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Geheimnisse

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Dshirah schaute auf die badenden Frauen im Bach. Sie krampfte die Zehen in ihren Schuhen zusammen, als könnte sie dadurch einen wegdrücken. Sie wollte sich so gern waschen, aber sie blickte zu Una hinauf und sagte: «Ich kann nicht. Ich will das nicht. Ich kann meine …»

Fast hätte sie gesagt ‹Schuhe›, das durfte sie nicht, oh, das durfte sie nicht.

«… ich will meine Kleider nicht ausziehen.»

Una schaute auf die leere Stelle an Dshirahs linker Schulter.

«Was für ein Zeichen hast du da gehabt?», fragte sie. «Nun, das ist deine Sache. Ich will es nicht wissen.»

Sie trat an den Bach und sah sich die Frauen genauer an.

«Die Shenja und ihr Pack sind nicht da», stellte sie fest. «Ich glaube, ich kann dich ein paar Augenblicke lang allein lassen. Hör zu: Wer niemanden hat, der auf seine Kleider und seine Schale aufpasst, badet mit allem seinem Besitz. Wir haben ja sonst nichts. Ich bleibe in der Nähe. Wenn dich eine angreift, bin ich da. Geh nicht weiter den Bach hinunter. Für alle die da bist du nun ein schutzloses Kind. Und eil dich. Nur reinigen. Nicht planschen.»

Dshirah atmete auf. So einfach war das.

Das Wasser war kühl. Und da es in En-Wlowa unter der Erde floss und erst hier an die Oberfläche kam, war es sauber. Dshirah fühlte, wie es ihren Körper reinigte, den Schmutz davontrug, nein, sie hatte keine Lust zum Planschen. Sie dachte an das Spiel von gestern in dem bunten, gefliesten Bachbett mitten in der Stadt. Gestern? War das gestern? Silbão und die Jungen, Kirr, der kleine Barde, der sie verraten hatte – oh, hätte sie doch nie mit den Jungen gespielt, nie und schon gar nicht gestern – war das wirklich gestern? Es war seitdem mehr geschehen als in ihrem ganzen Leben. Ihr Herz wurde schwer wie ein Stein, und wenn sie noch lange an gestern dachte, würde der Stein in dem Wasser auf den Grund sinken. Sie schaute den Bach hinunter. Es ging nur sacht abwärts. Wo das Wasser En-Wlowa verließ, war ein Gitter in der Mauer, das bis in den Boden reichte. Dshirah merkte, dass alle Frauen aufgehört hatten, sich zu waschen, und sie anstarrten. Sie sprang aus dem Bach, schüttelte sich wie ein nasser Hund, wie Run, Lont und Moia es immer taten, wenn sie aus dem Fluss kamen, und quer durch ihre Angst schoss der Gedanke: Warum gibt es hier keine Hunde?

Sie lief zu Una, die verborgen hinter einer Ecke stand. Die nassen Kleider waren nicht unangenehm, denn die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, aber die Blicke der Frauen stachen in ihren Rücken. Dshirah hatte viele Fragen, und doch fiel ihr nichts ein als: «Warum gibt es hier keine Hunde?»

Sie gingen nebeneinander her.

«Hast du Hunde gern?», fragte Una.

Dshirah nickte. «Wir haben drei Hunde, die brauchen wir …»

«Das will ich nicht wissen», unterbrach Una. «Manchmal kommen welche und fragen einen aus. Die meisten kümmern sich um nichts, aber manche glauben, es könnte ihnen was nützen, Geheimnisse herauszupressen. Ich glaube, es wäre dir nicht recht, wenn sie erfahren, wer du bist und warum du hier bist.»

Dshirah schüttelte heftig den Kopf.

«Und von den Hunden sag ich dir auch nichts», fuhr Una fort. «Weil du Hunde magst. Da sag ich dir nichts.»

Vom nächsten Tag an bekam Dshirah etwas zu essen. Und sie gehörte zu den Sattesten im Lager, denn allen wurde ungefähr die gleiche Menge Brei in die Schale gegeben. Das war für ein elfjähriges Mädchen genug. Am hungrigsten waren die jungen Männer, die gern das Vierfache gegessen hätten.

