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Flucht ins Gefängnis

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Silbão legte eine Hand auf seinen halb offenen Mund und stellte sich vor die Tür, die zum Patio führte. Er schaute auf Dshirahs Füße. Die Sandalen verdeckten die äußeren Zehen, ließen die mittleren frei, und nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass es hier nicht drei, sondern vier mittlere gab. Silbãos Hand fiel herunter.

«Es ist wahr», hauchte er.

Dshirah schluckte.

«Wie – wie hast du es gemerkt?»

«Du musst fliehen», sagte er. «Sofort! Sie sind schon da. Sie dürfen es nicht sehen. Nie! Dann haben sie keinen Beweis.»

Dshirahs Herz überschlug sich. Es verlor den Takt, der in Zaiiras Hand gepocht hatte. Wer hatte sie verraten? Wer? Die Jungen! Es mussten die Jungen gewesen sein. Sie hatten es also doch gesehen. Bevor sie die Gefahr spürte, die jetzt ihrem Leben drohte, hatte sie Angst, ihr Glück zu verlieren, das Glück, das Zaiira hieß.

Nein!, dachte sie. Zaiira war es nicht. Die Zeit war ja auch viel zu kurz. Nein!

Der Gedanke beruhigte sie und sie konnte fragen: «Was ist geschehen?»

«Du bist über die Baustelle gelaufen. Du bist auf den Sand getreten. Mit dem – dem Fuß da. Die Arbeiter haben geschimpft. Und als sie deinen Fußabdruck wegharken wollten, haben sie es gesehen. Kirr hat verraten, wer du bist.»

Kirr! Ein Barde wie sie!

«Ich bin dir weiter nachgelaufen», fuhr Silbão fort. «Ich wollte dich warnen. Ich glaube nicht, dass so eine Spur im Sand ein Beweis ist. Du musst weg. Wenn sie dich nie sehen … aber ich weiß nicht, wohin? Weißt du wohin?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Der Kalif wird dich suchen lassen. Überall. Es gibt keinen Ort, wo er nicht suchen wird, wir müssen Januão fragen. Der ist klug. Ich bin nicht so klug.»

«Wo ist er?»

«Was? Was sagst du?»

Silbão konnte sie nicht mehr verstehen. Die Angst hatte angefangen, ihre Stimme zu zernagen. Sie schluckte.

«Wo ist er?»

«Im Patio. Ich glaube, ich kann ihn holen.»

Er öffnete die Tür einen Spalt. Geschützt vom Dunkel des Raumes blickte sie in den Hof und sah ihre Eltern an dem kleinen Brunnen sitzen. Das Gesicht der Mutter war so weiß wie der gekalkte Brunnenrand. Der Vater wandte ihr den Rücken zu. In dem kleinen Patio saßen die Polizeioffiziere, sie rauchten oder aßen Trauben, sie tranken Tee, sonst taten sie nichts. Sie warteten. Januão sah Dshirah nicht. Aber Silbão schien zu wissen, wo er war. Er schlüpfte durch den Türspalt und kam gleich darauf mit dem Freund zurück.

Die Geschwister schauten sich an.

Wie die sich anschauen konnten, die zwei! Es gab vielleicht im gesamten araminischen Reich keinen anderen Menschen, dem Dshirah oder Januão so gerade, so geradewegs in die Augen schauen konnten. Ihre Blicke passten zusammen. Sie hatten beide die gleichen weit auseinanderstehenden Augen. Es war, als seien ihre Augen nach außen gerutscht, an den Rand des breiten Gesichts, an die äußerste Grenze des menschlichen raubtierähnlichen Blicks. Ein wenig mehr noch und die Augen wären an der Seite gelandet, wie bei Pferden und Rindern und Hirschen, wie bei allen Tieren, die nicht jagen, sondern gejagt werden. Und zwischen den Augen war reichlich Platz für das strähnige helle farblose Haar, das ihnen von der Stirn fiel.

