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Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge

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Januão, die Flöte spielend auf seiner falbgelben Stute, sah zwei kleine Punkte zwischen dem Hügel und der Blumenmauer rennen. Seine Augen folgten Dshirah, die in das Gefängnis hineinlief. Nur im Winkel, fast im toten Winkel seines Blicks nahm er den anderen Punkt wahr, der aus En-Wlowa floh. In einer fernen Ecke seines Gehirns wunderte er sich ein wenig, denn seine Gedanken waren bei der Schwester. Nur ein kleines Erstaunen war da. Bisher war noch nie jemand geflohen, wenn er die Pferde diesen Weg entlang lockte. Aber warum nicht? Sie konnten im Lager inzwischen gemerkt haben, wie leicht während des Flötenspiels die Flucht war. Und nicht die entlegenste Gehirnwindung gab Januão eine Warnung, dass dieser winzige fliehende Punkt gefährlich werden könnte. Er musste ja auch Flöte spielen, nicht denken, spielen. Und nicht weinen jetzt. Er kämpfte die Tränen zurück. Das konnte er gut, denn das war er gewohnt. Jungen, die älter als fünf Jahre waren, durften in Al-Cúrbona nicht weinen. Manchmal wünschte er sich, ein Mädchen zu sein. Vielleicht war er der einzige Junge im Reich des Kalifen, der diesen völlig abwegigen Wunsch hatte. Oder war es möglich, dass es noch mehr gab, die so leicht weinten wie er? Ob das in Afrika erlaubt war? Er fühlte eine kleine, sehr kleine Freude.

Er sah den Dshirah-Punkt hinter den Blumen verschwinden. Da konnte er etwas aufatmen, und in sein Trauer-Klage-Todeslied mischten sich ein paar helle Töne. Die spürte er in seinen Fingerspitzen.

«Januão kann Musik anfassen», sagte seine Mutter immer.

Aber der Dshirah-Punkt kam zurück, kam wieder heraus aus den Blumen – oder war das ein anderer? Noch ein Flüchtling aus En-Wlowa? Aber warum lief der nicht weiter? Januão spielte, um den Punkt zurückzudrängen in die Blütenmauer, denn es war Dshirah, er sah es nicht, er spürte es. Aber trieb er sie wirklich mit seinem Spiel nach En-Wlowa hinein? War es nicht eher so, dass er sie zurückhielt? Er ließ die Flöte sinken. Da erreichten ihn auch schon die Pferde. Je-ledla lief voraus. Er beachtete sie nicht. Er sah den Punkt wieder in den Blumen verschwinden. Langsam wendete er sein Pferd.

Er führte die Herde nicht auf geradem Weg nach Haus, sondern ritt einen kleinen Bogen, Silbão entgegen. Der musste nun in die Stadt zurück laufen, denn Januão nahm seine beiden Pferde mit. Es wurde dunkel. Als er sein Elternhaus erreichte, hatte sich dort wenig geändert. Die elf Polizeipferde standen jetzt im Schatten. Sie hoben die Köpfe, als die Herde vorbeikam, eines schnaubte, eines wieherte, aber sie taten keinen Schritt.

Januão ließ die Stuten auf die Koppel. Je-ledla leckte an den salzigen Steinen, der Hengst begrüßte Dshalla. Januão ging von einem zum anderen, schaute, ob sie Wunden hatten und hob ihre Hufe. Da kam einer der Polizisten in die Koppel.

«Du hast die Pferde geholt?», fragte er.

«Das mache ich jeden Abend», nickte Januão.

«Deine Schwester hast du nicht gesehen?»

«Nein. Ist sie immer noch nicht da?»

«Nein. Was glaubst du, wo sie ist?»

«Das haben wir doch gesagt. Bei einer Freundin in der Stadt. Wahrscheinlich bleibt sie über Nacht. Sie ist so glücklich, dass sie zur Schule gehen darf. Wir leben hier ganz allein.»

Der Mann nickte.

«Du kommst in den Patio», bestimmte er.

«Darf ich erst die Pferde versorgen?»

«Ja.»

Januão beeilte sich. Es hatte keinen Sinn mehr, die Zeit zu verzögern. Dshirah war in Sicherheit. Als er in den Patio trat, zündete seine Mutter gerade die Öllampen an.

«Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?», fragte der Polizeioffizier.

«Heute Morgen. Das habe ich doch schon alles erzählt.»

«Erzähl es noch einmal.»

«Wir sind zusammen mit der Herde bis zum Stadtrand geritten. Das machen wir meist so. Von da muss sie laufen. Ich bringe die Pferde auf die Weideplätze.»

«Warum bist du nicht zur Schule gegangen?»

«Ich bin ein guter Schüler. Ich gehe nicht jeden Tag zur Schule.»

«Was für Schuhe hatte deine Schwester an?»

Januão zögerte. Jetzt musste er aufpassen.

«Ihre leichten Lederschuhe, glaube ich. Ja, natürlich. Ihre Sandalen sind doch hier. Sie hat nur das eine Paar Sandalen.»

Er merkte, wie seine Mutter ihn von der Seite sehr aufmerksam beobachtete, aber er schaute sie nicht an.

«Warum trägt sie in der Stadt nie Sandalen», fragte der Offizier.

«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen, aber …», sagte die Mutter sehr schnell.

Der Polizist unterbrach sie: «Ich habe den Jungen gefragt. Nun!»

«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen», Januão sprach ruhig, er war jetzt nicht aufgeregt. Dshirah war in Sicherheit, und was er hier zu antworten hatte, wusste er, sie hatten das geübt, die Mutter hatte ihm das Stichwort gegeben.

«Wenn wir bis zur Stadt reiten und auch wieder zurück, zieht sie gern Sandalen an. Aber von der Schule zurück muss sie laufen, und dann will sie immer geschlossene Schuhe haben. Sonst kommen ihr Steine rein. Dshirah stellt sich ein bisschen an. Sie mag auch nur ganz feine Wolle auf der Haut.»

«Der kleine bardische Junge hat gesagt, dass sie nie Sandalen trägt.»

«Die kleine bardische Kröte hat gelogen», mischte sich einer der anderen Polizisten ein. «Der wollte sich nur wichtig machen. Und der Fußabdruck im Sand war doch ziemlich verwischt. Können wir nicht endlich gehen? Es gibt keinen Tee und keinen Kuchen mehr.»

Der Offizier nickte. «Morgen, wenn die Schulen schließen, sind wir wieder hier. Da wird das Kind ja wohl nach Hause kommen. Und wenn es nicht kommt – ja dann, dann stimmt es doch. Dann werden wir es suchen. Ein Kind mit sechs Zehen ist im gesamten Kalifenreich nicht zu verstecken.»

Endlich brachen sie auf und erlösten ihre Pferde.

Es blieben zurück: Januão, sein Vater Tazihlo, seine Mutter Chomina.

«Du weißt, wo sie ist?», fragte die.

Januão nickte. Und er erzählte von Silbãos Schwester und dessen heimlichen Besuchen in En-Wlowa.

«Dshirah in En-Wlowa», flüsterte Chomina. «Wie schlimm ist es dort?»

«Sie wird es überleben», sagte Januão.

«Was machen wir, wenn sie morgen wiederkommen?», überlegte Tazihlo. «Die Polizisten kommen nicht wieder, die nicht. Morgen weiß es der Minister, und der schickt Soldaten. Was können wir tun?»

«Fliehen?», fragte Januão. «Sofort. Nach Afrika. Wir haben alles vorbereitet. Und nach einem Monat, wenn sie die Suche nach Dshirah aufgegeben haben, komme ich zurück und hole sie.»

Aber sein Vater schüttelte den Kopf.

«Wir können jetzt nicht mehr heimlich fliehen. Sie merken ja gleich morgen, dass wir fort sind. Und wir sind nicht mehr irgendwelche Hirten. Sie suchen das Kind mit den sechs Zehen. Und seine Eltern. Und seinen Bruder. Sie haben Brieftauben. Mit denen schicken sie die Nachricht voraus. Wir kommen nicht mehr bis zum Meer und schon gar nicht auf ein Schiff.»

«Und wie willst du zurückkehren?», fragte die Mutter. «Und dann die Pferde an En-Wlowa vorbeipfeifen? Und Silbão brauchst du auch.»