«Das wollen sie so», erklärte Una. «Sie wollen, dass die jungen Männer schwach sind und sich kaum auf den Beinen halten können.»

Dshirah schlief jetzt unter Decken, die alte Lumpen, aber gar nicht so unangenehm waren, denn Una wusch sie im Bach. Sie lag zwischen Una und Juja und hatte es warm und hätte gut schlafen können, wenn sie nicht immer hätte denken müssen: Januão hat jetzt die Pferde versorgt, die Hunde liegen vor den Ställen, die Mutter packt heimlich unsere Sachen für Afrika, und Zaiira hat heute Dshallalalama geritten und die ganze Zeit an mich gedacht.

Gleich am Morgen musste sie dann wieder Juja versichern, Abdalameh gehe es gut. Juja fragte mehrmals täglich. Sie verstand nie, dass Dshirah schon längst keine Neuigkeiten mehr mitteilen konnte. Una und Juja gingen immer zusammen zum Baden, damit sie sich gegenseitig Kleider und Schalen halten konnten. Dshirah wäre gern mitgegangen, aber Una schüttelte den Kopf.

«Bleib du hier», verlangte sie. «Wir haben auch unsere Geheimnisse.» Allein im Verschlag hatte Dshirah Angst. Dann verkroch sie sich unter den Decken. Da war es heiß und stickig.

Zum Essenholen ging sie niemals allein. Sie stand immer mit Una und Juja in der Schlange vor dem Brunnen. Manchmal kamen ihnen Kinder entgegen. Mit denen tauschte Dshirah dann einen Blick, aber stehen blieb sie nicht. Sie versuchte immer zu zählen, wie viele Kinder es gab, doch die sahen alle gleich aus. Una, Juja und Dshirah wurden von niemandem gegrüßt, nur die freundliche Frau, die Dshirah an ihrem ersten Morgen hier geholfen hatte, nickte ihr zu.

Es begegneten ihnen Menschen, wie Dshirah noch keine gesehen hatte.

«Die haben die Pocken gehabt», erklärte Una. «Schau sie dir nur an. Das ist eine gar nicht so seltene Krankheit. Wer sie überlebt, hat solch ein zerstörtes Gesicht.»

«Ist das ansteckend?», fragte Dshirah. «Wie Husten?»

Una lachte.

«Du kennst nichts Schlimmeres als Husten, ja? In der Hauptstadt des Kalifen gibt es keine Kranken. Wer krank wird oder hässlich durch Pocken, verschwindet.»

«Wohin? Kommen die alle nach En-Wlowa?»

Hässliche Leute gab es hier genug.

«Nein», sagte Una. «Es gibt in den Bergen Häuser für die Kranken. Da werden sie gut versorgt. Aber sie dürfen nicht zurück in die Stadt. Wer trotzdem geht, ist dann bald hier. Die einzigen hässlichen Menschen, die sich im Reich des Kalifen sehen lassen dürfen, sind die Sänger im Frauenpalast.»

«Warum?», fragte Dshirah und bekam keine Antwort.

Mitten auf der Gasse lag einer und schlief. Er hatte viele Fliegen im Gesicht. Dshirah schaute zu ihm zurück, aber Una zog sie weiter. Dshirah schwieg, bis sie den Platz erreichten.

«Warum ist die Statue von Armei dan Hasud dreckig?», fragte sie. «Warum kommt niemand und hält sie sauber?»

«Die Leute hier mögen Armei dan Hasud nicht besonders», sagte Una.

«Aber man muss ihn grüßen», verlangte Dshirah.

Da war es Una, die fragte: «Warum?»

«Weil – weil er der klügste Mann aller Zeiten war.»

«Das war er», nickte Una, «und der dümmste.»

Dshirah starrte sie entsetzt an.

«Glaub mir, Dshirah», sagte Una, «Klugheit schützt nicht vor Dummheit. Merk dir das.»