Manchmal aber brach Januão aus dem Geschwisterblick. Wenn er lautlos, tief im Innern, ein neues Lied sang, das er für sich und die Pferde spielen würde, dann verloren seine Augen jeden Blick. Er lief dann gegen den Tisch oder die Truhe oder die Tür, und seine Mutter Chomina musste ihm immer wieder sagen: «Vergiss das Schauen nicht. Verlern es nicht. Sonst wirst du noch blind.»

Januão war ein Jahr älter als seine Schwester, aber nicht größer, weil er so sehr kurze Beine hatte.

«Dir ist etwas eingefallen?», fragte Silbão. «Du weißt, wo wir sie hinbringen können?»

Januão nickte.

«En-Wlowa», sagte er, und Silbão wurde blass.

«Da geht niemand freiwillig hin.»

Januão zuckte die Achseln.

«Ich weiß kein anderes Versteck.»

«A-a-aber», wenn Silbão aufgeregt war, fing er immer an zu stottern, «aber ist es nicht besser, sie geht zu dem Kalifen? Du kannst so gute Geschichten erzählen. Warum erfindest du nicht die Siebte Sage?»

«Das haben schon viele versucht, aber noch nie haben die Richter und die Gelehrten so eine Geschichte als Siebte Sage anerkannt. Alle warten auf etwas – keine Ahnung auf was, ja, sie warten auf etwas, das sie nicht erwartet haben.»

Der Gedanke an En-Wlowa hatte Dshirah nur wenig erschreckt.

«Muss ich da lange bleiben?», fragte sie. «Ich kenne da niemanden.»

«Du musst bleiben, bis sie dich hier nicht mehr überall suchen. Dann hole ich dich und bringe dich übers Meer. Die Eltern kommen nach. Wir gehen alle nach Afrika. Die Mutter hat immer gewusst, dass dies eines Tages geschieht.»

Da erst erschrak auch Dshirah. Sehr!

«En-Wlowa», murmelte Silbão. «Oh, es ist schlimm. Wir kriegen sie rein, aber nie wieder raus.»

«Wir kriegen sie genauso raus, wie wir es immer mit dir gemacht haben», sagte Januão.

Silbão schüttelte heftig den schönen, störrischen Kopf.

«Ich habe immer gewusst, dass du am nächsten Tag um dieselbe Zeit die Pferde vorbeirufst. Wie soll sie das wissen, wenn sie Wochen da drin ist?»

«Indem du hineingehst, Silbão, und es ihr sagst. Wir brauchen dich.»

Dshirah erholte sich nicht von ihrem Schreck. Es war jedoch nicht En-Wlowa, was sie entsetzte. Sie kannte von dem Gefängnis des Landes nur die Blumenmauer. Es war der Gedanke an Afrika, der ihr alle Freude nahm.

«Wir gehen fort?», flüsterte sie.

Und sie dachte an Zaiira. Januão nickte.

«In der Wüste wissen sie nichts von den sieben Geschichten. Wir hätten längst gehen sollen. Mutter sagt, vor zwanzig Jahren ist ein bardisches Kind mit sechs Zehen da untergetaucht, ein Junge. Der Kalif hat es nie erfahren.»

«Es hat schon mal ein Kind mit sechs Zehen gegeben?» Dshirah wunderte sich. Ihr Bruder nickte: «Das ist gar nicht so selten in unserem Volk. Komm!»

Zum ersten Mal, seit das Unglück begonnen hatte, musste Dshirah weinen. Januão legte ihr die Hände auf die Schultern. Auch in ihre weinenden Augen passte Blick in Blick, denn auch in seinen standen Tränen.

«Wir werden dort keine Not leiden», versuchte er zu trösten. «Es gibt da wundervolle kleine Pferde. Ganz sicher folgen die mir so gut wie unsere hier. Und ganz gewiss brauchen sie dort einen Pferdepfeifer.»

Aber Dshirah schüttelte den Kopf.

«Du darfst dort barfuß gehen», versprach Januão, «und die Hunde können wir mitnehmen, und, Dshirah, du darfst dort eine Freundin haben, hörst du! Eine Freundin! Das war doch immer dein größter Wunsch.»

Er schloss die Augen, als er das sagte, und von Silbão hörten sie einen leisen Schluchzer.

«Ja», hauchte Dshirah, «ja.»

Januão ließ sie los.

