Читать книгу Déjà Vu - Christian Brückner - Страница 10
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ОглавлениеDie Obduktion hatte nichts ergeben. Wasser in den Lungen erhärtete die Theorie vom Unfalltod durch Ertrinken. Die Spuren einer Fesselung der feisten Knöchel waren dem Lebenswandel Burgers zugeschrieben worden. Alkohol im Blut stützte die Sichtweise. Akte zu und Thema durch. Köster konnte durch seine Untersuchung zu keinem anderen Schluss kommen. Es gab keinen Ansatzpunkt, der auf ein Gewaltverbrechen schließen ließ. Er hatte wenigstens auf Ungereimtheiten bei der Obduktion gehofft. Diese gab es offensichtlich nicht. Köster musste sich damit begnügen, zumindest offiziell. Er hatte nach wie vor ein ungutes Gefühl, das ihn bisher selten getrogen hatte. Was sollte er tun? Er war noch nie ernsthaft mit einer Situation konfrontiert, in der er sich in einem Zwiespalt befand, wo er hätte gegen die herrschende Klasse Stellung beziehen müssen, auch früher nicht. Er wollte dies aus seinem tiefsten Inneren auch nicht. Natürlich hatte er nicht selbst obduziert. Er konnte das auch gar nicht. Der zuständige Pathologe war ein langjähriger Kollege, dem er vertraute. Dennoch war er sich nicht sicher, ob die Untersuchung gründlich genug gewesen und mit der Hartnäckigkeit durchgeführt worden war, die ihn selber auszeichnete. Würde er seinem Bauchgefühl nachgeben, könnte das Ärger bedeuten. Er wollte keinen Ärger, zumal dies meist nicht dabei blieb. Natürlich waren ihm die Säuberungen der letzten Nacht nicht verborgen geblieben. Er hatte auch kein Problem damit. Wo gehobelt wird, fallen Späne, dachte er bei sich. Auch bei Burger konnte er kein Mitleid empfinden, war er für ihn doch immer Sinnbild eines sterbenden Systems. Somit war das Ableben dieses Sinnbilds, unabhängig von deren Ursache, absolut kein Anlass zu kritischen Fragen.
Doch er hatte seinen Ehrgeiz. Wenn er Ungemach witterte, musste er dem üblicherweise nachgehen. Die Frage würde sein, konnte Köster unauffällig dran bleiben? Oder war es schlichtweg besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen? Bei aller Identifikation mit der neuen politischen Ordnung, er wollte wissen, was passiert war und wieso. So war es immer. Aber Ärger mit seinen Vorgesetzten bedeuteten eher über kurz als über lang Ärger mit dem System. Und dies war eine Gefahr für Leib und Leben. Die Nacht hatte es gezeigt. Da zählte auch nicht, dass er bisher in Treue fest zur neuen Ordnung stand. Auch das hatte die Nacht gezeigt. Köster fürchtete auch weniger um sich selbst. Vor allem wollte er Unbill für seinen Sohn vermeiden. Ihm gehörte mit seiner wachen Intelligenz, mit seiner Offenheit, die in diesen Zeiten schon an Naivität grenzte, und seinem Optimismus die Zukunft. Und das sollte so bleiben.
Es gab dennoch keine Frage für ihn. Er würde weiter machen und wusste auch schon wie. Köster hatte als Sondermittler das Privileg, sich beinahe überall einschalten zu können. Und er würde zunächst auch gar keinen Verdacht erregen, wenn er an Longari dran blieb, denn schließlich gab es einen Einbruch aufzuklären. Und obendrein bei einem Journalisten. Das war in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen musste natürlich für die internationale Öffentlichkeit der Schein gewahrt bleiben, dass auch unter den neuen Machthabern Verbrechen aufgeklärt würden, zumindest Verbrechen, die das Regime nicht selbst begangen hatte. Dies war gegenüber einer befreundeten Nation umso wichtiger. Entscheidend nach innen war natürlich die Begründung, die rund um das Thema Subversion und Konterrevolution kreisten, eine Begründung, die Köster im Hinblick auf Longari für weitgehend abwegig hielt. Also machte er sich auf den Weg nach Grünau. Er würde Longari antreffen. Das hatten ihm seine Späher bereits gemeldet. Denn man konnte ja nie wissen ...
Am Ziel angekommen, traf er Longari bei seinen Aufräumarbeiten an. Er war in der Kürze der Zeit gut vorangekommen. Irreparable Möbelstücke waren bereits entsorgt, um die anderen kümmerten sich zwei Schreiner, ein Maler beseitigte die Schmierereien an den Wänden, die Tür war bereits gerichtet. Longari selbst räumte auf. Als er Köster erblickte, begrüßte er ihn mit einem süffisanten Grinsen.
"Buongiorno Commissario, Sie wollen mir sicher verkünden, dass Sie die Täter dingfest gemacht haben. Und lassen Sie mich raten, der lange Arm der Tifosi von Spoleto Calcio war verantwortlich, richtig? Als ob ich es geahnt hätte. Tifosi di Calcio vergessen nie etwas."