Und jeden Tag holten sie frische Blüten, umsummt von den Fliegen, an der Blumenmauer. Juja saß den größten Teil des Tages im Schatten und färbte Kleider, denn die Farbe verblasste immer schnell in der Sonne. Sie wollte auch Dshirahs Hemd färben, aber Una verbot es. «Die Farbe hält nicht im Wasser», sagte sie. «Du kannst dich dann nicht mehr mit dem Hemd waschen.» Aus Stoffen, die sie immer mal wieder hingeworfen bekamen, nähte Una neue Hemden. Sie hatte nur ihre kurze Nadel. Die Fäden musste sie aus den Stoffen herausziehen. Messer oder Scheren gab es nicht. Sie bissen mit den Schneidezähnen so lange auf den Stoffen herum, bis man sie reißen konnte. So vergingen die Tage.

Dshirah hatte ein kleines Stück Holz gefunden und malte damit Zeichen in den Dreck.

«Was malst du da?», fragte Una. «Das kenne ich nicht.»

«Mein Vater hat es mir gezeigt. Es ist ein altes bardisches Zeichen. Es ist noch älter als unsere Schrift. Ich glaube, es bedeutet ‹Leben›.»

«Kannst du noch mehr?»

«Nein oder vielleicht. Mein Vater hat mir noch mehr gezeigt, aber ich habe alles vergessen.»

Una hockte sich neben sie.

«Das möchte ich lernen», murmelte sie.

«Warum?», fragte Dshirah.

«Ja, warum?» Una zog mit dem Stock die Linien nach. «Das sollte ich vergessen.»

Das Baden wurde täglich schwieriger. Zu viele wussten inzwischen, dass Dshirah von Una begleitet wurde und es also keineswegs nötig hatte, mit Kleidern ins Wasser zu gehen. Und so kam der Morgen, an dem Shenja und ihr Pack im Bach saßen und sofort aufsprangen, als Dshirah vorsichtig aus dem Schatten einer Hauswand trat. Sie hatten auf sie gelauert. Dshirah floh zurück zu Una.

«Da ist Shenja», keuchte sie, «ich glaube, das ist Shenja.»

Und schon waren sie von nackten Frauen umstellt, die böse grinsten.

«Heute zieht sie das aus», sagte Shenja. «Kleider werden weiter unten gewaschen. Sie verdreckt uns das Wasser mit ihrem fleckigen Hemd.»

Die anderen nickten, grinsten, kamen näher. Una nahm Dshirah in die Arme.

«Lass sie los!», verlangte Shenja. «Wir ziehen sie aus. Wir nehmen ihr nichts weg.»

«Ihr rührt das Kind nicht an», sagte Una langsam und sehr deutlich.

«Gut», nickte Shenja, «zieh du sie aus. Wir wollen nichts von ihr. Wir wollen nur wissen, ob sie auch so eine ist wie du und Juja.»

«Bedeckt euch!», forderte Una. «Ich rede nicht mit nackten Frauen.»

Einige lachten, aber verstummten, als Una sie anschaute, einer nach der anderen lange und gerade in die Augen schaute. So gingen sie, schlüpften in ihre Kittel, hüllten sich in ein Tuch. Aber immer blieben so viele zurück, dass sie ihren engen Kreis um die beiden schließen konnten. Una fasste Dshirah an den Schultern, drehte sie den Frauen zu, sagte: «Sie ist keine von denen. Sie trägt einen gewöhnlichen Kittel, und das Zeichen ihrer Klasse ist abgerissen.»

«Jeder kann so ein Hemd anziehen», sagte Shenja. «So ein Kittel geht von einem zum anderen. Das Zeichen aber bleibt immer bei dem, der es hat. Wir wollen es sehen.»

«Es gibt nichts zu sehen.»

«Dann wollen wir sehen, dass es nichts zu sehen gibt.»

Unas Hände lagen fest auf Dshirahs zitternden Schultern.

«Los!» Shenja trat vor. «Sonst mache ich das.»

Unas Hände streichelten Dshirahs Oberarme. Ihre Daumen glitten unter den Stoff auf den Schultern, hoben ihn hoch –

Nein! Dshirah schrie nicht. Sie stand vollkommen stumm und steif und still. Aber in ihr schrie es: Nein! Und: Weg! Fort von diesen neugierigen Blicken, grinsenden Mündern. Fort! Wohin? Konnte sie sich ducken und zwischen zwei mageren Frauenhüften aus dem Kreis brechen? Und dann fliehen? Wohin? Weg von Una, der einzigen Hilfe, die sie in diesem Gefängnis hatte? Hätte sie Una alles erzählen sollen? Die wollte ihr nichts Böses. Die würde sie nicht ausziehen vor diesen Frauen, wenn sie wüsste, dass –

Sie hätte ihr alles erzählen sollen. Es war zu spät.