«Wir gehen jetzt», sagte er.

Er holte aus der Kleiderkiste ein paar weiche geschlossene Lederschuhe, sie zog die Sandalen aus. Januão erstarrte.

«Wo hast du die her?», fragte er.

«Gestohlen», behauptete sie, «in der Schustergasse.»

«Gib her!»

Er drehte die Sandalen in seinen breiten, klotzigen Händen, von denen kein Fremder erwartet hätte, dass er damit Flöte spielte.

«Das ist gut», murmelte er. «Das ist gut.»

Er blickte auf, schaute seine Schwester an.

«Geh in dein Versteck!», befahl er.

«Mein Versteck!», rief Dshirah leise. «Ich kann doch einfach in meinem Versteck bleiben!»

Aber Januão schüttelte den Kopf.

«Nein! Da bist du nur sicher, solange dich Polizisten suchen. Polizisten sind dumm. Sie haben nichts zu tun. Die können nichts mehr, als ihre Pferde ausbilden. Morgen werden sie Soldaten schicken. Die finden dich dort. Geh.»

Sie stiegen beide auf die Truhe und schoben ein Brett in der Decke beiseite. Dann half er ihr in den doppelten Boden zwischen Decke und Dach. Da konnte sie nur liegen und warten, nichts sehen, aber hören. Doch es blieb still. Wie lange? Sie hatte hier manchmal liegen müssen. Zum Üben für den Notfall. Und jedes Mal war ihr die Zeit entsetzlich lang geworden.

«Im Notfall», hatte ihr Vater immer gesagt, «wirst du froh sein über jeden Herzschlag, den du da in Sicherheit bist.»

Sie war aber nicht froh. Es war eng und fast dunkel, nur durch die Ritzen der Bretter kam ein wenig Licht.

Ja, dachte sie, morgen kommen Soldaten, und die sind nicht dumm.

Polizisten galten als dumm in Al-Cúrbona. Es gab keine Mörder und keine Diebe im Land, fast nicht. Das lange Nichts-Tun hatte die Polizisten dumm gemacht.

Und dann hörte sie einen Schrei, einen Freudenschrei.

«Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!»

Januãos Stimme.

«Was hast du gefunden?»

Das musste einer der Polizisten sein.

«Dshirahs Sandalen! Sie lagen beim Misthaufen. Dshirah lässt eben immer alles herumliegen.»

Es war eine Weile still. Dann hörte Dshirah den Polizisten.

«Und warum zieht sie in der Stadt keine Sandalen an? Der kleine bardische Junge hat gesagt, sie trägt nie Sandalen.»

«Sie geht doch erst seit zehn Tagen in die Schule.» Das war die Stimme ihres Vaters. «Sie wird schon noch mit Sandalen kommen.»

«Wir warten», bestimmte der Polizist. «Wir bleiben auf alle Fälle, bis sie nach Hause kommt.»

«Darf ich jetzt die Pferde reinholen?», fragte Januão.

Eine Antwort hörte Dshirah nicht, aber wenig später das leise Klopfen an dem losen Brett, das verabredete Zeichen. Sie schob das Brett beiseite.

«Diese Sandalen können uns retten», flüsterte Januão. «Jetzt schnell!»

Er drückte ihr die Lederschuhe in die Hand. Sie schlüpfte hinein, er verknotete die Bänder so fest wie die Mutter. Sie schaute zur Tür mit bittendem Blick.

«Nein!», er schüttelte den Kopf. «Du kannst dich nicht verabschieden. Du siehst sie erst in Afrika wieder.»

Sie kletterten aus dem Fenster. Silbão folgte, ohne zu fragen. Run stand sofort wieder neben Dshirah und leckte ihre Hand.

«Wo kommt das Pferd her?», fragte Januão.

«Ich habe es eingefangen», log Dshirah.

«Das ist ein Vollblut.»

«Ich weiß. Wahrscheinlich gehört es zum Haus Al-Antvari. Ich denke, der Reiter ist runtergefallen. Bring du es morgen zurück.» Januão nickte.

«Das hat dich gerettet», sagte er. «Am Steg über den Fluss steht ein Reiter und wartet auf dich.»

