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Freundschaft

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Ein paar Herzschläge lang saßen die beiden Mädchen schweigend nebeneinander. Dshirah kuschelte sich in das schützende Weinlaub und zog Blätter über das Zeichen des Hirten kindes auf ihrer Schulter. Sie war in Sicherheit und war froh, so froh …

Dann sprang Zaiira auf.

«Ich hole dir dein Hemd», flüsterte sie, «und – und – Schuhe …»

Sie lief ein paar Schritte über den knisternden Kiesweg, blieb stehen, kam zurück, wollte ihre Sandalen ausziehen.

«Besser als nichts», hauchte sie.

Ihr Gesicht hatte noch immer die erschrockene Blässe unter der araminisch dunklen Haut.

«Lass nur», sagte Dshirah, die Füße unter der Bank verborgen, «hier vertreibt mich doch niemand. Ich lese.»

Sie griff nach Zaiiras Buch, ließ ihre Augen über die Seiten gleiten. Lesen konnte sie die araminische Schrift kaum. Sie war bis jetzt nur zehn Tage zur Schule gegangen. Zaiira lächelte, legte eine Hand an Dshirahs linke Schläfe, ein kleines, leichtes Streicheln, dann ein deutlicher Schubs.

«Danke», lachte Dshirah, «ich passe auf.»

Oh ja, sie musste achtgeben. Wenn sie auch das Buch nicht las, so musste sie doch die Augen von rechts nach links über die Seiten führen. So schrieben die Araminen. Die Barden hatten eine andere Sprache, die inzwischen fast vergessen war. Sie hatten auch eine andere Schrift und sie schrieben von links nach rechts. Das aber hatten die herrschenden Araminen in diesem Land seit mehr als vierhundert Jahren verboten. Nur heimlich unterrichteten die Barden ihre Kinder in ihrer eigenen Schrift. So hatte Dshirah zuerst von links nach rechts lesen gelernt, bevor sie vor zehn Tagen in die Hirtenschule kam.

Zaiira war schnell zurück. Sie brachte das Hemd, das Dshirah in eine Generalstochter verwandelte, und ein paar Reitstiefel aus weichem gelbem Leder.

«Andere feste Schuhe habe ich nicht gefunden», sagte sie. «Damit kannst du nicht nach Hause gehen. Unser Zeichen ist in den Absatz gebrannt.»

Nein, Dshirah konnte auf dem Heimweg nicht zugleich ein Hirtenhemd tragen und auf allen feuchten, lehmigen Stellen am Fluss Spuren des Hauses Al-Antvari hinterlassen.

«Hier bei euch geht es», sagte Dshirah. «Silbão ist hinter mir her. Wenn er weg ist, kann ich barfuß nach Hause laufen.»

Sie wollte nach dem rechten Stiefel greifen, aber Zaiira zog ihn zurück.

«Warte», flüsterte sie.

Dann kniete sie vor Dshirah und nahm den rechten bloßen Fuß der Freundin in beide Hände. Ihre Finger glitten über die Zehen, zögernd, von einem zum anderen, als wollte sie es nicht glauben: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – und zurück: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.

«Bitte», sagte sie, «Dshirah, lass mich drei Sonnenblicke lang genießen, dass meine Freundin das lang ersehnte Kind mit den sechs Zehen ist. Drei Sonnenblicke lang genießen. Bis das Unglück über dich hereinbricht.»

«Wirst du», Dshirah zitterte, «mich verraten?»

«Nie!», Zaiira schüttelte heftig den Kopf. Sie streifte den gelben Stiefel über Dshirahs Fuß.

«Dann wird es kein Unglück geben», sagte Dshirah. «Nur meine Eltern und mein Bruder wissen es. Silbão und die anderen Jungen haben nichts gemerkt, als ich den Schuh verlor. Hast du ein Messer? Ich muss das Band vom linken Schuh aufschneiden.» Zaiira lief über den Kiesweg bis zum Rosentor. Da sollte ein neues Mosaik gelegt werden, es mussten dort bunte Steine mit scharfen Kanten sein, und sie brachte eine leuchtend rote Scherbe.

«Deine Eltern sind nicht hier?», fragte Dshirah. «Und kommen auch nicht so bald?»

Zaiira schüttelte den Kopf: «Mein Vater ist beim Kalifen, und meine Mutter ist im Krankenhaus und besucht mal wieder bardische Kinder.»