Sie schwiegen so lange, bis die Stille Januão wehtat. Dann fragte Chomina: «Diese Sandalen. Wo hast du die Sandalen? Gib sie mir!»

Januão holte die Sandalen wieder aus der Kiste. Chomina hielt sie unter eine der Öllampen, drehte sie in den Händen, sagte:

«Und wie ist Dshirah hierher gekommen? Am Steg war ein Wächter.»

«Sie ist geritten», erklärte Januão. «sie hat ein frei laufendes Pferd eingefangen und ist durch die Furt geritten.»

«Am Stadtrand laufen keine Pferde herum», zweifelte sein Vater.

«Doch. Wahrscheinlich ist einer der Pferdejungen von Antvaris runtergefallen. Es ist ein Vollblut.»

«Bring es in den Patio», verlangte Tazihlo.

Auch für Januão war es nicht leicht, das fremde Pferd bei dem schwachen Mondlicht in der Herde zu finden. Der Mond war nicht mehr als ein dünner Haken am Himmel, und wenn man die Augen voller Tränen hatte, konnte man nicht viel sehen. Januão wusste nicht mehr weiter. Der Vater hatte recht, sie konnten nicht mehr fliehen. Sie waren verloren. Seine Füße waren schwer. Er stolperte über jeden Stein, und das Einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt, war der Auftrag des Vaters. Noch hatte er etwas zu tun. Wenn das auch keinen Sinn mehr hatte, keinen Sinn … Er wischte sich die Tränen aus den Augen und erkannte den Hengst. Der schimmerte heller, auch in dem schwachen Licht. Er ging zu ihm. Wahrscheinlich hielt der Hengst die fremde Stute neben sich. Januão erkannte das Vollblut, es hatte einen helleren Kopf. Er legte der Stute ein Halfter an und führte sie in den Patio, ins Licht. Seine Eltern schauten das Pferd an, tauschten einen Blick.

«Sie ist es», sagte Chomina.

«Wer?», Januão verstand nichts mehr.

«Dshallalalama», erklärte Tazihlo. «Die hat Dshirah nicht herumstreunend gefunden. Niemand außer Zaiira reitet dieses Pferd, und wenn sie wirklich einmal runterfällt, dann bleibt die Stute neben ihr stehen.»

«Glaubst du, Dshirah hat sie gestohlen?», fragte Januão. «Sie hat sie ja dann nur ausgeliehen. Sie war in Not …»

«Niemals», sagte der Vater, «würde sie sich mit nur einem Schuh am Fuß in das Haus eines araminischen Fürsten wagen, wenn nicht …»

Er zögerte.

«Es sind Zaiiras Sandalen», sagte Chomina. «Ich kenne sie. Dieses helle Leder – und es ist hier auf eine Weise geflochten, wie man es selten sieht. Wenn die Polizisten nicht so dumm wären, hätten sie gemerkt, dass dies nicht die Schuhe eines Hirtenkindes sind. Zaiira hat ihr die Schuhe gegeben.»

«Und das Pferd», nickte Tazihlo. «Zaiira und Dshirah sind Freundinnen. Sie treffen sich heimlich. Wir haben es gemerkt und geduldet. Aber wir wissen nicht, wie Zaiiras Eltern dazu stehen.»

«Doch, wir wissen es», widersprach Chomina. «Zaiira kann sich nicht heimlich aus ihrem Haus entfernen wie irgendein Hirtenkind. Ich bin sicher, ihre Eltern dulden diese Freundschaft auch. Wenn uns jemand helfen kann, dann sind es Antvaris.»

«Wie?», fragte Januão.

Sein Vater zuckte die Achseln.

«Ich reite hinüber. Du kommst mit.»

«Wenn ihr mich hier allein zurücklasst, werde ich wahnsinnig», sagte Chomina.

«Du musst bleiben. Wir haben die Herde noch nie allein gelassen. Wir tun es auch jetzt nicht. Du hast die Hunde hier. Und du packst alles für unsere Flucht. Denn gehen müssen wir. Wie auch immer.»