Er band die Stute los.

«Wir lassen sie bei unseren.»

Dshirah nahm ihm die Zügel aus der Hand. Sie legte Dshalla die Arme um den Hals, drückte ihr Gesicht in die dunkle Mähne, wühlte Stirn und Nase durch bis zu dem glatten gelben Fell, trocknete dabei ihre Tränen im feinen Mähnenhaar. Dabei legte sie der Stute eine Hand auf den Rücken. Morgen würde Zaiira wieder dort sitzen. Drei Herzschläge lang fühlte sie sich noch einmal, ein letztes Mal, der Freundin nah, so nah. Und Run stand hinter ihr und leckte ihre Kniekehlen, die ganze Zeit.

«Komm jetzt», flüsterte Januão und tippte leicht auf ihre Schulter.

«Ich muss ihr danken», sagte Dshirah. «Sie hat mich doch gerettet.»

Und sie ließ Januão nicht merken, dass sie nicht die Stute, sondern Zaiira meinte. Ihre Hände flatterten über Dshallas Brust und Hals, über Ohren, Stirn, Nüstern, sie konnte nicht aufhören zu streicheln, zu klopfen, überall da, wo Zaiiras Hände dieses Fell berührt hatten und wieder berühren würden. Und dann hätte sie eigentlich das Gesicht wieder in die Mähne drücken müssen, denn sie hatte sonst nichts, um die Tränen zu trocknen, aber Januão zog sie weiter. Er holte seine Flöte aus dem Schuppen, hängte sie sich um den Hals. Dshirah sah, dass er weinte. Er wählte drei Pferde und vier Halfter aus, gab Dshirah das vierte Halfter, er berührte dabei ihre Hand und hielt sie fest, das wäre nicht nötig gewesen. Dshirah verstand, dass dies ein Abschied war.

Run war ihnen nachgelaufen und wich nicht von Dshirahs Seite.

«Nieder!», befahl Januão leise, aber scharf, und er hob den Arm, als schwinge er eine Peitsche. «Nieder! Hart Leder sonst droht!»

Die Hündin zuckte zusammen und kauerte winselnd am Boden. Sie hatte diese schlimme Drohung aus Januãos Mund noch nie gehört. Dshirah wollte sich zu ihr setzen und sie trösten, aber sie hatte verstanden, was sie zu tun hatte.

Silbão saß als Erster auf dem Pferd. Er konnte am besten aufspringen, und das war gut so, denn er fiel am häufigsten hinunter. Dshirah und Januão führten ihre Pferde zu einem Stein und kletterten hinauf.

«Du erklärst ihr alles», sagte Januão zu seinem Freund, wendete sein Pferd nach Nordwesten und trabte davon, ohne Dshirah noch einmal anzusehen. Die wusste sofort, sie würde ihn so bald nicht wiedersehen. Nur hören. Sie schaute noch einmal auf ihr Haus, auf die Stallungen. Dann presste sie die Augen fest zu. Das Letzte, was sie von ihrem Zuhause wahrnahm, war Run, ein schwarz-gelber zitternder Fleck vor dem Stall.

Sie ritt mit Silbão nach Südwesten. Als sie sich ein einziges Mal umdrehte, war ihr Bruder nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne. Silbão hielt sich mit einer Hand in der Mähne fest, führen musste Dshirah.

«Wir suchen die Herde?», rief sie ihm zu.

Er nickte.

Sie fand die Zuchtstuten schnell. Es ging auf den Abend zu, und die Herde war schon auf dem Heimweg. Es waren 24 Sorraia-Stuten, alles Falben. Sechs hatten schon ihre Fohlen geboren, dunklere, wollige Körperchen sprangen auf endlos langen Beinen um sie herum. Es führte sie Je-ledla, die alte Leitstute, es trieb sie von hinten ein weißer Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Dshirah ritt auf ihre alte Freundin Je-ledla zu. Auf ihr hatte sie reiten gelernt. Um den Hengst kümmerte sie sich nicht. Er würde folgen. Sie legte Je-ledla das Halfter an.

«Wohin?», fragte sie.

«Ich mache bestimmt alles falsch», sagte Silbão.

