Читать книгу Mut zum Leben - Christa Spannbauer - Страница 14
ОглавлениеAuschwitz ist unbeschreiblich, unvorstellbar. Ich kann nicht erzählen, was ich dort alles gesehen habe. Ich kann es auch nicht vergessen. Ich lebe damit. Ich bin ja schon heilfroh, dass ich heute nicht mehr diese grauenhaften Träume habe, die ich viele Jahre Nacht für Nacht hatte. Träume, in denen die SS mit ihren schrecklichen Stiefeln auf mir herumtrampelt.
Trotzdem kann ich sagen, dass ich großes Glück hatte. Denn ich bin nicht allein, sondern mit einer ganzen Gruppe von Freunden und Freundinnen dort angekommen. Das war ein großer Halt für uns alle. Wir haben uns gegenseitig sehr geholfen. All die Unmenschlichkeit, die wir dort gesehen und erlebt haben, haben wir nur ertragen können, weil wir zusammengehalten haben. Die Solidarität hat eine sehr, sehr große Rolle gespielt. In sämtlichen Lagern. Der Zusammenhalt war das, was die Menschen zum Leben und zum Weiterleben gebracht hat. ›Wir müssen unbedingt durchhalten‹, haben wir uns gegenseitig immer wieder gesagt. Es gab natürlich auch Menschen, die diese Unmenschlichkeit nicht ausgehalten haben. Viele von ihnen haben sich das Leben genommen, indem sie in den elektrischen Zaun gelaufen sind. Ich selbst hätte das nie gemacht. Ich wollte unbedingt am Leben bleiben. Allein schon, um mich zu rächen an diesen furchtbaren Nazis. Ich hatte immer die Hoffnung, dass ich da wieder rauskomme. Dass ich das überlebe. Denn ich wollte bezeugen, was ich an diesem Ort gesehen habe. Ich glaube, das hat mir beim Überleben geholfen.
Und natürlich auch die große Solidarität untereinander. Ich bin einmal schwer an Typhus erkrankt und in das Krankenrevier gekommen. Dort konnte man eigentlich nur sterben. Oder man ist in die Gaskammer gekommen. Doch eine polnische Krankenschwester hat sich sehr um mich bemüht. Ich kannte sie gar nicht und sie mich auch nicht, doch sie hat mir das Leben gerettet. Ich war schon im Delirium und konnte nichts mehr essen. Da hat sie von irgendwoher Knoblauch besorgt und etwas davon auf mein Brot gerieben. Das war etwas ungeheuer Kostbares. Der Geruch weckte meine Lebensgeister und brachte mich dazu, wieder mit dem Essen anzufangen. Das sind die Erlebnisse, die einem in dieser Zeit sehr geholfen haben. Dieses Zusammenstehen und Füreinander-Einstehen.«
»Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück«, schrieb Esther Bejarano in ihrem autobiografischen Buch »Erinnerungen«. Auch in unserem Gespräch fällt immer wieder das Wort »Glück«. Sogar in Zusammenhang mit ihrer Zeit in Auschwitz. Esther Bejarano besitzt die seltene Gabe, selbst den schrecklichsten Ereignissen ihres Lebens etwas Positives abringen zu können. Ihr unanfechtbarer Lebensmut und der Wille, unter keinen Umständen aufzugeben, befähigte sie immer wieder dazu, Risiken einzugehen und sich extremen Herausforderungen zu stellen.