Dann warf sie den Kopf zurück, schaute Dshirah an und stieß heraus: «Warum haben deine Eltern das getan? Warum halten sie dich verborgen? Dshirah, ich muss immer mit den Kindern des Kalifen spielen. Sie haben mir die goldene Wiege gezeigt, in der du hättest liegen sollen.»

«Wo ist die?», fragte Dshirah und hielt ihr den linken Fuß hin. «Wie sieht sie aus?»

«Sie steht mitten im Frauenpalast und – oh – sie ist ganz aus Gold mit einem Himmel aus goldener Seide. Sie steht auf Kufen, die enden in kleinen Schnecken, so …» Ihre Finger malten kleine Schnecken in die Luft. «… und wenn sie weit genug schwingt, so hin und her, schlagen die Schnecken an goldene Glöckchen, die machen Töne wie – wie – lachende Sonnenstrahlen, die über die Dächer von Palästen stolpern.»

Dshirah lehnte den Kopf an die Wand und murmelte: «Lachende Sonnenstrahlen, die über die Dächer von Palästen stolpern … Manchmal denke ich, es wäre schön gewesen.»

Zaiira säbelte mit der roten Scherbe an Dshirahs Schuhband.

«Warum haben deine Eltern das gemacht?», presste sie durch die Zähne. «Jetzt ist alles verloren. Oder …», sie schaute auf, «… kennst du vielleicht die Siebte Sage?»

Dshirah schüttelte den Kopf, und Zaiira säbelte weiter.

«Siehst du», murmelte sie, «siehst du. Jetzt ist alles verloren. Und wenn der Kalif jemals herausbekommt, dass das Kind mit sechs Zehen längst geboren ist, und es wurde ihm nicht gebracht – Dshirah, er muss euch töten, alle miteinander.»

«Ich weiß», flüsterte Dshirah. «Verrätst du mich?»

«Niemals! Ich bin deine Freundin. Aber du musst mir sagen, warum deine Eltern das gemacht haben.»

Sie zerriss das Band, zog Dshirah den linken Schuh aus, zuckte zusammen. Hatte sie gehofft, dass die Freundin an diesem Fuß nur fünf Zehen hätte? Es waren sechs. Sie blickte auf.

«Sag es mir!», verlangte sie. «Warum?»

«Weil wir Barden sind», erklärte Dshirah. «Wir glauben eben nicht, dass irgendein Kind mit sechs Zehen das Dshinnu aus den Sieben Sagen ist. Nur weil es auch sechs Zehen hat. Also haben meine Eltern auch nicht geglaubt, dass ich die verlorene Siebte Sage erzählen kann. Auch nicht, wenn ich in der goldenen Wiege schlafe. Und – was wäre dann gewesen? Der Kalif hätte mich doch getötet.»

«Ich weiß nicht», sagte Zaiira. «Kalif Hisham tötet gar nicht so gern.»

Doch Dshirah schüttelte den Kopf.

«Er hätte es getan! Wenn seine Richter und Gelehrten das Urteil fällen: das ist nicht die Siebte Sage, dann wird das Kind mit den sechs Zehen getötet. Und seine Familie dazu. Damit wieder ein Kind mit sechs Zehen geboren werden kann. Meine Eltern haben mir das alles erzählt.»

«Ja», meinte Zaiira, «aber vielleicht hättest du ja doch … Und Armei dan Hasud hat gesagt …»

«Nein!», Dshirah schüttelte heftig den Kopf. «Ich bin nicht das Dshinnu aus den sechs Geschichten. Ich habe sechs Zehen, na und? Wir Barden glauben das alles nicht.»

«Und was glaubt ihr?»

«Das wirst du doch wissen.»

«Nein! Dshirah, ich gehe auf eine araminische Fürstenschule. Von den Barden erzählen sie uns nichts.»

«Ah», sagte Dshirah, «so.»

Und dann sprudelte es aus ihr heraus.