«En-Wlowa liegt ungefähr da», Dshirah zeigte nach Norden.

Silbão nickte: «Ja, aber wir müssen nach Westen.»

Dshirah ritt mit Je-ledla voraus. Die Herde folgte. Schon stand die Sonne am westlichen Himmel, aber noch hoch, sie zeigte keine rötliche Färbung. Es ging leicht abwärts, der Weg wurde steiniger, nah im Norden sahen sie den flachen Hügelzug, hinter dem En-Wlowa liegen musste. Plötzlich fiel Dshirah mit einem jähen Schrecken ein, dass sie sich freuen musste. Sie hatten bestimmt schon mehr als die Hälfte des Weges hinter sich, und sie hatte sich noch nicht ein kleines bisschen daran gefreut. Es war so wichtig, dass sie sich freute. Denn dies war ihr letzter Ritt auf einem Sorraia-Pferd.

In Afrika gibt es Pferde, hatte Januão gesagt.

Kleine, hatte Januão gesagt.

Sorraias gab es da offenbar nicht.

Ich muss mich freuen, dachte Dshirah, jetzt, schnell!

«Oh, wir müssen traben!», rief Silbão. «Wir müssen schneller sein als sonst. Ich muss dir ja noch alles erklären. Los!»

Er stieß seinem Pferd die Hacken in die Seite. Das machte einen Satz und hätte er nicht die Hand in der Mähne gehabt, wäre er hinuntergefallen.

Dshirah trabte an. Je-ledla lief ruhig neben ihr.

«Schneller!», rief Silbão. «Sonst fängt Januão an zu pfeifen und du weißt nicht wohin!»

Sie ritten der Sonne entgegen.

Freuen!, dachte Dshirah, ich muss mich freuen.

Sie schaute zurück. Hinter ihr wogten die Rücken der hellen Pferde wie ein gelber Fluss. Sie trabten, nur der Hengst – eine weiße Schaumkrone am Schluss – galoppierte. Er war ein ausgebildetes Reitpferd und beherrschte den langsamen Galopp. Dshirah beugte sich nach rechts und legte Je-ledla eine Hand auf die dunkle Mähne hinter den Ohren. Nie wieder würde sie dieses Pferd berühren. Nie wieder eines, das so ähnlich aussah.

«Da!», rief Silbão. «In die Senke.»

Jetzt verstand Dshirah, warum ihnen die Pferde so willig gefolgt waren. Die Senke war voller Silbergras. So nannten sie die langen, dünnen Halme, weil sie von einer Seite silbrig schimmerten. Alle Pferde liebten Silbergras. Da würden sie bleiben, bis Januão sie rief, obwohl daheim am Stall ihre salzigen Lecksteine auf sie warteten. Dshirah zog Je-ledla das Halfter über die Ohren. Nun musste sie auch die Stute gehen lassen. Sofort hatten alle Pferde ihre Nasen im Gras, nur die Fohlen ließen sich von den dünnen Halmen die Nüstern kitzeln. Dshirah und Silbão aber ritten davon, jetzt auf die Hügelkette zu. Sie folgten einem kleinen Bach, der von den Bergen kam und der am Fuß des Hügels in einer Höhle verschwand. Dort nahm Dshirah Je-ledlas Halfter auseinander und fesselte damit ihren beiden Pferden die Vorderbeine. Sobald die Januãos Pfeife hörten, würden sie versuchen, dem Ton zu folgen. Silbão kletterte schon den Hügel hinauf. Dshirah folgte.

«Wart mal», rief sie ihm leise nach. «Du musst nachher mit den Pferden zu Januão. Kriegst du sie über den Bach?»

Silbão nickte: «Mach ich immer!»

Verborgen hinter Felsen und Sträuchern schauten sie hinüber auf die Blumenmauer von En-Wlowa, mitten darin drei Blumentore, darunter je zwei Wächter in roter Uniform, bewaffnet mit Speer und Pfeil und Bogen, stehend neben ihren gesattelten Pferden.

Silbãos Unterlippe zitterte.

«Nicht stottern jetzt», sagte Dshirah und griff nach seiner Hand. «Du musst mir nun erklären, was ich tun soll.»