»Ich musste anfangs sehr schwere Arbeit verrichten. Ich war einer Arbeitskolonne zugeteilt, in der wir den ganzen Tag Steine schleppten. Wir trugen sie von einer Seite des Weges auf die andere und am anderen Tag dann wieder zurück. Es war eine völlig unsinnige Arbeit. Einfach nur dazu da, die Menschen kaputt zu machen. Ich war schon sehr schwach und wusste, wenn ich noch lange in dieser Kolonne arbeiten muss, werde ich elendig zugrunde gehen. Und dann kam für mich die Rettung. Als ich eines Tages von der Arbeit in unsere Baracke zurückkehrte, stand da eine Frau und sagte, sie suche nach Frauen, die ein Instrument spielen können. Das war die Dirigentin Zofia Czajkowska, eine polnische Gefangene und Musiklehrerin, die von der SS den Auftrag bekommen hatte, ein Frauenorchester zu gründen. Da ich Klavier spielen konnte, meldete ich mich. Doch ein Klavier gab es im Lager nicht. Und so fragte sie mich, ob ich denn auch Akkordeon spielen könne. Ganz ehrlich, ich hatte noch nie ein Akkordeon in den Händen gehabt, doch aus der Not heraus habe ich geschwindelt und gesagt, das könne ich, doch ich müsse mich erst mal etwas einspielen. Sie sagte, ich solle den deutschen Schlager ›Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami‹ spielen, der damals sehr populär war. Den kannte ich natürlich und ich zog mich mitsamt dem Akkordeon in die Barackenecke zurück und probte. Da ich ein gutes musikalisches Gehör habe und Klavier spielen konnte, war die rechte Hand kein Problem. Schwierig waren aber die Bässe der linken Hand. Ich hab dann so lange gesucht, bis ich die richtigen Akkorde hatte. Ich glaube, die Czajkowska wusste sehr wohl, dass ich noch nie Akkordeon gespielt hatte. Doch sie hat mich aufgenommen, und das war ein großes Glück für mich. Denn von nun an musste ich keine Steine mehr schleppen. Die Musik hat mir das Leben gerettet. Doch es war auch eine furchtbare psychische Belastung, in diesem Orchester zu spielen. Wir mussten am Tor stehen, wenn die Arbeitskolonnen morgens zur schweren Arbeit ausmarschierten und am Abend, wenn sie völlig entkräftet wieder zurückkamen. Dann hat die SS sich einfallen lassen, dass wir auch spielen mussten, wenn neue Transporte ankamen. Ich habe ganz furchtbare Dinge in Auschwitz erlebt, aber das war für mich das Schlimmste. Dass wir da stehen und spielen mussten, während die Transporte mit Menschen ankamen, die in die Gaskammern gingen.«
»Stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf«, schrieb Paul Celan in seinem Jahrhundertgedicht »Die Todesfuge«2, in dem er die unsägliche Verknüpfung von Mord und Musik in den Konzentrationslagern in Worte fasste. Während die Lagerleitung von Auschwitz den Massenmord an Hunderttausenden von Menschen organisierte, sorgte sie sich zugleich um das Wohl des SS-Personals und hielt es mit Kulturveranstaltungen und Konzerten bei Laune. Hierfür verfügte das Lager bereits seit 1941 über mehrere Männerorchester. Um auch der Wachmannschaft des Frauenlagers den Genuss von Musik nicht vorzuenthalten, erhielt die polnische Musiklehrerin Zofia Czajkowska 1943 den Befehl, ein Frauenorchester aus Häftlingen zusammenzustellen. Als Dirigentin des Orchesters wurde Alma Rosé, die Nichte des Komponisten Gustav Mahler, verpflichtet. Die Aufgabe der Musikerinnen bestand darin, fröhliche Lieder zu spielen, während um sie herum Menschen gequält und ermordet wurden. Zwar waren ihre Lebensbedingungen etwas besser als die der Häftlinge, die im Freien schwere körperliche Zwangsarbeit verrichten mussten, doch der Druck und die psychische Belastung waren immens. Die Zwangsarbeit der Musikerinnen bestand darin, täglich zehn bis zwölf Stunden zu proben, jeden Morgen beim Ausmarsch und am Abend beim Einmarsch der Häftlinge am Tor zu spielen, bei Besuchen von SS-Größen aufzuspielen und Tag und Nacht für die Privatfeiern und Privatwünsche der SS zur Verfügung zu stehen. Der Lagerkommandant des Frauenlagers, Franz Hößler, galt als ausgewiesener Liebhaber der klassischen Musik und unterstützte das Orchester ebenso wie die für ihre Brutalität gefürchtete Oberaufseherin Maria Mandl. Der KZ-Arzt Josef Mengele ließ sich nach den Selektionen und nachdem er Hunderte von Menschen in die Gaskammern geschickt hatte, bevorzugt die »Träumerei« von Franz Schumann vorspielen. Mitunter wurden die Musikerinnen auch gezwungen, bei der Ankunft neuer Transporte zu spielen und Menschen bei ihrem Gang in den Tod mit ihrer Musik zu begleiten.
Die Erinnerung an ihre Zeit im Frauenorchester quält Esther Bejarano bis zum heutigen Tag. Damals konnte sie sich nicht wehren, konnte die Menschen nicht warnen. Heute schon. Deshalb singt sie Lieder aus dem jüdischen und antifaschistischen Widerstand. Um uns heute Mut zur Zivilcourage zu machen. Und um an die Menschen von damals zu erinnern, die aufstanden gegen das Unrecht.
