Читать книгу Der Patient der Patientin - Christa Burkhardt - Страница 8
Ein Gefallen
Оглавление„Herr Breitenbach?“ Zwei Wochen waren seit ihrem ersten Besuch bei ihm vergangen. Um an diesen anzuknüpfen, nahm sie wieder seine Hand. Heute lag er auf der Seite. Der Patient wurde regelmäßig bewegt, beübt und umgelagert, hatte ihr eine Schwesternschülerin auf dem Gang erklärt. Sonst würden die Glieder steif werden, der Kreislauf und die Lunge schlappmachen und er sich wund liegen. Sie hatte geschluckt. Der Patient. Das war alles, was von diesem Menschen geblieben war. Ein Patient. Eine Akte, die geführt und abgehandelt werden musste. Unwillkürlich dachte sie an das fensterlose Archiv in ihrer Kanzlei.
Er öffnete die Augen. Sie versuchte sich so hinzustellen, dass er ihr aus seiner Perspektive ins Gesicht sehen konnte. Das war gar nicht so leicht. „Linda“, sagte er nach einer Weile mit seiner heiseren Stimme. Dann schloss er die Augen wieder. Sie ließ seine Hand nicht los. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Da sagte er: „Ich bin nicht gut in Besuch.“ Sie lächelte. „Ich auch nicht.“ Wieder schwiegen beide.
„Hältst du wieder meine Hand“, fragte er plötzlich. Sie nickte. „Ich spüre nichts.“ Sie bekam eine Gänsehaut, aber seine Hand ließ sie trotzdem nicht los. Auf einmal seufzte er. „Ich dachte, ich bin schon weiter.“ Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Aber das war sein bisher längster Satz gewesen. „Weiter?“, fragte sie.
„Ja, weiter.“ Er machte eine Pause, wappnete sich für die vielen Worte, die er gleich in eine Welt entlassen sollte, zu der er nicht mehr gehörte. „Es sieht vielleicht nicht so aus, aber ich arbeite an einem Projekt“, fuhr er fort. Sie stand immer noch unbequem, damit er ihr in die Augen schauen konnte. Er verdrehte immer noch Kopf und Augen, um sie anschauen zu können, während er sprach.
„Mein Leben ist jetzt das hier. Aber das ist kein Leben. Mein Problem ist mein Verstand, denn er arbeitet. Er arbeitet tadellos. Als hätte er nicht mitbekommen, dass ich gar nicht mehr am Leben bin.“
Er schluckte schwer. Das Reden strengte ihn an. Er machte eine Pause, schloss die Augen und öffnete sie nach einer Weile wieder. „Deshalb ist mein Projekt, den Verstand zu verlieren. Möglichst bald. Damit ich das hier ertragen kann. Endlich. Vielleicht. Daran arbeite ich.“ Er schluckte wieder.
„Und jetzt bist du hier. Ein Mensch aus meinem Leben, das ich hatte. Und plötzlich erinnere ich mich wieder, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein, dieser Mensch zu sein. Dieser Mensch, der ich nicht mehr bin und nicht mehr sein kann. Ich dachte, ich bin schon weiter mit meinem Projekt.“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Verzweiflung im Raum, seine Verzweiflung war mit Händen zu greifen, und es gab nichts, was sie für ihn tun konnte.
„Linda, kannst du mir eine Gefallen tun?“ Sie nickte. Ja, ja, natürlich! Alles würde sie tun. Wenn es denn etwas zu tun gab, das ihm helfen konnte, selbstverständlich würde sie es tun. Sie würde dafür alles stehen und liegenlassen. Sofort würde sie es tun! Unwillkürlich drückte sie seine Hand fester. Die Hand, die er nicht spüren konnte. Sie nickte. „Welchen denn?“ Er schloss die Augen, dann sah er sie wieder an. „Hilf‘ mir zu sterben.“