«Die Sieben Sagen sind unsere Geschichten! Nicht eure! Ihr habt sie uns gestohlen wie unser Land. Ihr habt alle unsere Bücher zerstört. Dabei ist die Siebte Sage verschwunden. Und viele Jahre konnten wir nichts von unseren Geschichten erzählen, bis alles vergessen war. Dann endlich haben die Araminen gemerkt, dass Barden auch Menschen sind. Kalif Obajan war ein gerechter Herrscher. Und seitdem geht es uns hier gut, und sechs Geschichten von den sieben hat man gefunden. Aber die siebte Geschichte ist weg. Und dass ein Kind mit sechs Zehen kommt und nur weil es in einer goldenen Wiege beim Kalifen aufwächst, dann mit sieben Jahren diese Sage erzählen kann, das ist Unsinn, Zaiira, Unsinn!»

«Leise. Bitte», sagte Zaiira, «nicht so laut.»

«Mein Vater», murmelte Dshirah, «mein Vater meint, das ist nur, weil die Richter nicht wissen, wie sie ein – was für ein Todesurteil sie sprechen müssen. Es gibt da kein Gesetz. Darum soll das Dshinnu das machen. Die Siebte Sage erzählen, und dann haben sie ihr Gesetz. Das kann ich nicht. Das will ich nicht!»

Zaiira setzte sich neben Dshirah auf die Bank. Beide schauten in den Patio, aber Dshirah sah nichts, nicht das Rosentor, nicht die Pomeranzenbäume, auch nicht zwischen den Lorbeerbäumen die Fontänen des Brunnens, bunt gefärbt von Blumen und Fliesen.

«Aber Geschichten vergisst man doch nicht», sagte Zaiira. «Man erzählt sie weiter und immer weiter, auch wenn keine Bücher da sind. Das ist doch bei uns genauso.»

«Ja …», Dshirah zögerte, «ja … du weißt nicht viel von euch, Zaiira, sie erzählen euch in eurer Schule nichts von uns und nicht viel von euch. Aber wir reden ja auch nicht gern davon.»

«Wovon? Komm! Sag es mir!»

Aber Dshirah schüttelte den Kopf: «Meine Mutter sagt immer, ich soll das keinem araminischen Kind erzählen. Wir leben gut jetzt hier mit euch. Meine Mutter meint, das müssten die Araminen ihren Kindern selber sagen.»

Zaiira drängte nicht mehr.

«Mein Vater wird es tun, wenn es richtig ist», flüsterte sie. «Er hat mir beigebracht – du, jetzt verrate ich dir ein Geheimnis –, er hat mir gesagt, ich soll immer, wenn ich einen Barden begrüße, mit dazu denken: ‹Und ich bitte dich, verzeih mir.› Aber er hat mir nicht gesagt, warum.»

Die beiden Mädchen schauten sich an. In Zaiiras Blick lag eine Bitte. Dshirah nickte und hielt der Freundin die offene Hand hin. Zaiira legte einen Zeigefinger auf Dshirahs Handgelenk und suchte, bis sie den Puls fühlte. Da schloss sie die Augen. Sie saßen reglos, bis sie beide spürten, dass ihre Herzen im gleichen Takt und Rhythmus schlugen. Das war ein alter bardischer Brauch für Herzensfreunde. Niemand wusste, ob er aus uralten Zeiten stammte und im Gegensatz zu den Büchern nicht hatte zerstört werden können, oder ob er entstanden war, als die Araminen die Barden so schlimm unterdrückten.

Die beiden Mädchen nahmen ihre Hände wieder zu sich, und die schreckliche graue Blässe unter Zaiiras dunkler Haut war verschwunden.

«Du musst nach Hause», sagte sie. «Komm!»

Gemeinsam sprangen sie durch den Patio über knisternden Kies, über farbige Mosaike. Sie liefen durch den hinteren Teil des Hauses, wo die Verwalter und Diener wohnten, und wieder hinaus, nun auf sandigen Wegen, in die Dshirahs Absätze das Zeichen des Hauses Al-Antvari drückten. So hüpften sie am Reitplatz vorbei, wo ein paar Jungen mit den dreijährigen Fohlen übten, ruhig auf einem Fleck zu stehen. Als die Mädchen vorbeirannten, sprangen fünf junge Pferde zugleich in die Luft, schnaubten, prusteten, quietschten, buckelten, stiegen.

Zaiira legte einen Arm um Dshirahs Schulter.