»Die Musik, die wir in Auschwitz in diesem Mädchenorchester machen mussten, war erzwungen und gegen unseren Willen. Doch die Musik war in dieser Zeit auch ein Mittel des Widerstands. In den Gettos und Konzentrationslagern sind viele Widerstandslieder entstanden. Und die Menschen haben diese heimlich gesungen, weil sie ihnen Mut gegeben haben. Ich singe diese Lieder ja heute noch auf der Bühne. Denn es sind sehr wichtige Lieder, die bezeugen, dass es einen Widerstand gab. Davon wurde später nie erzählt. Und das ist bis heute kaum bekannt. Es hieß ja immer nur, die Juden hätten sich zur Schlachtbank führen lassen, ohne dass sie sich dagegen aufgelehnt hätten. Das stimmt aber nicht! Es gab Aufstände in den Gettos und den Konzentrationslagern. Und selbst in der Hölle von Auschwitz fanden Menschen den Mut, Widerstand zu leisten. Doch dies brachte natürlich immer den Tod mit sich. Die Menschen sind aufgestanden, sie haben gekämpft, und sie sind in den Tod gegangen.«
Sechs lange Monate musste Esther Bejarano in dem Frauenorchester von Auschwitz spielen. Bis sich eines Tages völlig unerwartet die Möglichkeit eröffnete, das Vernichtungslager zu verlassen.
»Ich hatte noch mal großes Glück, weil man bei einem Appell nach sogenannten ›Mischlingen‹ gesucht hat, also nach Frauen, die ›arische‹ Vorfahren hatten. Da ich eine christliche Großmutter hatte, war dies meine Chance, aus Auschwitz herauszukommen. Man sagte uns, wir würden in ein anderes Konzentrationslager gebracht werden. Das war schon ein Lichtblick, weil es bedeutete, von den Gaskammern wegzukommen. Doch es fiel mir schwer, meine Freundinnen zurückzulassen. Zumal ich nicht wusste, wo man mich hinbringen würde. Meine Freundinnen sagten aber, ich müsse mich unbedingt melden, weil dies eine Chance zum Überleben wäre. Und so meldete ich mich. Doch erst mussten wir vor Dr. Mengele treten und wurden von ihm begutachtet, ob wir überhaupt transportfähig waren. Ich hatte damals aufgrund des Hungers eine Avitaminose, und mein ganzer Körper war von Furunkeln übersät. Wenn er das sieht, so befürchtete ich, schickt er mich gleich ins Gas. Doch glücklicherweise hat er mich bei der Selektion durchgewinkt.
Daraufhin bin ich mit 70 anderen Frauen im November 1943 in das schreckliche Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gekommen. In Ravensbrück musste ich anfangs wieder schwere Arbeit leisten. Ich habe Kohlenloren geschoben und musste die Kohlen aufladen und abladen. Dann hörte ich, dass man sich für Zwangsarbeit bei der Firma Siemens melden kann. Das habe ich umgehend getan. Und bin dort in Halle 4 gekommen, wo wir Schalter bauen mussten für die Unterseeboote. Ich arbeitete dort mit ukrainischen Zwangsarbeiterinnen zusammen, mit denen ich mich sehr gut verstanden habe. Sie brachten mir russische Lieder und Tänze bei, und ich lernte Russisch von ihnen. Bis heute erfüllt es mich mit Genugtuung, dass Tausende von Kisten mit diesen Schaltern zurückkamen, weil wir sie absichtlich falsch zusammengebaut hatten.«
Während des Zweiten Weltkriegs wurde bis zu einem Drittel der wirtschaftlichen Produktion Deutschlands durch den Einsatz von zwölf Millionen Zwangsarbeitern erbracht. Allein dadurch konnte die wirtschaftliche und landwirtschaftliche Produktion aufrechterhalten werden. Siemens übernahm als führender Elektrokonzern für die Rüstungsindustrie die Vorreiterrolle bei der systematischen Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Das Unternehmen errichtete 1942 ein Rüstungswerk mit 20 Produktionshallen nahe dem Konzentrationslager Ravensbrück. Hier musste Esther Bejarano gemeinsam mit anderen Frauen aus dem KZ anderthalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Doch trotz der rücksichtslosen Ausbeutung zahlloser Zwangsarbeiter war der Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen. Und damit stand die Befreiung der Häftlinge in Ravensbrück 1945 kurz bevor.