Köster knurrte, er solle seine Scherze lassen. Er hätte Besseres zu tun. Eine Begrüßung gab es wie immer nicht. Longari verlegte sich nach der ersten Begegnung mit Köster auf den ihm eigenen Spott. Natürlich war ihm klar, dass er es auch hier zu weit treiben konnte. Aber angesichts der Tatsache, dass er den Kommissar nicht kannte, schien ihm dies die vorläufig beste Vorgehensweise, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken, so sehr er auch auf der Hut sein würde.
"Natürlich, natürlich. Auch was jetzt wieder passiert ist, mit dem glücklicherweise misslungenen Putschversuch. Da wundert es mich schon ein bisschen, dass Sie sich mit meinem kleinen Einbruch beschäftigen. Aber ich fühle mich geehrt".
Longari versuchte, letztere Äußerung glaubhaft klingen zu lassen. Denn er wollte Köster ja loswerden und nicht misstrauisch machen, eine Aufgabe, die bei dem alten Fuchs schwierig würde, wenn er nicht aufpasste.
Der Kommissar versuchte seinerseits, das übliche Misstrauen im Keim zu ersticken. Ihm war klar, dass Longari mit anderen Wassern gewaschen war, als seine üblichen Kunden. Er wollte zum Ziel, ohne sich und seine Familie zu gefährden, der Burger-Affäre auf den Grund gehen. Und ihm war keineswegs entgangen, dass Longari das in Burgers Kalender vermerkte Zusammentreffen hatte wahrnehmen wollen, hätte sich Burger nicht so ungeschickt verhalten und wäre in die Havel gefallen. Dennoch konnte er kaum aus seiner Haut. Er war es gewohnt, ohne Umschweife auf sein Ziel loszusteuern. So auch diesmal.
"Herr Longari, natürlich ist mir Ihr Termin mit Heinrich Burger aufgefallen."
Er warf dem Italiener einen Brocken hin, gespannt, wie er damit umgehen würde. Die Reaktion Longaris war professionell.
"Jaja, natürlich, Heinrich Burger. Es kam leider nicht mehr dazu".
Alessandro versuchte Köster auf der gleichen Ebene zu antworten, kurze, abgehackte Sätze und wie beim besten Catenaccio den Gegner kommen lassen. Köster, der Terrier setzte nach.
"Ist mir klar, dass es nicht mehr dazu kam. Das hatte wohl technische Gründe".
Wenn Longari ihn mit seiner Art aufzog, er konnte sich auch des Sarkasmus seines Gegenübers bedienen.
"Was war der Grund für Ihren Termin bei Burger?"
Er blieb dran, ohne seine kurze, trockene Art der Befragung aufzugeben. Longari registrierte sehr wohl, dass Köster auf seine Weise darauf reagierte, dass er nichts preisgeben wollte und dafür ansatzweise seine spöttische Art aufnahm. Er gewann dem Spiel sympathische Züge ab.
"Commissario, ich erhielt vor ein paar Tagen einen Anruf von Burger." Er spielte weiter Catenaccio.
"Ach, wirklich? Und er lud Sie zu Kaffee und Kuchen ein? Womöglich noch selber gebacken. Wie rührend," entgegnete Köster.
"Nein, nein, wie Sie sicher wissen, wollten wir gemeinsam joggen."
Der Kommissar musste ehrlich grinsen. Er stellte sich Burger gerade bildlich beim Waldlauf vor, nicht ohne am anderen Ende der Welt wegen der durch Burger und dessen Gewicht ausgelösten Erschütterungen einen ausgewachsenen Tsunami zu befürchten.
Das gegenseitige und versteckte Aufziehen hatte seine Wirkung auf beide. Die Atmosphäre löste sich etwas, und Köster fragte, wie oft sie denn zusammen Sport trieben. Alessandro gab sich einen Ruck, denn im Grunde genommen wusste er nichts, jedenfalls nichts, was ihn hätte gefährden können. Er hatte Burger ja nicht gesprochen.
"Commissario, ich bekam einen Anruf, mit der Bitte ihn heute zu treffen. Viel hat er dazu nicht gesagt. Er tat sehr geheimnisvoll. Und um ehrlich zu sein, ich wunderte mich über seinen Anruf. Ich habe mir nicht viel davon versprochen."
"Aber Sie sind trotzdem hingefahren."
Köster war dran und Alessandro passte auf. Er verlegte sich wieder auf Catenaccio.
"Ja."
Diesmal war die Reihe an Köster, aufzumachen.
"Longari, Burger ist heute Nacht ums Leben gekommen. Soviel steht fest, er ist ertrunken und bei Ihnen wird eingebrochen. Zufall, möglich, aber vielleicht gibt es einen Zusammenhang."
