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Hamburg, 10.11.2011

Einst musste Esther Bejarano im Mädchenorchester von Auschwitz um ihr Leben spielen. Heute steht die 89-Jährige mit Musikern der nächsten Generationen auf der Bühne und ruft zum Widerstand gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit auf. Mit ihrer Musik tritt sie an gegen all jene, die aus der Geschichte nichts gelernt haben. Deswegen steht sie bis heute auf der Bühne. Und ist mit ihren 89 Jahren sogar noch unter die Rapper gegangen. »Es ist ja nicht so, dass ich diese Musik besonders liebe, doch mit ihr kann ich die Jugend einfach viel besser erreichen«, sagt sie und lacht verschmitzt. Und das gelingt ihr. Mit der Hip-Hop-Band »Microphone Mafia« und ihrem Sohn Joram jagt sie von einem Konzerttermin zum nächsten. Gemeinsam setzen sie mit ihrer Musik ein sichtbares Zeichen für Toleranz und Völkerverständigung. Weit über Deutschlands Grenzen hinaus hat sie sich damit als unermüdliche Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. 2012 wurde ihr in Hamburg, wo sie seit vielen Jahrzehnten lebt, das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.

Die Musik spielte von Anfang an eine große Rolle in ihrem Leben. Und sie ist bis heute ihr Lebenselixier. »Ohne Musik ging bei uns zu Hause gar nichts«, erinnert sie sich an ihre Kindheit, eine glückliche Zeit, die 1935, mit dem Einmarsch von Hitlers Truppen im Saarland, abrupt enden sollte. Es begannen Jahre der Ausgrenzung und Entrechtung, denen die Deportation und Ermordung vieler geliebter Menschen folgten. 1943 wurde sie selbst nach Auschwitz deportiert.

Damals konnte sie sich nicht wehren gegen das Unrecht. Heute schon. Als Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees engagiert sie sich seit vielen Jahren überall dort, wo die Würde des Menschen und die Menschenrechte bedroht sind. Wo immer Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sich zeigen, stellt sie sich ihnen entgegen. Sei es die aktuelle Flüchtlingspolitik der EU, sei es die Ausgrenzung der Sinti und Roma in vielen Ländern Europas oder die Diskriminierung muslimischer Mitbürger – sie ist zur Stelle und erhebt ihre Stimme. Wie ein Seismograf spürt sie Unrecht viel früher auf als andere und schlägt Alarm. Nicht weggucken. Hinschauen, handeln – das ist ihr Lebensmotto. Damit wird sie gerade für uns Jüngere, die wir den weltweiten Katastrophenmeldungen allzu oft nur ein laues »Wir können doch sowieso nichts tun« entgegensetzen, zur Mahnerin und zum aktiven Vorbild.

Natürlich wollten wir diese engagierte Frau für unseren Film gewinnen. Nach einer ersten Kontaktaufnahme lud Esther Bejarano uns ein, anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht nach Hamburg zu kommen. Dort würde sie zwei Konzerte geben, sagte sie uns im Vorfeld, die wir mit der Kamera aufzeichnen könnten.

Die erste Begegnung verlief holprig. Gerade erst war sie von einer anstrengenden Konzertreise zurückgekommen. Sie war schwer erkältet und wusste nicht, ob ihre Stimme für ein weiteres Konzert durchhalten würde. Daher war sie alles andere als erfreut, unsere erwartungsvollen Gesichter hinter der Kamera zu sehen. »Ihr habt mir gerade noch gefehlt!«, sagte sie in wenig einladendem Ton. Und wer es bis dahin noch nicht wusste: Esther Bejarano ist eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit. Authentisch, direkt, völlig unverstellt. Wer ihr gegenübertritt, muss wissen: Wegducken oder Aufgeben gibt’s nicht. Denn Charakterstärke erwartet sie auch von ihrem Gegenüber. Wie humorvoll und herzlich sie darüber hinaus ist, durften wir bald schon erfahren.