»Ich habe immer fest daran geglaubt, dass ich wieder frei sein werde. Und eines Tages war es dann auch fast so weit. Es wurde im Lager gemunkelt, wir sollten versuchen, an zivile Kleidung zu kommen und diese unter der Sträflingskleidung tragen. Für den Fall, dass wir evakuiert würden. Denn die russische Armee stand schon fast vor den Toren von Ravensbrück. Da hat die SS uns alle, die wir noch laufen konnten, aus dem KZ herausgetrieben, damit die Russen uns nicht finden. Und wir sind auf einen der Todesmärsche gegangen, wie sie später genannt wurden, weil so viele Menschen, die bis dahin überlebt hatten, dabei ihr Leben verloren. Wir sind durch die Wälder und Dörfer von Mecklenburg marschiert, ich und sechs meiner Freundinnen in einer Reihe, auf beiden Seiten von der SS mit ihren Gewehren flankiert. Wer hinfiel, wurde sofort erschossen. So sind wir gegangen, viele Tage und Nächte. Wir haben gefroren. Es gab nichts zu essen. Und wir haben nicht gewusst, wohin man uns bringt. ›Die werden uns doch nicht noch in letzter Minute alle erschießen‹, hofften wir inständig. Dazu kam es dann auch nicht mehr. Denn wir hörten eines Tages, wie ein SS-Mann zu einem anderen sagte: ›Es darf nicht mehr geschossen werden.‹ Da wussten wir, der Krieg ist bald zu Ende. Und wir entschieden uns zur Flucht. Als wir in der Dunkelheit durch einen Wald gingen, nutzten wir die Chance, ließen uns eine nach der anderen unauffällig zurückfallen und versteckten uns hinter Bäumen. Während die Kolonne sich weiterschleppte, sind wir sieben Mädchen in die andere Richtung gelaufen. Und sind schon bald auf amerikanische Soldaten getroffen. Denen haben wir unsere eintätowierten Nummern gezeigt. Und die haben sich so gefreut, dass sie uns helfen konnten. Umarmt und geküsst haben sie uns. Obwohl wir wirklich kein schöner Anblick waren, ausgemergelt und schmutzig, wie wir waren. Und dann haben sie uns auf ihre Panzer genommen und sind mit uns in das nahe gelegene Städtchen Lübsch gefahren. Dort haben wir uns in einem Gasthaus erstmals wieder satt gegessen. Die Amerikaner wollten von uns hören, was wir erlebt hatten, und da ich Englisch sprechen konnte, erzählte ich ihnen, wo wir herkamen. Ein Soldat brachte ein Akkordeon von irgendwoher und schenkte es mir. Plötzlich hörten wir einen Riesenlärm auf der Straße und sind nach draußen gerannt. Da kam die Rote Armee, und die Russen haben gerufen: ›Der Krieg ist aus! Hitler ist tot!‹ Wir waren alle so unbändig glücklich. Die Amerikaner und Russen fielen sich in die Arme und küssten sich. Und wir Mädchen waren mittendrin in diesem Freudentaumel. Es war eine Wonne! Dann wurde die Befreiung gefeiert. Auf dem Marktplatz des Städtchens haben die Soldaten ein großes Hitlerbild aufgestellt und angezündet, und die Soldaten und die Mädchen sind um das Bild herumgetanzt. Und ich habe dazu das Akkordeon gespielt.«
Endlich frei! Was würde sie mit ihrer wiedererlangten Freiheit anfangen? In ihrem Heimatland, in dem ihr so viel Unrecht widerfahren war, wollte sie keinesfalls bleiben. Und so verließ Esther Bejarano im August 1945 auf einem Schiff zusammen mit anderen Überlebenden Deutschland, um sich in Palästina ein neues Leben aufzubauen. Die Begrüßung im Gelobten Land verlief jedoch alles andere als herzlich. Die englische Mandatsregierung wollte die Zuwanderung von Juden aus Europa einschränken. So wurden die Ankommenden in einem Internierungslager festgehalten, das mit hohen Drahtzäunen umgeben war, was in den eben erst aus den deutschen Lagern Befreiten traumatische Erinnerungen auslöste. Esther hatte das Glück, dass ihre Schwester Tosca und ihr Mann bereits in Palästina lebten und für sie bürgen konnten. Daher holten sie sie schon bald aus dem Lager. Eine ganze Nacht lang erzählte Esther ihrer Schwester von dem, was ihr in Auschwitz und Ravensbrück widerfahren war. Danach sollte sie viele Jahre nicht mehr über ihre Vergangenheit sprechen. Auch nicht mit ihrem Mann und ihren Kindern. Noch waren die Wunden zu frisch, und der Aufbau eines neuen Staates stand an, der in seiner Gründerzeit die Erinnerungen an den Holocaust zu verdrängen suchte. Auch für die Überlebenden selbst war daher Verdrängung angesagt. Esther arbeitete in diesen Jahren sehr hart, um sich ein Gesangsstudium in Tel Aviv finanzieren zu können. In einem antifaschistischen Arbeiterchor, mit dem sie nach Abschluss ihres Studiums um die Welt reiste, lernte sie Nissim Bejarano, die große Liebe ihres Lebens, kennen. 1950 heirateten die beiden, und schon bald darauf kamen die Kinder Edna und Joram zur Welt. Fast 50 Jahre lebte das Paar zusammen. Nissim starb 1999 an den Folgen seiner Parkinson-Erkrankung. Bis zu seinem Tod hat Esther ihren schwer kranken Mann gepflegt.