«Wahrscheinlich hast du recht», zischte sie der Freundin ins Ohr. «Wenn Kalif Hisham wüsste, dass du sechs Zehen hast – er ahnt es nicht! Liebe Sonne, Dshirah, er ahnt es nicht, und ich weiß es! Ich glaube, er würde dich sofort den Rechtsgelehrten geben, damit sie aus dir herausquetschen, ob man die zum Tode Verurteilten nun hängen oder köpfen soll.»

«Das könnte ich ihnen sogar erzählen», sagte Dshirah. «Dazu brauche ich die Siebte Sage nicht. Ich weiß ja, dass sie aus unserem Volk kommt. Wenn wir die Siebte Sage fänden, würde die grässliche Köpferei endlich aufhören.»

«Ich glaube nicht, dass die Gehängten schöner sind», sagte Zaiira.

«Immerhin sind die Köpfe noch dran», meinte Dshirah.

Zaiira blieb stehen.

«Hast du mal einen gesehen?», fragte sie atemlos.

«Liebe Sonne nein!!!» Dshirah schüttelte sich. «Einen Toten! Nie!»

Sie liefen weiter und erreichten die Stallungen. Von hier konnte Dshirah über die Ebene laufen, ohne von der Stadt aus gesehen zu werden.

«Kann ich deine Sandalen haben?», fragte sie. «Es ist doch besser als nichts, und mein rechter Fuß tut mir weh. Kein Kind in Al-Cúrbona ist das Barfußlaufen so wenig gewöhnt wie ich.»

«Natürlich kriegst du die Sandalen. Aber nicht zum Laufen. Ich gebe dir Dshalla.»

Dshirah blieb stehen.

«Das kannst du nicht wagen. Ich kann sie heute nicht mehr zurückbringen.»

«Du lässt sie einfach bei der Herde. Sie fällt zwischen den wilden Stuten nicht auf. Und morgen bringst du sie zurück.»

Zaiiras eigene Stute Dshallalalama hatte die gleiche helle Falbfarbe wie die halbwilden Sorraia-Pferde, nur nicht die dunklen Querstreifen an den Beinen.

«Das geht», überlegte Dshirah, «Januão zählt die Herde immer schon auf dem Heimweg. Wenn da hinterher eines mehr ist, merkt das keiner. Und sie ist tragend, ja? Du bist sicher? Wir haben den Hengst.»

«Umso besser. Wenn sie noch nicht tragend ist, wird er sie decken. Er ist doch ein Vollblut.»

«Danke», sagte Dshirah. «Dann komme ich auch nicht gar so spät heim. Meine Eltern haben es nicht gern, wenn ich in der Stadt bin. Du weißt jetzt, warum.»

Dshallalalama war zusammen mit den anderen Stuten der Al-Antvaris im Sandauslauf. Sie langweilte sich und kam sofort, als sie die Mädchen sah. Zaiira legte ihr ein leichtes Schnurhalfter an. Das genügte Dshirah zum Reiten. Dann tauschten sie die Schuhe. Noch einmal hielt Zaiira einen von Dshirahs Füßen zwischen den Händen, die genauso heftig zitterten wie Dshirahs Fuß und Stimme, als sie wieder und immer wieder sagte: «Es ist nichts Besonderes. Es ist gar nichts Besonderes. Ich bin deine ganz gewöhnliche Freundin. Das einzige Besondere ist, dass ich ein Hirtenkind bin, und du bist eine Fürstentochter.»

Dann schloss sie die Schnalle der Sandalen. Die gelben Stiefel lagen noch am Boden, Zaiira hatte keinen Grund, ihre Füße zu verbergen. Dshirah schlüpfte aus dem Generalshemd. Sie führten die Stute zu dem Stein, den man zum Aufsteigen benutzte, und Dshirah sprang auf Dshallalalamas Rücken.

«Es stimmt nicht, was ich gerade gesagt habe», flüsterte sie. Dabei legte sie den Kopf an Dshallas Hals, so tief, dass sie fast Zaiiras Stirn berührte. «Das wirklich Besondere an unserer Freundschaft ist – ist –, dass du mir hilfst, auch wenn es für dich gefährlich ist. Zaiira, wenn irgendjemand erfährt, dass du es weißt …»

Zaiira nickte. Ihr dunkles Haar streifte Dshirahs Stirn. Sie führte die Stute durch den Torbogen hinaus ins freie Feld. Beide Mädchen blickten über das Gelände.

«Silbão ist längst nach Hause gegangen», sagte Dshirah.