Kaum hatte sie zu singen begonnen, schien alle Erschöpfung von ihr abzufallen. Wer sie auf der Bühne erlebt, wird förmlich elektrisiert von ihrem Widerstandsgeist und angesteckt von ihrem Lebensmut. Mit ihrem Charisma zieht sie die Menschen umgehend in ihren Bann. »Wir werden leben und erleben, schlechte Zeiten überleben. Wir leben trotzdem! Wir sind da!«, singt sie am Ende des Abends und wirft triumphierend ihre Arme in die Luft. Ja, sie hat überlebt. Und dass sie heute noch auf der Bühne steht, ist ihr persönlicher Triumph über den Vernichtungswillen des Nationalsozialismus. Es ist ein Sieg über die Unmenschlichkeit, den sie auch zum Gedenken an all die unzähligen Menschen zelebriert, die dieser Unmenschlichkeit zum Opfer fielen.

Am nächsten Vormittag stehen wir mit unserem Kamerateam und einem etwas mulmigen Gefühl in der Magengrube vor ihrer Wohnungstür. Würde es ihr gesundheitlich gut genug gehen, um sich auf das anstrengende Gespräch vor der Kamera einzulassen? Entgegen allen Befürchtungen empfängt sie uns herzlich und ist uns trotz schwerer Erkältung eine hoch konzentrierte Gesprächspartnerin, die mit großem emotionalem Engagement zu erzählen beginnt.

»Ich bin in einem wohlbehüteten und liberalen Elternhaus groß geworden. Geboren bin ich in Saarlouis, doch nach einem Jahr sind meine Eltern nach Saarbrücken gezogen, weil mein Vater dort eine Stelle als Oberkantor in der Synagoge erhalten hat. So habe ich die ersten zehn Jahre meiner Kindheit in Saarbrücken verlebt. Es war eine schöne und unbeschwerte Kindheit.

Da mein Vater Oberkantor war, haben wir uns an die religiösen Traditionen gehalten und auch einen koscheren Haushalt geführt. Das mussten wir allein schon wegen unserer Gäste tun. Wir Kinder gingen regelmäßig in die Synagoge, und das hat uns meist sogar Spaß gemacht. Vor allem, weil wir in Saarbrücken einen bezaubernden Rabbiner hatten, in den wir Mädchen alle verliebt waren.

Die Musik hat in unserer Familie immer eine sehr große Rolle gespielt. Ich bin so aufgewachsen, dass ich mir ein Leben ohne Musik einfach nicht vorstellen kann. Wir haben viel gemeinsam gesungen, und mein Vater hat dazu Klavier gespielt. Er selbst hatte eine wunderbare Stimme und hat ganze Arien für uns gesungen. Oft haben wir Hauskonzerte gegeben, und ich kann mich gut daran erinnern, dass Menschen sich draußen auf der Straße versammelten und zuhörten. So war unser Leben. Meine Eltern sorgten auch dafür, dass alle Kinder ein Instrument spielten. Ich lernte Klavier spielen. Als mein Großvater starb, der bei uns gelebt hatte, durften wir im Trauerjahr keine Musik machen. Das war sehr hart für uns. Die Musik hat uns schrecklich gefehlt – gerade in dieser schweren Zeit, die nun für uns begann. Denn 1935 war Hitler in Saarbrücken eingezogen, und das Saarland wurde in das Deutsche Reich integriert. Wir hatten zwar schon vorher etwas Antisemitismus zu spüren bekommen, doch das war kein Vergleich zu dem, was nun geschah. Es wurden immer mehr Gesetze erlassen gegen die Juden. Wir durften viele Geschäfte nicht mehr betreten, nicht mehr ins Kino oder Theater gehen, nicht mehr an Kulturveranstaltungen teilnehmen. Überall stand: ›Juden ist der Zutritt verboten.‹ Wir Kinder mussten die Schulen verlassen, in die wir bis dahin gingen, und wurden in jüdische Schulen geschickt. Dadurch wurden wir von unserer Umgebung sehr isoliert. Unsere Spielkameraden wollten plötzlich nichts mehr mit uns zu tun haben und weigerten sich, mit uns zu spielen. Diese Ausgrenzung war für uns Kinder sehr hart. Wenigstens gab es in Saarbrücken noch einen jüdischen Kulturbund, in dem mein Vater aktiv war. So hatten wir Zugang zu kulturellen Veranstaltungen. Und wir haben in der jüdischen Schule Theaterstücke aufgeführt.

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