Esthers Ehemann Nissim mit den Kindern Edna und Joram 1953 in Israel
Esther 1946 in Palästina
»Ich musste in meinem Leben sehr viele weitreichende Entscheidungen treffen«, sagte sie einmal in einem Gespräch. Vor eine dieser einschneidenden Lebensentscheidungen sah sie sich zwei Jahrzehnte nach ihrer Auswanderung nach Israel gestellt. Da Esther das heiße Klima in diesem Land immer schlechter vertrug und Nissim, der als überzeugter Pazifist aus dem Sinaikrieg zurückgekehrt war, keinesfalls in einen weiteren Krieg des Nahen Ostens ziehen wollte, entschlossen sie sich schweren Herzens, Israel wieder zu verlassen. Lange berieten sie darüber, in welches Land Europas sie ziehen sollten. Die Rückkehr nach Deutschland bot sich aus praktischen Erwägungen an, da Esther nicht nur die Sprache beherrschte, sondern immer noch deutsche Staatsbürgerin war.
Doch die Rückkehr in das Land der Täter gestaltete sich für die Holocaust-Überlebende äußert schwierig. Jeder Polizist ließ sie unweigerlich an die Gestapo denken, die Behördengänge und der deutsche Bürokratismus wurden zur Tortur. Wie sollte sie den Menschen in diesem Land wieder vertrauen können? Viele der ehemaligen aktiven Nationalsozialisten galten als »entnazifiziert« und befanden sich in den 60er-Jahren erneut in Amt und Würden. Am Anfang scheute Esther jeglichen Kontakt zu ihren nichtjüdischen Nachbarn.
Durch harte Arbeit und mithilfe von Wiedergutmachungszahlungen konnte sich die Familie schließlich eine stabile Existenz aufbauen: 1969 eröffnete Esther eine kleine Boutique. Hier kam sie in Kontakt mit vielen jungen Menschen und lernte eine ganz neue Generation Deutschlands kennen. Es war die Zeit der Studentenunruhen, in der die Kinder der Kriegsgeneration gegen die repressive und autoritäre Macht ihrer Eltern aufbegehrten. Eines Tages musste Esther von ihrer Boutique aus mit ansehen, wie auf der anderen Straßenseite ein NPD-Stand aufgebaut wurde, der unter Polizeieinsatz vor den Gegendemonstranten geschützt wurde. Sie rannte auf die Straße und stellte sich auf die Seite der Demonstranten. Dieser Moment war die Initialzündung für ihr bis heute anhaltendes politisches Engagement gegen Rechtsradikalismus.
»Wenn ich das schon überlebt habe, dann muss ich doch wieder anfangen zu leben. Und dann muss ich den Menschen sagen, so etwas darf nie wieder geschehen. Wir wollen doch alle leben! Wir wollen doch alle in Frieden leben! Wir wollen keine Kriege mehr! Krieg bedeutet immer die Vernichtung von Menschenleben. Und das wollen wir doch nicht. Wir wollen das Leben genießen. Deshalb mache ich das. Das ist doch ganz klar. Es gibt immer noch Leute, die sagen, nach Auschwitz könne man keine Bilder mehr malen, keine Gedichte mehr schreiben, keine Musik mehr machen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall! Wir müssen doch zum Ausdruck bringen, was damals geschah. Und das mache ich dann eben in meiner Musik.
