gehen. Sie klopfte noch einmal und trat ein. Links die obligatorische Nasszelle, dann öffnete sich der Raum. Rechts die großen Fenster. Die Wände blassgelb. Links stand nur ein Bett. Daneben Monitore, allerlei Apparate. Sein Bett, seine Monitore, seine Apparate. „Herr Breitenbach“, sagte sie leise und trat näher heran.

Er rührte sich nicht. Hatte er seine Augen offen oder geschlossen? Sie konnte es nicht erkennen. Leise ging sie noch näher heran. Der Anblick schockierte sie nicht. Sie hatte damit gerechnet und kannte diesen schwer kranker Patient im Krankenhausbett-Anblick. Ihr Schwiegervater war nach jahrelangem Leiden an Lungenkrebs gestorben, sie hatte ihre eigene Mutter bis zu ihrem Tod täglich besucht.

Sie kannte diesen Anblick einer kleinen, blassen menschlichen, nein, entmenschlichten Gestalt in der Übermacht medizinisch weißer Sterilität. Natürlich, den gab es hier auch zu sehen. Damit hatte sie gerechnet. Was ihr hier die Luft zum Atmen nahm, sie taumeln ließ und ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte, war diese mit Händen zu greifende Hoffnungslosigkeit. Hier war Endstation, aber das Ende ließ diesen Mann nicht herein. Hier parkte ein Mensch, hier war ein Mensch geparkt, der nicht mehr Mensch sein konnte. In Zimmer 321 fehlte die Würde.

„Herr Breitenbach?“, versuchte sie es noch einmal und wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang. In Gedanken rannte sie längst schreiend die Treppe hinunter, weg, nur weg hier. „Herr Breitenbach? Ich bin Linda Keller.“ Seine Augen waren offen, aber er schaute sie nicht an. Er schaute nirgendwohin. „Soll ich wieder gehen?“, fragte sie. Er antwortete nicht.

Später hätte sie nicht mehr sagen können, warum sie das tat. Eigentlich tat sie es auch gar nicht. Irgendetwas in ihr tat es. Ließ es sie tun. Sie trat an sein Bett und nahm seine Hand. „Herr Breitenbach?“, sagte sie noch einmal leise. Dann wartete sie. Sie ließ seine Hand nicht los. Sie wusste nicht, wie lange sie dastand und schwieg.

Er schaute nach wie vor ins Nirgendwo. Dämmerte. Sie hatten diese dauernd piepsende Maschine endlich abgestellt. Er wusste nicht, wie viele Tage, wie viele Wochen er dieses Piepsen ertragen hatte. Hatten sie sie überhaupt abgestellt? Oder hatten sie nur endlich den Lautlos-Knopf gefunden? Wollte er das wissen? Wollte er überhaupt etwas wissen? Was sollte er mit gleich welchem Wissen schon anfangen?

Er wusste nicht, welcher Wochentag war. Er wusste nicht, ob Sommer war oder Winter. Er wusste nicht, ob er gleich eine Nährlösung zum Frühstück oder zum Mittagessen bekommen würde. Er wusste nur, dass sein Leben kein Leben war. Dass es egal war, ob Montag war oder Sonntag, Vormittag oder Mitternacht. Sein Wissen konzentrierte sich in einem einzigen Gedanken, einem einzigen Wort. Mehr würde, mehr wollte er nie mehr wissen, weil kein weiterer Gedanke, kein weiteres Wort jemals wieder eine Bedeutung für ihn haben würde. Irreversibel. Das war das einzige Wort, das es für ihn noch gab.

Irreversibel. Nichts, nichts würde sich jemals wieder an seinem Zustand ändern. Er lag hier. Er wusste nicht, wie lange schon, wollte es nicht wissen. Denn sonst hätte er vielleicht angefangen darüber nachzudenken, wie lange noch vor ihm lag. Zeit spielte keine Rolle in seinem Zustand. Er konnte ohnehin nichts mit ihr anfangen. Irreversibel.

Warum nur war er bei dem Unfall nicht einfach gestorben? Gelegenheiten hatte er gehabt. Mehr als eine. Gleich damals in dieser Nacht, als er auf glatter Fahrbahn von der Straße abgekommen war. Als sich sein Wagen überschlug und er gegen alle Wahrscheinlichkeit herausgeschleudert worden und in diesen spitzen Eisenzaun geflogen war. Seine Erinnerung war lediglich ein kalter, stechender Schmerz in Bauch und Rücken sowie ein dumpfer Knall in seinem Kopf. Etwas knackte. Zerbrach.

Nun ja. Er war schon immer eher ein Zauderer gewesen. Zögerlich. Vorsichtig. Feige. Hatte alles nicht zwei-, sondern drei- und viermal überlegt. Schon als Kind konnte er sich nicht zwischen Schoko- und Vanilleeis, blauem oder rotem Fahrrad, Latein oder Französisch entscheiden. Also war es nur logisch gewesen, typisch für ihn, diese erste Gelegenheit auf einen Tod auszulassen. Ein Unfalltod. Diese erstbeste Gelegenheit. Im Nachhinein war es tatsächlich die beste gewesen. Denn sie fanden ihn erst Stunden später. Eigentlich hätte das sogar für ihn Zeit genug sein müssen, sich für das Richtige zu entscheiden. Den Tod.