«Komm», flüsterte Una ihr zu, «heb die Arme. Komm. Sie gehen dann gleich fort.»

Dshirah presste die Arme an den Körper. Es war ja nicht das Hemd, das ihr Geheimnis verbarg. Aber wenn sie das Hemd ausgezogen hatte, konnte sie nicht mehr fliehen.

«Nun!?», lauerte Shenja.

Unas Hände waren so ruhig und so warm. Dshirah schmiegte sich in diese lieben, freundlichen Hände und Arme, die so gut zu ihr waren, die ihr immer geholfen hatten. Ihre Arme lösten sich vom Körper. Una zog ihr den Kittel über den Kopf.

Und dann – stand sie da, sah, wie Shenja enttäuscht die Achseln zuckte und verlangte: «Dreh sie um!»

Una drehte sie um, und Dshirah vergrub sofort das Gesicht in ihrer Brust. Wie aus weiter Ferne hörte sie: «Also nichts.»

Und Una sagte: «Was hättet ihr denn mit ihr gemacht?»

«Nichts. Wir wollten es nur wissen.»

Una schob Dshirah etwas von sich und ließ ihr den Kittel wieder über den Körper gleiten. Und Dshirah spürte, wie sich die lauernden Blicke von ihrem Rücken entfernten.

Gingen die fort? Ohne ihr die Schuhe …?

Sie zitterte, weinte, heulte, schluchzte, bis es Unas Händen gelang, sie ruhig zu streicheln.

«Ich weiß es doch», sagte sie, «ich habe es doch längst gemerkt. Du verbirgst nicht deinen Körper. Du versteckst deine Füße.»

Dshirah wäre am liebsten sofort zurück in den Verschlag gegangen, aber Una bestand darauf, dass sie erst badete.

«Denn dazu sind wir hergekommen. Das musst du nun auch tun. Sonst denken sie, wir hätten noch ein Geheimnis. Und …», sie lächelte, «wir haben gar keins. Es ist jetzt kein Geheimnis mehr. Nicht zwischen uns.»

Patschnass war Dshirah nach dem Bad, aber sie trocknete schnell, denn die Wärme kam jetzt nicht nur von außen. In ihr strahlte es warm, als sie an Unas Hand durch die Gassen ging.

«Wie hast du es gemerkt?», fragte sie. «Und wann?»

«So nach und nach. Wenn man dich immer um sich hat, merkt man, was du verbirgst. Wenn man gut aufpasst, meine ich. Hab keine Sorge, die anderen wissen es nicht.»

«Und Juja?»

«Juja weiß nichts und sollte nichts wissen. Sie ist so lieb, aber man kann niemals vorhersehen, was sie tut. Das bisschen Verstand, das sie noch hatte, als sie kam, hat sie hier gänzlich verloren. Nun sag, wie es weitergehen soll mit dir. Du hältst dich hier verborgen, weil der Kalif dich suchen lässt?»

«Ja. Ich muss bleiben, bis sie aufgeben. Dann holt Silbão mich hier raus, und ich gehe mit meinen Eltern und meinem Bruder nach Afrika.»

«Da ist schon so manches bardische Kind mit solchen Füßen untergetaucht», sagte Una. «Es sind diese Füße in deinem Volk ja gar nicht so selten. Hier bist du sicher. Aber – haben sie einen Verdacht? Suchen sie einfach nur nach einem Kind mit sechs Zehen oder wissen sie, wer deine Eltern sind?»

Dshirah nickte. Unas Finger, die Dshirahs Hand so leicht und doch so fest gehalten hatten, fühlten sich wie harte Klammern an, der ganze Arm wurde steif, und als sie die Hütte erreichten, blieb Una stehen und trat nicht in den Verschlag.

«Brun», sagte sie, «der Junge, der geflohen ist, als du reinkamst, Brun, er ist durchgekommen, ja?»

Dshirah nickte.