Januão hatte die Sandalen zusammengeschnallt und trug sie am Gürtel. Sie ritten zwei Arbeitspferde und führten Dshallalalama am Halfter. Sie kannten den Weg, und die Pferde liefen sicher, sogar in der Nacht. Im Haus der Antvaris brannten die Öllampen. Auch in den Ställen war Licht. Man öffnete den späten Besuchern sofort. Mitten im Hof stand Zaiira. Sie sah schlimm aus.

«Da ist sie!», rief Sidi Antvari. «Zaiira! Tazihlo hat sie gefunden.»

Aber Zaiira rührte sich nicht. Sie blieb starr und steif und ging keinen Schritt auf ihr Pferd zu. Ihr Vater nahm sie in die Arme, hob sie hoch, trug sie zu ihrer Stute, dabei redete er: «Danke, Tazihlo, du bist unsere Rettung. Zaiira, siehst du, da ist sie wieder. Und wenn du sie noch so gut erzogen hast, eine Stute läuft zu der Herde, wenn da ein Hengst ist. Vielleicht ist sie wirklich noch nicht gedeckt. Und danke, Tazihlo, dass du sie sofort gebracht hast …»

Aber Zaiira starrte nur auf die Sandalen an Januãos Gürtel. Dann verkroch sie sich in den Armen ihres Vaters, weinte und schluchzte, dass ihr ganzer Körper geschüttelt wurde. Ihr Vater hob den Kopf, schaute hilflos, ratlos um sich und sagte: «Was geht hier vor? Was ist hier los?»

Tazihlo fasste seinen Sohn an der Schulter, zog ihn mit sich, als er dicht an Sidi Antvari herantrat und ihm, gerade so laut, dass Januão es hören konnte, zuflüsterte: «Sidi, lass uns von hier fortgehen, bevor die Pferdeburschen merken, dass deine kleine Tochter nicht um ihr Pferd gezittert hat.»

Antvari stellte Zaiira wieder auf ihre Füße, und Januão sagte laut: «Nun hör auf zu weinen, Zaiira. Dshalla ist nichts geschehen. Ich habe sie gründlich untersucht. Sie ist nicht verletzt, überhaupt nicht. Und sei nicht mehr traurig, dass sie dir davongelaufen ist. Das ist doch nicht so schlimm.»

Er schob sie sachte zu ihrem Pferd und leise flüsterte er ihr zu: «Dshirah ist in Sicherheit.»

«Nein», Zaiira musste husten, erst dann konnte man sie verstehen, und sie sprach jetzt laut genug, dass alle sie hören konnten. «Nein, das ist nicht so schlimm. Sie ist ja wieder da. Bringt sie in den Stall.»

«Tazihlo», sagte Antvari, «wir sind dir zu größtem Dank verpflichtet, weil du das Pferd gleich heute Abend gebracht hast. Dies wäre eine schlimme Nacht geworden. Kommt und trinkt noch einen Tee mit uns. Wir brauchen keine Bedienung. Die Siada wird den Tee selber bereiten.»

Erst jetzt entdeckte Januão Zaiiras Mutter. Sie stand abseits, reglos. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen. Sie hatte den Schleier bis tief über die Augen gezogen. Sidi Antvari ging voran. Er führte sie in seine Arbeitsräume. Die Siada huschte lautlos neben ihnen durch die Flure und Korridore. Sie war in diesem Flügel des Hauses fremder als Tazihlo, denn hier gingen nur Männer ein und aus. Und Zaiira. Sie war das einzige Kind der Familie, und ihr Vater ließ sie aufwachsen wie einen Sohn. Im Arbeitszimmer setzte sich die Siada abseits auf ein Kissen. Sie nahm den Schleier vom Gesicht, sagte nichts, bereitete auch keinen Tee, saß nur da mit großen, dunklen, erschrockenen Augen. So schaute sie aus einem dunkelroten Gewand heraus, das ihr über die Füße und halb über das noch dunklere Sitzkissen fiel. Obwohl niemand sprach, schien sie noch stiller als die anderen. Zaiira hielt sich dicht neben ihrem Vater. Keiner verlangte Tee.