«Jetzt reite!» Zaiira ließ ihr Pferd los. Dshirah zögerte.

«Zaiira», sagte sie, «jedes Mal, wenn ich dich grüße, werde ich jetzt denken: Ich danke dir, meine Freundin, ich danke dir.»

Und sie drückte der Stute die Schenkel in die Seite. Sie drehte sich nicht mehr um. Es war kein schwerer Abschied von der Freundin. Sie glaubte ja, dass sie sich bald wiedersähen.

Obwohl sie einen Umweg reiten musste, würde sie viel schneller sein als zu Fuß. Auf geradem Weg zu ihrem Elternhaus führte nur ein schmaler Steg über den Fluss. Da kam man mit einem Pferd nicht hinüber. Sie musste den Fluss überqueren, wo das Wasser niedrig war. Also lenkte sie die Stute nach Nordwesten. Nur einmal schaute sie nach rechts, sah in der Ferne an dem Steg einen Reiter stehen, wunderte sich kurz: Was wollte der Mann da mit einem Pferd? Aber dann sprang Dshalla die Böschung hinunter und sie konnte den fremden Reiter nicht mehr sehen.

Sie genoss den Ritt über die weite Ebene wie niemals zuvor. Sie saß auf einem Vollblutpferd, einem echten Vollblutpferd, und es war nicht irgendeines, es war Zaiiras. Sie hielt die dünnen Lederzügel mit der Rechten, das Handgelenk der Linken aber legte sie an ihre Schläfe, dahin, wo die Haut am dünnsten war. An dem Handgelenk hatten Zaiiras Finger den Puls gefühlt, bis ihre Herzen wie ein einziges doppeltes schlugen. Und sie ritt Zaiiras Pferd. Sie war so glücklich, dass sie nicht aufhören konnte, glücklich zu sein, als sie vor dem kleinen weißen Haus ihrer Eltern elf fremde Pferde sah. Die standen dort mit hängenden Zügeln und dem Zeichen der Polizei auf der Satteldecke. Sie waren nicht angebunden, sie standen und rührten sich nicht, als Dshirah an ihnen vorbeiritt. Das waren vorzüglich erzogene Pferde hoher Polizeioffiziere. Und Dshirah war so glücklich, dass sie immer noch keine Angst hatte.

Aber sie ritt um das Haus herum und mied den Eingang.

Elf. Elf Polizeioffiziere im Haus ihrer Eltern? Manchmal kam einer, um die Fohlen des letzten Jahres zu prüfen, denn die Polizei ritt immer Halbblüter, deren Mütter halbwilde Sorraia-Stuten waren und der Vater ein Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Aber elf ! Was konnte so wichtig sein, dass die auf einmal zu einem Pferdehirten kamen? Und elf war eine Zahl, die im ganzen Land gemieden wurde. Die Lieblingszahl des Kalifen war zwölf. Am Steg, dachte sie, der zwölfte Reiter steht am Steg.

Sie sprang vom Pferd. Run, Lont und Moia kamen ihr entgegen, die drei Hirtenhunde ihrer Familie, groß, gelb, mit langem, feinem Haar und mit einer schwarzen Maske im Gesicht, auch Beine und Schwanzspitze waren schwarz. Nur die Pferdehirten hatten solche Hunde, die eigentlich Windhunde waren aus dem Zwinger des Kalifen für die Jagd. Alle drei kamen lautlos, still – kein Bellen, kein Fiepen, kein wildes Begrüßen wie sonst, wenn sie Dshirah sahen. Run, die Jüngste, wedelte heftig mit dem Schwanz und hechelte, die anderen taten nicht einmal das. Also hatten ihr Bruder oder ihre Mutter oder ihr Vater den Befehl: «Still allem!!!», gesprochen. Die Hunde waren so gut erzogen wie die Pferde der Polizeioffiziere. Run leckte Dshirahs Hand und konnte gar nicht damit aufhören. Dshirah streichelte sie und band Dshallalalama an der Rückseite des Hauses an. Sie stieg durchs Fenster in das Zimmer, das sie sich mit ihrem Bruder teilte – und schaute in Silbãos dunkle, vor Schreck und Angst so weit aufgerissene Augen, dass sogar dieses Gesicht nur noch verzerrt und gar nicht mehr schön war.

Die Siebte Sage

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