«Auch das noch», murmelte Una und bückte sich, denn die Tür war niedrig, «hoffentlich holt Silbão dich bald.»

In der Nacht, als sie zwischen Una und Juja lag, fiel Dshirah ein, was Shenja und die anderen Frauen an ihrem Körper gesucht hatten. Das Zeichen! Alle, die zum Haus des Kalifen gehörten, hatten das Sternbild des Löwen auf den Körper tätowiert. Juja musste es haben – und Una hatte es also auch.

In den nächsten Wochen ließ Shenja sie in Ruhe.

«Die sind wahrscheinlich gar nicht wirklich böse», überlegte Una. «Sie sind nur – nichts. Und dieses Nichts füllt sich hier mit En-Wlowa. Mit dem Dreck und dem Gestank. Das ist ein Teil von ihnen, und sie leiden nicht darunter. Sie weinen nicht um einen Abdalameh. Vielleicht haben sie längst aufgehört, ihre Kinder, ihre Freunde zu vermissen. Sie leiden nicht, also langweilen sie sich. Es geht ihnen schlechter als uns. Leiden ist ein Schmerz. Langeweile ist ein kitzelndes Jucken. Wahrscheinlich können sie an alles, was da draußen ist, nicht einmal mehr denken. Ich muss mich immer wieder mal an den Dorfrand setzen und auf die Mauer schauen. Die Blumen sind so schön.»

Sie gingen nun zusammen zum Baden, und Dshirah durfte mal mit Juja, mal mit Una planschen. Da sah sie denn auch das Sternbild des Löwen tätowiert auf Jujas linker und Unas rechter Schulter. Juja war nur eine unbedeutende Nebenfrau des Kalifen gewesen, Una musste etwas Höheres gewesen sein. Eine Verwandte? Oder im Frauenpalast von Hisham III. eine Dame hohen Ansehens?

Einmal kam, als sie mit Una badete, ein Gruppe junger Männer in den Bach gesprungen. Die Frauen flohen kreischend. Sofort waren andere Männer da, Dshirah hatte nicht gemerkt, woher sie so schnell kamen. Die vertrieben die Störer.

«Wer solche Dienste leistet, kriegt mehr zu essen», erklärte Una.

«Müssen wir keine Angst vor Mördern haben?», fragte Dshirah. «Es gibt hier doch Mörder?»

«Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber ich glaube, es gibt hier mehr ehrliche Menschen als Verbrecher. Außerdem gibt es keine Waffen. Auch alle größeren Steine wurden eingesammelt. Morden kann man hier nur mit bloßen Händen. Das schaffen höchstens kräftige Männer. Die Männer hier sind aber nicht kräftig. Der Brei nährt die Frauen besser. Dies ist der einzige Ort im ganzen Kalifenreich, wo Frauen stärker sind als Männer.»

Und dann kam ein Regentag. Das war schlimm. Am Abend zuvor hatte es ein kurzes, heftiges Gewitter gegeben, und es regnete die ganze Nacht. Am Morgen war der Staub in den Gassen zu einem zähen Matsch geworden. Dshirah wollte mit Juja und Una zum Brunnen und weiter zum Platz gehen, um den Brei abzuholen, aber als sie spürte, wie der Matsch sich an ihren Schuhen festsaugte und daran zog, blieb sie stehen. Sie bückte sich, fühlte das Leder der Schuhe, prüfte die Bänder. Der rechte Schuh saß fest wie immer, aber der linke –

«Una», flüsterte sie, «das Band reißt ab. Da ist ein Riss im Schuh.»

Una führte sie zurück in die Hütte.

«Bleib hier», sagte sie. «Leg dich hin. Wenn jemand kommt, tust du, als wärst du krank. Wir holen den Brei und teilen ihn mit dir.»

«Immer?», fragte Dshirah. «Immer, wenn es regnet?»

«Du wirst die Regenzeit hier nicht erleben», tröstete Una. «Dann bist du längst da, wo es noch weniger regnet.»

Eines konnte Dshirah sich nicht abgewöhnen: beim Gang über den Platz die Statue des Armei dan Hasud zu grüßen. Dann wurde Una manchmal etwas unwillig und zog sie weiter, riss an ihrem Arm, fast ein wenig grob, und einmal sagte sie: «Du solltest dir das abgewöhnen.»

