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ОглавлениеWolfgang Brandstetter stand am Fenster seines Büros. Er war beinahe am Ziel. An ihm mussten alle vorbei, die zum Kanzler wollten. Wie immer war er in Gedanken schon bei seinen nächsten Schritten, eine Eigenschaft, auf die er sehr stolz war. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Immer wieder hatten ihn seine Gegenspieler unterschätzt, waren mit dem nächsten Zug beschäftigt, während er schon mindestens zwei Schritte weiter war. So würde das nach seiner Überzeugung auch bleiben. Er dachte längst über das Vorzimmer hinaus. Und genau so, wie er das plante, würde es auch kommen. Weil es immer so war. Er war sehr zufrieden mit sich.
Kaum jemand hatte ihn zu Beginn seiner Karriere auf der Rechnung. Ein unschlagbarer Vorteil, der durch sein unscheinbares Äußeres noch unterstrichen wurde. Das einzige Merkmal, welches im wahrsten Sinne hervorstach, waren seine stahlblauen Augen. Kalt, berechnend, undurchdringlich. Bis seinen Widersachern klar wurde, dass diese Augen Brandstetters Wesen kurz und prägnant zusammenfassten, waren sie bereits ausgeschaltet. Denn seine übrige Erscheinung war Mittelmaß, von der Körpergröße angefangen über die Haare, die sich nicht zwischen blond und braun entscheiden konnten, eher stumpf und grau wirkten. Dazu die vernarbte Haut als Relikt seines Erwachsenwerdens, der eher schmächtige Körperbau, der so gar nicht zur viel gepriesenen Stärke ihrer Bewegung passte, bis hin zu seiner eher durchschnittlichen Intelligenz, deren äußerliches Zeichen seine mit Dialekt durchsetzte, holprige Sprache war.
Dass er viele Dinge in ihrer Komplexität nicht sofort erfassen konnte, war kein Nachteil. Vielmehr passte das hervorragend zum Populismus der neuen Regierung. Er beschäftigte sich eben nicht mit Dingen, die er nicht verstand. Das erleichterte ihm den Blick für das für ihn Wesentliche und half ihm, eine sehr spezifische Spielart von Bauernschläue zu entwickeln, so spezifisch, dass es kaum möglich war, seine Gedanken und Pläne auch nur ansatzweise zu durchschauen oder gar voraus zu ahnen. So wurde er unberechenbar und damit zunächst weitgehend ignoriert. Hinzu kam seine beispiellose Skrupellosigkeit. Zwar hatte er zu Beginn seiner politischen Laufbahn in einer Partei begonnen, die Ehre, klassische Moralvorstellungen des Abendlandes und Freiheit des Einzelnen auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Doch erstens, war er für seine Ziele jederzeit bereit, seine Meinung zu ändern und zweitens, waren dies so oder so Lippenbekenntnisse, nicht nur für ihn. Nicht dass Brandstetter jemals vorgehabt hätte, sich an den offiziell propagierten Grundsätzen seiner Partei tatsächlich zu orientieren. Wenn, dann höchstens temporär als Mittel zum Zweck.
Trotz seiner nicht besonders ausgeprägten Sensibilität hatte sein unstillbarer Machthunger ihn sehr früh erkennen lassen, dass er nicht allein war, wenn es darum ging, Wasser zu predigen und selbst Wein zu trinken. Er nahm seine Organisation als Interessengemeinschaft wahr, natürlich. Das sollte sie in der öffentlichen Meinung ja auch sein. Nur dass der Blick hinter die Kulissen ihm – selbst als zunächst kleines Rädchen im großen Getriebe - frühzeitig die Augen über den wahren Charakter öffnete. Sie waren Interessenvertreter im wörtlichen Sinn. Jeder vertrat seine Interessen. Und zwar seine eigenen, nicht die, der anvertrauten Wähler. Und es gab dabei ein unterschiedliches Geschick, ein öffentliches Bild zu erzeugen und im Hintergrund sein eigenes Ding zu drehen.
Und er war geschickt. So geschickt, dass er sich nicht darauf verließ, Karriere in ein und derselben Partei zu machen. Dies hätte bedeutet, sich auf sein Glück zu verlassen. Das tat er aus Überzeugung nicht. So trat er mehreren Parteien und Organisationen bei, deren Programmatiken sich teilweise heftig widersprachen. Brandstetter war das egal. Ihn interessierte Programmatik nicht, sondern nur der Zeitpunkt, wann er unwiderruflich auf das Pferd setzen musste, das am schnellsten die Ziellinie überwand. Und diesen Zeitpunkt hätte er nicht besser treffen können. Seine jetzige Position bestätigte dies nachdrücklich, denn nun saß er im Zentrum der Macht. Er hatte alles richtig gemacht. Ohne ihn lief hier nichts. Und das war sicher nicht der Schlusspunkt.
Objektiv betrachtet, hatte er auch Glück, eine Tatsache, die Brandstetter natürlich nicht zu akzeptieren bereit war, war er doch in seinen eigenen Augen das Kind seiner eigenen klugen Schachzüge. Nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs kam die Rezession. Das Erwachen für alle Beteiligten war umso härter, da die Weichen eher Richtung unaufhaltsames Wachstum gestellt schienen, denn auf schlagartigen Verfall von Werten. Doch es war passiert. Die Auswirkungen waren wie üblich, Massenarbeitslosigkeit, damit einhergehende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, Firmenzusammenbrüche im großen Stil. Panik steigerte die Emotionen, Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Die Mächtigen waren unvorbereitet. In der Hauptsache die Beschäftigung mit den eigenen Pfründen hatte den Blick für die tatsächliche Entwicklung verstellt. In allen wesentlichen politischen Strömungen. Einige wenige Gut meinende versuchten sich der Entwicklung entgegenzustemmen. Doch sie hätten sich Gehör verschaffen und ernst genommen werden müssen, was die weitverbreiteten Eitelkeiten in der Politik auf allen Ebenen zielsicher zu verhindern wussten.