Er nickte, presste die Lippen zusammen, aber als er sie wieder öffnete, zitterten beide, und alles, was er schließlich herausbrachte, war: «I-i-i-ich mache alles falsch.»

Dshirah versuchte zu fragen.

«Januão wird gleich die Pferde rufen?»

Er nickte.

«Die Wächter werden ihre Pferde halten müssen. Oder die werden ihnen durchgehen. Und dann soll ich da irgendwie rein?»

Er nickte.

«Man kann durch die Mauer?»

Er nickte.

«Wo?»

Er zeigte nach Westen.

«Also», flüsterte Dshirah, «also laufe ich los, wenn die Herde dort vorbei ist?»

«Ja.»

Dshirah hielt den Atem an, immerhin, ein Wort hatte er wieder herausgebracht. Sie wartete, dass er weitersprach.

«Du musst nur hinter die Blumen. Da. Die hängen da runter. Dann sehen sie dich nicht mehr. Dann musst du gucken und das Loch finden. Aber schnell! Sonst bringen sie dich um.»

«Warum rennen die da drin dann nicht alle weg?»

«Sie rennen. Aber sie kommen nicht weit. Wenn die wegrennen, dürfen die Wächter sie erschießen. Januão sagt, das soll so sein. Wenn sie nicht immer mal welche erschießen, wird es da drin zu voll. Ist schon voll.»

«Was soll ich machen da drin?»

Silbão zuckte die Achseln.

«Warten. Bis wir dich rausholen. Sie kriegen zu essen.»

Er kroch auf dem Boden herum, hielt sich verdeckt von dem niedrigen Strauch, er hob kleine Steine auf, ließ sie fallen, behielt einen spitzen mit scharfer Kante.

«Komm!»

Er zog sie zu sich heran, säbelte mit dem Stein an dem Hirtenzeichen auf ihrer Schulter herum, bis er eine Ecke gelöst hatte, da riss er es ab.

«Jetzt siehst du aus wie die anderen. Nur dicker.»

«Ich habe Angst.»

Er nickte.

«Du gehst zum letzten Haus nach Nordosten, da fi-fi-fi-»

«Silbão!»

Sie schrie zu laut, sie wusste es. Sie packte seine Schultern und schüttelte ihn. Manchmal, wenn die Worte in ihm stecken blieben, konnte man sie herausschütteln.

«Ma-ma-ma-ma-meine Schwester. Du erkennst sie, man erkennt sie immer noch.»

Jetzt zitterte Dshirahs Unterlippe. Silbãos Schwester war seit fast zwei Jahren verschwunden.

«Deine Schwester?», fragte sie. «Ist die da? Da ist sie?»

Aber Silbão konnte nicht mehr reden. Er öffnete den Mund. Sie sah, wie seine Zunge darum kämpfte, Laute zu formen, er fasste sich an den Hals, aber er stieß nur tonlose Luft heraus, würgend, als hätte er eine Fischgräte in der Kehle.

Da hörten sie aus der Ferne einen langen, leisen, klagenden Ton. Sie wandten die Gesichter nach Osten. Dshirah schloss die Augen. Alles, was ihr Bruder spielte, erkannte sie am ersten Ton. Dies war sein traurigstes Lied. Wie hätte es auch anders sein können. Januão spielte Flöte, seit er das Instrument halten konnte, aber er hatte bis jetzt nicht gelernt zu spielen, was andere von ihm forderten. In seine Flöte floss immer, was er im selben Atemzug spürte. Dieses Lied hatte Dshirah zum letzten Mal gehört, als ihr winziges Schwesterchen vor zwei Jahren starb. Silbão stieß sie an und drehte ihren Kopf zur Blumenmauer. Auch die Wächter schauten nach Osten, alle. Ihre Pferde fingen an zu tänzeln. Und nun hörten sie von der anderen Seite das Wiehern des Hengstes. Es klang nicht schrill wie sonst, wenn er seine Stuten trieb, es klang dunkel wie die Töne aus den langen Holzröhren, die in manchen Patios hingen. Noch niemals hatte Dshirah ein solches Wiehern gehört. Auch die Wächter wandten den Kopf. Nun blickten sie gerade in die untergehende Sonne. Dshirah erkannte den Plan ihres Bruders: Die Wächter hatten nicht nur mit ihren unruhigen Pferden zu kämpfen, sie schauten auch der Herde entgegen und würden von der Sonne geblendet sein.