«Ist es gefährlich?», fragte Dshirah.

«Nein, nur dumm.»

«Aber ich verstehe das nicht.»

Una schüttelte den Kopf.

«Natürlich nicht. Wie dumm dieses Buch über das Vergessen ist, das der kluge Mann da geschrieben hat, kannst du wohl noch nicht verstehen. Aber, Dshirah, er ist doch schuld an deinem ganzen Elend.»

Das verstand Dshirah erst recht nicht.

«Hasud hat alles geregelt», erklärte Una, «und auch die Kalifen müssen sich an die Gesetze halten.»

«Das ist doch gut», unterbrach Dshirah.

«Ja, das ist gut. Aber es gibt ein Loch in diesem Gesetzbuch. Sie wissen nicht, wie sie ihre Verbrecher loswerden sollen. Köpfen, wie es bei den Araminen immer Brauch war? Oder hängen, wie die Barden das gemacht haben? Hasud hat das nicht festgelegt. Niemand in diesem Land will etwas mit Tod zu tun haben, und niemand will an so etwas schuld sein. Da schicken sie lieber alle nach En-Wlowa und machen ein Loch in die Mauer. Auf der Flucht erschießen geht schnell, niemand hat ein Todesurteil gesprochen, und der Flüchtende ist selber schuld.»

Dshirah schaute in das stille, friedliche Gesicht des steinernen Weisen. Es war fleckig. Jemand hatte es mit Dreck beworfen.

«Er hat es gut gemeint», fuhr Una fort, «ja, und dann hat er diese Sieben Sagen wieder bekannt gemacht. Weil die Sechste Sage genau mit der Frage endet, die er nicht beantworten wollte: Wie tötet das Gesetz die Verbrecher? Und, Dshirah, Armei dan Hasud kann alles mit seinem klugen Verstand erklären, er hat uns beigebracht, nur an das zu glauben, was wir mit eigenen Augen sehen können, aber wenn es um das Dshinnu geht, ist er ein Träumer, ein – Spinner! Das ist doch alles Unsinn mit dem Dshinnu in der goldenen Wiege oder mit den sieben Nächten, in denen das Dshinnu die Siebte Sage träumen soll! Du bist ein ganz gewöhnliches Kind.»

«Ja!», rief Dshirah. «Ich will ein ganz gewöhnliches Kind sein, das seine Mutter lieb hat und seinen Vater und seinen Bruder. Und meine Freundin. Und meine Hunde und meine Pferde und – dich!»

Sie warf sich in Unas Arme, aber am nächsten Tag grüßte sie den alten Weisen wieder. Er hatte von allen Menschen in En-Wlowa das friedlichste Gesicht.

Tage – oder Wochen – geschah nichts. Dshirah konnte nichts tun als warten und denken und denken und denken und denken. Sie drückte sich eng an Una. Dann konnte sie immer für eine halbe Stunde aufhören, an ihre Mutter zu denken. Manchmal setzte sie sich in den Schatten und dachte nur darüber nach, an was sie denken könnte. Es sollte etwas sein, das nicht wehtat. Aber alles, was ihr einfiel, tat weh: Zaiira und die Mutter, Januão und der Vater, die Pferde und die Hunde … Sie überlegte, warum es hier keine Hunde gab, sie fragte, erhielt keine Antwort, fragte wieder, fragte nicht mehr, als sie beobachtete, wie ein Mann Fliegen erschlug und aß.

Und dann wurde etwas anders.

Es waren zuerst nur Geräusche, die es vorher nicht gegeben hatte. Sie waren außerhalb der Blumenmauer, im Süden, an der Seite zum Hügel, Stimmen, Männerstimmen, sie kamen jeden Tag wieder. Man hörte auch Hämmern und Klopfen. Manche im Lager zeigten so etwas wie Hoffnung oder gar Freude. Sie hatten keinen Grund zur Freude. Aber konnte nicht alles, was ein bisschen anders wurde, etwas besser machen? Viele aber hatten Angst. Una wirkte besorgt.

«Sie machen dort hoffentlich nichts, was Silbão stören könnte», sagte sie. «Er sollte jetzt kommen und dich herausholen.»