Sidi Antvari setzte sich. Langsam schob er sich die Kissen zurecht, breitete seinen hellroten Mantel darüber – er machte es sich behaglich, wie man es bei den Araminen gewohnt war. Aber dass er nicht nach Tee verlangte, störte die Gemütlichkeit. Und dass eine Frau im Zimmer war, passte noch weniger zu einem Gespräch in den Arbeitsräumen eines araminischen Fürsten. Und wie diese Frau – dunkelrot mit schwarzen Augen – saß und schaute, das passte zu gar nichts im ganzen Kalifenreich. Araminische Fürstinnen hatten keine Angst.

«Tazihlo», begann Sidi Antvari, «meinen Dank habe ich ausgesprochen. Nun schuldest du mir eine Erklärung.»

Tazihlo nickte, aber er antwortete nicht. Da schnallte Januão die Sandalen vom Gürtel, gab sie Zaiira zurück und fragte: «Was weißt du?»

«Ich habe am Fenster gestanden», sagte Zaiira, «den ganzen Abend. Und ich habe Polizisten gesehen. Zwölf. Sie kamen von euch. Da wohnt doch niemand sonst.»

«Sie kamen von uns», nickte Januão, «aber ich sage dir nicht, was sie wollten. Du sollst sagen, ob du es weißt.»

«Ich weiß es», flüsterte Zaiira.

Und da berichteten sie, Tazihlo, Januão und Zaiira, sie erzählten alles. Danach saßen sie noch genauso im Raum: Zaiira kauerte auf ihrem Kissen und zitterte wie zuvor im Patio, ihr Vater sah noch immer gelassen aus, lehnte scheinbar entspannt an einem kleinen Teetisch, auf dem jedoch der Tee fehlte, und auch die Siada hatte sich nicht verändert, denn noch verschreckter konnte sie nicht aus ihren schwarzen Augen schauen.

«Ihr dürft nicht zu eurem Haus zurück», sagte der Sidi. «Wenn morgen die Soldaten kommen, müsst ihr fort sein. Ich überlege, wo ich euch einige Wochen verbergen könnte, bis es für euch möglich wäre, nach Afrika zu fliehen. Ich habe einige Landgüter in der Ebene und Jagdhäuser im Gebirge.»

«Das darfst du nicht, Herr», sagte Tazihlo. «Sie werden auch die Jagdhäuser in der Sierra untersuchen. Es wäre gefährlich für deine Familie. Sehr!»

Antvari nickte. «Dshirah ist die Einzige, die in Sicherheit ist. Du bist wirklich klug, Januão.»

«Aber sie kommt nie wieder raus!», rief Januão. «Nie!»

«Könnt ihr nicht morgen, gleich früh, alle nach En-Wlowa?», überlegte Antvari.

«Ich nicht», Januão schüttelte den Kopf. «Ich muss die Pferde vorbeipfeifen.»

«Dich könnte ich am ehesten als Pferdeburschen auf einem meiner Gestüte verstecken. Du, Tazihlo, bist am meisten gefährdet. Alle, die mit Halbblutpferden zu tun haben, kennen dein Gesicht.»

«Ihr denkt falsch.»

Das war die leise Stimme der Siada.

Januão schaute sich erst suchend im Zimmer um. Er hatte vergessen, dass da noch jemand war. Und keiner hatte von dieser Frau ein Wort erwartet.

Die Siada sprach leise weiter, ruhig und ohne Zittern in der Stimme: «Wenn ihr jetzt flieht, seid ihr verloren. Sie finden euch. Sie werden suchen, bis sie euch finden. Was wir brauchen, ist ein bardisches Mädchen, das sie für eure Tochter halten und das nur fünf Zehen hat. Davon gibt es schließlich genug.»

«Du meinst, wir sollen irgendein bardisches Mädchen als Tazihlos Tochter ausgeben?», fragte der Sidi. «Gut, ja, das ist gut. Wir haben den Vormittag Zeit, eine bardische Familie zu suchen, die bereit wäre, euch zu helfen. Aber was ist, wenn sie fragen und forschen, wo Dshirah diese Nacht gewesen ist? Es ist doch verdächtig, dass sie nicht nach Hause gekommen ist.»