Silbão hatte den Kopf auf die Knie gelegt und die Hände über die Ohren gepresst. Dshirah starrte entsetzt auf die schwarzen Locken, die durch seine Finger quollen. Er musste ihr noch so viel erklären, und er brachte kein Wort mehr heraus. Da schlug die Angst wie schwere Pauken in ihrem Kopf und übertönte die Flöte.

«Silbão!» Sie packte und schüttelte ihn. «Was soll ich tun da drin? Und wie, wie komme ich wieder raus?»

Er blickte auf. Sein Gesicht schien zerstört, schief hing sein Mund und die Augen wirkten blöde. Sie schüttelte ihn. Aber es hatte keinen Sinn. Es sah aus, als ob dieser Junge noch niemals hätte sprechen können.

«Wo finde ich deine Schwester?»

Er zeigte nach Nordosten. Auch sein Arm zitterte. Da kamen die Pferde.

Man hörte sie kaum. Der Boden war sandig. Ihre unbeschlagenen Hufe machten fast kein Geräusch. Und immer wenn Januão spielte, wurden ihre Körper leicht wie Federbälle. Nur zögernd lösten sich die gelben Leiber der Stuten wie große goldene Tropfen aus der Sonne und flossen weiter über die Ebene. Dshirah konnte Je-ledla nicht mehr erkennen, denn es gab keine einzelnen Pferde mehr. Sie waren eine schwebende Schar von Wesen, die vielleicht von einem anderen Stern auf die Erde gefallen waren. Eine alte Geschichte erzählte, so seien Pferde entstanden.

Die Paukenschläge! Die trommelnde Angst! Das Einzige, was Dshirah retten konnte, war die laut lärmende Panik in ihrem Kopf. Wenn sie hier weiter lauschte und schaute, kam sie niemals nach En-Wlowa. Aber die Pauke war nur noch ein sanftes, tiefes Beben im Bauch, über dem hoch in der Luft Januãos Flöte schwebte. Auch Silbão neben ihr hatte wieder sein schönes Gesicht, nicht jedoch seine Sprache gefunden. Vier der Wächter hielten ihre tobenden Pferde am Zügel. Zwei waren aufgesessen, hatten aber die Speere verloren, ihre Pferde mischten sich unter die Sorraia-Stuten, weiße Flecken im gelben Fluss und darüber das Rot der Uniform. Von der anderen Seite des Hügels schrien die beiden gefesselten Reitpferde, im Osten ein einzelner Reiter. Die Musik wurde lauter.

Da sagte, klar und deutlich, Silbão ein einziges Wort: «Jetzt!»

Das war ein Befehl.

Dshirah sprang hinter dem Strauch hervor und stürzte den Hügel hinunter. Niemand würde sie sehen. Nicht ein einziger Blick ging in ihre Richtung. Und auch sie sah nichts mehr. Und hörte die Flöte nicht mehr. Die Angstpauken waren wieder laut und lärmend, und alles, was sie spürte, war der Schmerz im rechten Fuß, mit dem sie zu lange barfuß gelaufen war. Sie jagte über die Ebene. Ein gesatteltes Pferd galoppierte an ihr vorbei. Es hatte seinen Reiter abgeworfen. Sie sah einen großen roten Fleck reglos auf dem von Hufen zertrampelten Boden liegen. Ein Bündel Lumpen rannte ihr entgegen. Als sie aneinander vorbeiliefen, traf sie ein verwunderter Blick aus einem knochigen, schmutzigen, jungen Gesicht. Sie erreichte die Blumenmauer und schlüpfte unter den Blütenvorhang. Sie lehnte sich an die Mauer und schloss die Augen. Sie sah und hörte nichts mehr. Da war nur noch der Duft der Blumen, schwer, betäubend, wie starkes Parfüm.

Die Siebte Sage

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