Ich bin ja Sängerin von Beruf. Ich habe in Israel Gesang studiert. Eigentlich bin ich Sopranistin, aber das schafft meine Stimme jetzt natürlich nicht mehr. Doch sie hält noch ein bisschen. Und da ich weiß, dass man mit Musik die Menschen erreichen kann, gehe ich auf die Bühne, um für Toleranz und Völkerverständigung zu werben. Und mit den Rappern von ›Microphone Mafia‹ erreiche ich mit dieser Botschaft auch die Jugendlichen. Wir haben schon weit über hundert Konzerte gegeben, und es werden immer mehr. Was ich so toll dabei finde, ist ja nicht nur, dass drei Generationen zusammen auf der Bühne sind, sondern auch drei Religionen. Wir sind Juden, wir sind Christen und wir sind Moslems auf der Bühne. Und wir vertragen uns großartig. Das soll auch ein deutliches Zeichen setzen gegen die Fremdenfeindlichkeit in unserem Land. Derzeit sind die Moslems die schwarzen Schafe in unserer Gesellschaft. Es muss anscheinend immer jemanden geben, dem man die Schuld geben kann. Ich finde das schrecklich! Wir machen mit unseren Auftritten deutlich, dass alle Menschen friedlich miteinander leben können, egal, welcher Kultur oder Religion sie angehören.«
Microphone Mafia on stage: Joram Bejarano, Rossi Pennino, Kutlu Yurtseven und Esther Bejarano (von links nach rechts)
Mit der Musik erreicht Esther Bejarano die Herzen der Menschen. Seit einigen Jahren tourt sie nun mit den Rappern von »Microphone Mafia« durchs Land. »Per La Vita« – »Für das Leben« heißt die erste gemeinsame CD mit der Hip-Hop-Band. Hierfür haben sie Lieder aus dem jüdischen und antifaschistischen Widerstand musikalisch so aufbereitet, dass sie damit die jungen Menschen von heute erreichen. Es sind Lieder, die von unbesiegbarem Lebenswillen künden und zu Widerstand und Zivilcourage aufrufen.
»Meine Botschaft heute kann natürlich nur sein: Wir müssen weitermachen, wir müssen weiterkämpfen gegen den erstarkenden Neonazismus. Deshalb gehe ich in die Schulen. Ich erzähle den Jugendlichen, was damals geschehen ist und was mir widerfahren ist. Damals hat das auch so angefangen mit kleinen Nazigruppen, die dann rasch größer wurden. Immer dann, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Arbeitslosigkeit zunimmt, ist dies der Nährboden für das Gedankengut der Neonazis. Mir ist es unbegreiflich, dass all diese Naziparteien und Gruppen hier in Deutschland überhaupt bestehen dürfen. Meiner Meinung nach müssten sie alle verboten werden. Und ich wünschte, unsere Regierung würde mehr dagegen tun. Doch weil dies nicht so ist, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich weiter zu engagieren. Denn jeder Einzelne von uns muss etwas gegen diese Nazis tun. Deshalb habe ich auch 1986 gemeinsam mit Freunden das Deutsche Auschwitz-Komitee gegründet, dessen Vorsitzende ich bis heute bin. Es wurde von Menschen ins Leben gerufen, die diese Zeit erlebt und überlebt haben. Wir haben das Komitee aber von Anfang an auch für junge Menschen geöffnet, die mit uns zusammenarbeiten wollen. Was ganz wichtig ist, denn von uns gibt es nicht mehr so viele. Zwischenzeitlich gibt es ja kaum noch Zeitzeugen. Und was kommt nach uns, wenn wir nicht mehr sind? Meine Hoffnung sind die vielen jungen Menschen, die sich für Frieden und Völkerverständigung engagieren. Daher bin ich zuversichtlich, dass unsere Arbeit, wenn wir einmal nicht mehr sind, von ihnen weitergeführt wird. Und dass unsere Geschichte nicht vergessen, sondern weitererzählt wird. Denn die Verbrechen der Shoah sind nicht zu vergleichen mit irgendetwas anderem. Es gibt auch heute Kriege, großes Unrecht und Völkermord. Doch diese fabrikmäßige Vernichtung eines ganzen Volkes, das gab es noch nie. Und das darf es auch nie wieder geben. Wir vom Auschwitz-Komitee treten dafür ein. Ich bin ja von Haus aus ein optimistischer Mensch. Und ich hoffe, dass ich mit meiner Zuversicht nicht fehlgehen werde. An einen Gott kann ich nach Auschwitz nicht mehr glauben. Aber ich glaube an die Menschen. Und ich glaube an das, was Menschen sich erarbeiten und wofür sie eintreten.«