«Silbão?» Juja schaute auf und lachte. «Er kommt bald.»

Viele kletterten auf die Dächer, aber sie konnten nicht über die Mauer schauen. Beim Essenholen sprach sich herum, dass eine Frau entschieden hatte, durch das Loch in der Mauer zu kriechen. Sie wollte nicht fliehen. Sie wollte nur, verborgen hinter den Blumen, ein Stück auf die Geräusche zugehen und sehen, was die Männer da machten. Man warnte sie:

«Du wirst ohnmächtig in den Blumen.»

«Die Fliegen bringen dich um.»

Aber sie versuchte es. Am Nachmittag verschwand sie in dem Blumenschleier an der Innenseite. Es war voll am Dorfrand. Una, Juja und Dshirah konnten nicht viel sehen, denn sie standen ganz hinten. Die Frau war bald zurück. Una hob Dshirah hoch, und Dshirah sah die Frau taumeln. Man hörte sie schreien, dann stürzte sie. Dshirah hatte nicht verstanden, was sie geschrien hatte. Sie reckte sich hoch in Unas Armen, versuchte zu sehen, zu hören. Aber da stellte Una sie grob auf die Füße, griff nach ihrer Hand und auch nach Jujas, zog beide fort, hinein ins Dorf. Es war eine Flucht. Aber es war zu spät. Hinter ihnen schrien jetzt die anderen, und die konnte man verstehen. Dshirah zappelte und schrie auch. «Una! Sie haben – sie haben –» Una drückte ihren Kopf fest gegen ihren Hals und flüsterte ihr zu: «Sag es Juja nicht. Sag es wenigstens Juja nicht.»

Es gab kein Loch mehr in der Mauer. Jetzt war Dshirah wirklich im Gefängnis.

Sie konnte nicht schlafen in der Nacht. Una auch nicht. Sie flüsterten miteinander, während Juja lächelte und wahrscheinlich von ihrem Kind träumte. Juja war die Einzige in En- Wlowa, die noch nicht wusste, dass es kein Loch mehr in der Mauer gab.

«Nicht verzweifeln», flüsterte Una Dshirah zu. «Das ist es nicht, was die Männerstimmen da gemacht haben, nicht nur das. Sie haben nicht nur das Loch zugemacht. Wir hören doch die Stimmen an einer anderen Stelle, viel weiter östlich, viel.»

«Und was glaubst du, was sie da machen?», fragte Dshirah.

Sie bekam keine Antwort. Una streichelte über ihren Kopf und fing an zu singen, wie sie Juja oft beruhigte, nur leiser.

Und am nächsten Tag vergaß sie eben dieses Singen.

Es war noch in den Morgenstunden. Da sahen sie, dass an der Südseite außerhalb der Mauer Balken aufgerichtet wurden, die hoch über die Blumen ragten. Dshirahs Blick hing voller Angst und Fragen an Unas Gesicht. Und sie sah in Unas Augen ein unruhiges Flackern. Da waren vielleicht weniger Fragen, aber genauso viel Angst.

«Silbão?», fragte Juja. Sie flüsterte: «Er kommt nicht.» Und sie schrie: «Nie wieder!»

Sie sank in sich zusammen und sang: «Abdalameh, Abdalameh.»

Una starrte auf das Gerüst im Süden, und Jujas Stimme glitt in den Totengesang.

Auf der Mauer stand ein Mann. Er schlug mit einem großen Messer, fast ein Schwert, auf die Blumen ein. Sie fielen hinab nach En-Wlowa, lange Girlanden aus riesigen Blüten. Jujas Lied zerbrach in Schluchzer. Una schwieg noch immer.

Und die anderen? Die vielen anderen? Sie schrien oder lachten oder fluchten oder tanzten oder zitterten – und keiner wusste warum.

An diesem Tag geschah nichts mehr. Sie hatten also noch eine Nacht, voller Grübeln, voller Angst – ohne Schlaf. Und eine kleine, verrückte, vollkommen sinnlose Hoffnung war auch dabei. Dshirah kuschelte sich an Una und träumte, sie läge wieder in den Armen ihrer Mutter.

Die Siebte Sage

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