«Sie werden nicht forschen», sagte die Siada. «Wir erzählen ihnen, Dshirah sei bei der Flucht vor den Jungen über die Dächer geklettert und gestürzt. Ein Spiel mit einem bösen Ende, mehr nicht. Morgen früh, Tazihlo, wird ein Bote aus dem Krankenhaus euch einen Hirtenkittel mit eurem Zeichen bringen und fragen, ob er Dshirah gehört. Wir müssen den Kittel noch heute Nacht in das Krankenhaus schaffen. Und morgen führen wir die Polizisten oder Soldaten, wen immer sie schicken, zu jenem Kind, das ich heute besucht habe.»

Wer sehr genau hinschaute, konnte erkennen, dass Sidi Antvaris Hand jetzt wirklich entspannt auf dem Teetisch lag. Er lächelte und sagte: «Das ist deine Mutter, Zaiira. Es ist nicht das erste Mal, dass sie es ist, die den kühnsten und klügsten Gedanken hat. Sprich weiter, Amira.»

«Ein elfjähriges Mädchen ist heute von einem Baum gefallen. Es hat sich ein Bein gebrochen. Und es hat eine Kopfverletzung, die schlimm aussieht, aber es ist nicht gefährdet. Zu diesem Kind werden morgen die Männer geführt, die nach Dshirah suchen. Tazihlos Frau wird an ihrem Bett sitzen.»

«Und die wirkliche Mutter des Kindes?», unterbrach Antvari.

Die Siada zuckte die Achseln.

«Die müssen wir betrügen, es tut mir leid. Der Arzt könnte ihr sagen, dass sie ihr Kind jetzt nicht besuchen kann, weil er das Bein operieren muss. Nur eine kleine Operation, nur am Bein, nicht am Kopf. Wir wollen die Mutter nicht ängstigen.»

«Aber das Kind selber. Was wird es sagen?»

«Nichts. Es bekommt Opium, tut mir leid. Schmerzmittel geben sie ihm ohnehin. Dann kriegt es eben ein bisschen mehr. Es wird ihm nicht schaden. Der Arzt ist sehr gut.»

«Der – Arzt», begann Tazihlo zögernd, «er ist ein Barde?»

«Er ist Aramine», sagte die Siada, «und das ist gut. Ich weiß nicht, ob wir einen Barden für diesen Plan gewinnen könnten. Ich würde es auch nicht gern tun, denn er wagt viel. Dieser Arzt wird euch helfen. Er ist ein Aramine mit Herz und zerbissener Zunge.»

Januão verstand. Alle hatten verstanden. Bis auf Zaiira. Die starrte ihre Mutter an.

«Hast du keine Angst?», fragte sie. «Warum hast du auf einmal keine Angst?»

Amira lächelte. Sie sah ein wenig traurig aus.

«Meine Tochter kennt mich nicht», sagte sie. «Da habe ich dem Haus Al-Antvari keinen Sohn geboren. Das ist schlimm genug. Nun habe ich eine Tochter, und sie wächst mit ihrem Vater auf wie ein Sohn und kennt mich nicht. Nein, Zaiira, wenn ich weiß, dass es richtig ist, was ich tue, habe ich nie Angst. Und ein Aramine kann nichts Richtigeres tun als seine Zunge zerbeißen.»

‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›

Alle im Land kannten diesen Satz. Nicht alle wussten, was er bedeutete. Ihren Kindern erzählten die Araminen es nicht gern. Sidi Antvari stand auf.

«Wir müssen es ihr jetzt sagen.»

Zaiira war sehr blass, aber sie hob den Blick und schaute zu ihrem Vater auf.

«Zaiira, deine Familie ist vornehm, aber nicht gut. Die Antvaris gehörten zu jenen Araminen, die vor vierhundert Jahren den Barden ein grausames Unrecht zugefügt haben. Damals hat man den Barden ihre Bücher verbrannt, ihre Sprache und ihre Schrift verboten. Nur sechs von den Sieben Sagen haben sie vorher aufgeschrieben, die haben ihnen gefallen, warum auch immer.»

«Du meinst, die Sieben Sagen sind wirklich bardisch?»

«Wir vermuten es. Aber es ist nicht ratsam, das laut zu behaupten. Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben das welche getan. Sie haben es bereut.»

«Aber warum ist die Siebte Sage verloren gegangen?»