Am Unfallort, im Krankenwagen, bei den ersten Operationen, immer wieder hatte er wiederbelebt werden müssen. Und jedes Mal hatte er mitgemacht. Hatte er sich darauf eingelassen, auf dieses große Vielleicht, das ihm seine Arztkollegen anboten. Vielleicht bleibst du am Leben. Vielleicht bekommst du dein Leben zurück. Er hätte nicht auf sie hören sollen. Er hätte seine eigene Entscheidung treffen sollen. Aber das hatte er nicht getan. Das hatte er ohnehin viel zu selten in seinem Leben getan.

Und ausgerechnet bei dieser einen Entscheidung, bei dieser einen, sehr persönlichen Entscheidung, denn es war um ihn gegangen, nur um ihn. Um alles, was er hatte. Um sein Leben. Sein ureigenstes Interesse. Um das Wichtigste überhaupt. Ausgerechnet bei dieser Entscheidung hatte er versagt. Er ließ sich die Entscheidung abnehmen. Er zögerte zu lange. Wieder einmal. Wie immer. Sein Tod zog seine Hand enttäuscht zurück, zuckte die Achseln und sagte: Na gut, wenn du nicht willst … Das Leben entschied sich für ihn. Aber es wollte ihn nicht mehr so wie er vorher gewesen war. Das Leben war launisch und nachtragend.

Irreversibel. Das hatte er nun davon. Er, der Zauderer. Nun musste er das Endgültige leben. Es gab keine Alternative. Es gab keine Perspektive. Es gab nur noch dieses eine Wort. Und das würde für immer so bleiben. Und das Schlimmste war, dass er keine Möglichkeit hatte, dieses Immer abzukürzen. Er hatte den Tod nicht gewollt. Und das Leben hing offensichtlich an ihm. Es wollte ihn nicht loslassen.

Er überlebte den Unfall. Er erwachte aus dem Koma. Er atmete wieder selbstständig. Bei guter Pflege konnte das noch 30 Jahre so weitergehen. 30 Jahre in diesem Bett, in diesem Heim. Nein, er wollte nicht wissen, welcher Wochentag und er wollte nicht wissen, wie spät es war. Alle Tage waren gleich. Es gab nur noch ein Wort. Irreversibel.

„Herr Breitenbach?“ Irgendetwas war heute anders als sonst. Und es hatte nichts mit dem nervtötenden Piepsen zu tun. Er verließ den Tunnel, in den er sich zurückgezogen hatte, um nur nicht zu viel zu denken, wahrzunehmen, zu fühlen. Er schaute sie an. Es dauerte eine Weile, aber dann sah er sie tatsächlich. Und sie merkte, dass er sie jetzt sah.

Wie lange stand sie schon da? „Linda“, sagte er mit einer Stimme, die es nicht mehr gewohnt war zu sprechen. „Linda Keller.“ Er wusste ihren Namen. Er kannte sie. Was tat sie hier? Sie gehörte nicht hierher. Sie gehörte in ein anderes Leben. In ein Leben, das es nicht mehr gab. „Ich kann dir leider nicht die Hand geben“, hörte er sich sagen. Er sprach langsam, stockend.

Sie lächelte. Warum lächelte sie? „Hab‘ ich schon gemerkt“, sagte sie, „da habe ich mir Ihre Hand einfach genommen.“ Er atmete langsam. Er hörte sie wie durch Watte. Sollte er einfach wieder die Augen schließen? Bestimmt würde sie wieder gehen und ihn in Ruhe lassen. Alle taten das. Alle, die gekommen waren, die ihn sehen, besuchen, aufmuntern wollten, waren irgendwann wieder gegangen. Er konnte es keinem verübeln. Nach einer Weile waren sie nicht wiedergekommen. Kein Wunder. Es war nicht auszuhalten. Keiner wusste das besser als er.

Sie würde also auch wieder gehen. Er musste nur in seinem Tunnel bleiben. „Du kannst loslassen. Ich spüre nichts“, hörte er sich sagen und trat unbeabsichtigt ein Stück weiter aus seinem Tunnel. Sie sagte nichts. Sie sagte lange nichts. Sie hielt diese Stille aus. Diese Distanz. Diese unüberbrückbare Distanz zwischen seinem Tunnel und ihrem Sommertag. „Dann kann es ja nicht schaden, wenn ich Ihre Hand einfach noch ein wenig halte.“

Hinterher hätten sie beide nicht sagen können, was letztendlich an diesem Vormittag in Zimmer 321 geschehen war. Wie es geschehen war. Er blieb in seinem Tunnel. Sie blieb unsicher. Aber am Ende gab es eine Verbindung zwischen ihm und ihr. Sie ließ seine Hand erst los, als sie ging.

Sie war schon fast an der Tür, da hielt sie noch einmal kurz inne, zögerte. „Herr Breitenbach, darf ich wiederkommen?“, fragte sie. Er rührte sich nicht. Sie wartete. Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf in ihre Richtung. Die einzige, winzige Bewegung, die er konnte. „Wenn du es aushältst.“ Sie schluckte. Er hatte recht. Genau das war der Punkt. Würde sie es aushalten? Hier, mit ihm? Mit dieser Hoffnungslosigkeit? Sie zuckte die Schultern. „Natürlich. Sie halten es ja auch aus“, sagte sie. Dann verließ sie Zimmer 321.



Der Patient der Patientin

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