Longari wurde hellhörig. Ein offizieller Ermittler der Behörden hatte unabhängig von ihm den gleichen Gedanken. Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich. Auf der einen Seite gab ihm das Zuversicht, dass er selbst offensichtlich noch nicht so sehr an Verfolgungswahn litt, wie er das manchmal selbst befürchtete. Zudem erweckte es auch den Eindruck, dass nicht alle Funktionsträger des Regimes - und zu denen war Köster zweifelsfrei zu rechnen - so borniert waren, um die vorgefertigten Deutungen der Realität durch die politische Kaste so einfach und vorbehaltlos zu übernehmen. Doch es stellte sich in diesen Zeiten die drängende Frage, war das vielleicht eine Falle? Natürlich hatte er nicht die ganze Wahrheit erzählt. Natürlich hatte er verschwiegen, dass ihm Burger brisantes Material zur Machtergreifung angeboten hatte, ohne selbst zu wissen, ob das fragliche Material überhaupt die notwendige Qualität besaß, wenn es denn existierte. Der offensichtlichen Gefahr, der er sich damit aussetzte, musste er sich so lange wie möglich entziehen. Allein die Tatsache, auf die Ankündigung, Brisantes zum Thema Machtergreifung erfahren zu können, losgefahren zu sein, hieß, dass er das Thema interessant fand und sich damit beschäftigen wollte. Soviel stand fest. Vielleicht war Köster nicht verkehrt. Aber Alessandro konnte sich irren. Und das wäre aller Voraussicht nach sein letzter Irrtum gewesen.
So verlegte er sich darauf, Köster abzuwimmeln. Er könne sich keinen Zusammenhang vorstellen. Was hätte Burger denn schon für Botschaften verkünden können? Seine Persönlichkeitsstruktur war doch allgemein bekannt. Außer Dekadenz und Wichtigtuerei war da nichts. Nicht einmal die Intelligenz, die bei einem hochrangigen Politiker hätte vorausgesetzt werden dürfen, zumal er ja mehr als einmal seinen Führungsanspruch kundtat, bis zuletzt. Er wäre immer noch auf dem Trip mit Spoleto Calcio, Köster solle sich an die Spur halten, meinte er grinsend.
Der Kommissar war im allerersten Augenblick enttäuscht, hatte er doch zwischenzeitlich für einen kurzen Moment geglaubt, Longari knacken zu können. Ihm war natürlich jetzt bereits bewusst, dass selbst wenn der Italiener nicht alles gesagt hatte, es tatsächlich zu viel verlangt gewesen wäre. Köster war geradlinig - insbesondere gegenüber sich selbst - und konstatierte, dass seine Art, Longari zu befragen, nicht unbedingt zur Vertrauensbildung beitragen konnte. Und unterschwellig schwang der Gedanke mit, dass niemand mit brisanten Fakten rausrücken konnte, wenn er seinen Gegenüber nicht wirklich kannte. Auch da war Köster durch und durch Realist, obwohl er aufseiten des Systems stand. Und es gab noch eine weitere Möglichkeit. Longari könnte einfach Recht haben, es gab keinen Zusammenhang und es war Zufall. Vielleicht irrte er sich diesmal und sein Bauchgefühl leitete ihn auf eine falsche Fährte. Möglich, dass Burger einfach zu viel Alkohol getrunken hatte und deswegen in die Havel gefallen war.
Er signalisierte Alessandro, dass es natürlich die Möglichkeit gab und kein Zusammenhang existierte. Das sei er sich, dem Vorfall und nicht zuletzt Longari schuldig, dass er genau nachfrage und alle möglichen Facetten betrachte. Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg ins Präsidium. Und ausnahmsweise hatte er sich verabschiedet.
Alessandro hat sehr wohl registriert, dass Köster zum ersten Mal ihm gegenüber mitteleuropäische Höflichkeitsformen gepflegt hatte. Diese Normalität nahm er - so paradox es klang - mit einer gewissen Verwunderung auf. Was sollte er von diesem kauzigen, verschrobenen Polizisten halten? Er war Vertreter des Systems. Damit war automatisch größte Vorsicht geboten. Dennoch war Longari bereit, kein abschließendes Urteil über Köster zu fällen. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt vernichtend ausgefallen. Gleichwohl musste er ihm Intelligenz attestieren. Und er schien nicht der zu sein, der er dem ersten Anschein nach war. Zumindest hatte er entgegen aller Erwartung eine gewisse Portion Humor. Trotzdem, dass Köster ähnlich skeptisch über den Tod Burgers nachzudenken schien, konnte eine ganz hinterhältige Falle sein. Doch wie hätte er darauf kommen sollen, hatte Alessandro doch mit niemandem über seine Vorbehalte gesprochen? Nicht einmal mit Sonja, die er ja kaum besser kannte als Köster. Zudem hatte er sie seit ihrer gemeinsamen Nacht ja nicht mehr gesehen.
Insgeheim hoffte er natürlich, dass die Nacht mit ihr keine Eintagsfliege gewesen war. Er hatte ihre Telefonnummer und würde sie baldmöglichst anrufen. Doch jetzt musste er erst einmal mit der Wohnung weitermachen. Er wollte seine Insel, das, was ihn in dieser dunklen Zeit an seine Heimat erinnerte und die notwendige Behaglichkeit vermittelte, so schnell wie möglich wieder hergestellt sehen. Das war er sich schuldig. Und dann würde er weitersehen. Mit Sonja und mit Burger.