«Das ist sie nicht, glauben wir. Mit wir, Zaiira, meine ich jetzt nicht die Araminen in den Gerichtssälen oder an den Schulen. Es gibt ein heimliches Bündnis unter Araminen. Wir nennen es: ‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge›. Und wir sind ziemlich sicher, dass die Siebte Sage damals vernichtet wurde, verboten, vernichtet, sie passte nicht in das Reich des Kalifen. Erst seit Kalif Obayan I. sucht man sie. Es war Armei dan Hasud, der gefordert hat, man müsse die Siebte Sage finden, aber es weiß keiner mehr, wovon sie erzählt.»

«Und warum soll ein Aramine mit Herz seine Zunge zerbeißen? Ich kenne den Satz, aber ich habe ihn nie verstanden.»

Ihr Vater schwieg.

«Du musst es ihr jetzt sagen», verlangte ihre Mutter.

Er nickte.

«Weißt du, Zaiira, man kann einem Volk seine Geschichten nicht nehmen. Sie werden weitererzählt, heimlich des Nachts, den Kindern in den Schlaf hinein. Das haben unsere, deine Vorfahren verhindert. Sie haben allen Barden so lange die Zungen herausgeschnitten, bis sie glaubten, dass alles vergessen sei. Nun, sie haben sich geirrt.»

Januão schaute Zaiira an. Sie hockte auf ihrem Kissen, und der Mund war ihr aufgefallen, so weit auf, dass er ihre Zunge sehen konnte. Er sah, wie sie die Zunge tief in den Hals zurückzog, bis sie würgen musste.

‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›

Von nun an würde sie zu diesen Araminen gehören. Das machte das Lachen und Fröhlichsein sehr viel schwieriger. Sie tat ihm leid.

«Sag ihr alles!», verlangte die Siada.

Sidi Antvaris Hand verkrampfte sich am Rand des Tisches, auf dem immer noch kein Tee stand.

«Das muss nicht sein.»

«Doch», beharrte die Siada, «sie ist jetzt zwölf.»

Antvari nickte.

«Du musst nicht erschrecken, Zaiira, mehr wissen wir gar nicht. Armei dan Hasud schrieb vor ungefähr 250 Jahren sein berühmtes Buch über das Vergessen. Er wollte damit einen Schlussstrich ziehen unter alles, was gewesen war. Immerhin leben wir seitdem mit den Barden in Frieden und Gerechtigkeit. Das Seltsame ist nur – wir können nicht vergessen. Es gibt viele Araminen, die einfach nicht vergessen können, was sie den Barden angetan haben. Fällt das Vergessen den Barden leichter?»

Er warf Tazihlo einen zögernden Blick zu. Der wich ihm aus.

«Und, Zaiira», fuhr Sidi Antvari fort, «das Schlimmste ist: wir haben doch etwas vergessen. Und wir wissen nicht was. Wir haben es so gründlich vergessen, dass wir nicht einmal mehr wissen, was damals geschehen ist. Übrig geblieben ist ein quälendes Nicht-Wissen, ein zermürbendes Ahnen. Es muss da noch etwas gewesen sein, ein grausames Verbrechen, das die Araminen an den Barden begangen haben.»

«Schlimmer als das Herausschneiden der Zungen?», würgte Zaiira.

Ihr Vater zuckte die Achseln.

«Wir wissen es nicht.»

Die Siada stand auf.

«Ihr reitet jetzt zurück und holt ein Hirtenhemd von Dshirah», bestimmte sie. «Ihr gebt es nicht im Pferdehof ab, sondern bringt es zur Straße, wir erwarten euch. Ich schreibe inzwischen den Brief an den Arzt.»

«Und ich», sagte der Sidi, «bringe beides zum Krankenhaus. Niemand außer uns wird davon wissen.»

Mitten in Januão, in seinem Bauch, erklang ein kleines fröhliches Lied. Er lauschte und vergaß das Schauen. Kaum nahm er wahr, wie sein Vater dankte und sich verabschiedete. Er hätte jetzt gar zu gern Flöte gespielt. So stolperte er neben seinem Vater hinaus.

Zaiira blieb zurück und würgte an ihrer Zunge.

Die Siebte Sage

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