Die Wahrnehmung der Betroffenen war entsprechend. Das Vertrauen in die Etablierten schwand, und Viele waren der Meinung, vollkommen zu Recht. Neue Möglichkeiten wurden gesucht und in Form von Radikalen auch gefunden. Die neuen Kräfte schienen unverbraucht von den Versuchungen der Macht. Der Zulauf war zunächst unaufhaltsam, doch der Schritt zur unumschränkten Regierungsgewalt wollte nicht gelingen. Ein geschickter Strategiewechsel musste her. Und das war Brandstetters große Chance. Als Teil der Etablierten sah er die Zeit gekommen, seine Rechnung zu präsentieren. So nutzte er seine Kontakte, um seinen Teil zur Verbindung zwischen bewährten und radikalen Kräften herbeizuführen, deren offizielles Ziel die Bewältigung der einschneidenden Staats- und Wirtschaftskrise sein sollte. Die tatsächliche Absicht war wie so oft die Macht. Darin waren sich beide Lager einig, was natürlich so selbstverständlich wie unausgesprochen blieb: Die einen wollten deren Erhalt, die Anderen deren Gewinnung. Und Brandstetter tat alles dafür, dass sich letztlich das Lager durchsetzte, wo er sich ungehemmt entfalten konnte und welches ihn seinem persönlichen Ziel näher brachte. Die Etablierten waren irgendwann zu einer Randnotiz verkommen und würden bald vollends Geschichte sein. Er würde dafür sorgen. Denn es gab ja Mitwisser und die konnten irgendwann verhängnisvoll sein.
Das Telefon klingelte. Brandstetters Sekretärin erkundigte sich, eine hochrangig und international besetzte Delegation frage nach einem Termin mit dem Regierungschef, ob sie durchstellen solle. Er schnauzte - trotz des wie immer freundlichen Tons seiner rechten Hand - unwirsch zurück, das ginge jetzt nicht, sie sollten sich später noch einmal melden und dies nicht zu früh. Der Kanzler sei auf absehbare Zeit viel zu beschäftigt. Damit knallte er den Hörer auf die Gabel. Es war für ihn unerheblich, worum es eigentlich ging und wie die Delegation besetzt war. Das war schon immer Brandstetters Verständnis mitteleuropäischer Höflichkeitsformen gewesen. Was für ihn nicht unmittelbar zielführend war, konnte keine Aufmerksamkeit beanspruchen. Und seine neuen Gönner waren entweder von vornherein ähnlich gestrickt oder hatten im Rausch des neuen nationalen Selbstbewusstseins dieses augenfällige Verhalten der grauen Eminenz des Führers der deutschen Regierung adaptiert. Es schien nicht nur sehr praktisch und drückte die kaum zu übertreffende Arroganz gegenüber anderen Sichtweisen aus, sondern konnte ja bei späteren Entwicklungen förderlich sein. Es hatte sich ja schon oft genug bewahrheitet. Zudem war Brandstetter selbst der Meinung, dies sei Ausdruck besonderer Macher-Qualitäten. Und diese Qualitäten waren auch für seine unmittelbare Umgebung Ansporn.
Nicht so für Sonja Walter, seine Vorzimmerdame. Sie war trotz ihrer knapp dreißig Jahre noch ein "Faktotum" - wie sie sich innerlich grinsend selber sah - des früheren Systems, das sich demokratisch nannte und es manchmal auch war. Jedenfalls mehr als jetzt. Klar. Das war ja auch keine Kunst. Unbestreitbar ging es früher wesentlich respektvoller zu. Sie wunderte sich darüber, in ihren jungen Jahren Gedanken mit Floskeln zu beginnen, die sie immer so gehasst hatte, Gedanken, an die so genannte "gute alte Zeit" in der "alles besser" gewesen war. Sie hätte sich nicht träumen lassen, vor Ablauf ihres eigenen siebzigsten Lebensjahres zu solchen vordergründigen und inhaltsleeren Plattitüden zu greifen.
Genau genommen waren es aber keine Plattitüden, fand sie nach einigen Momenten der Besinnung. Denn die Gründe für ihre Argumente waren ja sehr handfest und real. Ja, es ging sehr viel respektvoller zu. Dies bezog sie weniger auf ihr Privatleben, das für sie im eigentlichen Sinne kaum stattfand, erschöpfte es sich doch meist in einem freundlichen Plausch in der Nachbarschaft oder auch in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, deren Tribut sie zahlen musste. Denn häufig wurde es abends so spät, dass an Zerstreuung nicht mehr zu denken war und das gerade in der krisenhaften Zuspitzung der Lage in den letzten Jahren. Ihre kleineren Affären waren selten, kurz und zuletzt natürlich ganz ausgeblieben. Das, was also ihr typisches Privatleben beschrieb, hatte sich durch die so genannte neue Zeit naturgemäß auch verändert, aber nicht im Hinblick auf den gegenseitigen Respekt. Vielmehr war die freundliche Beredsamkeit von einst einem angstvollen Schweigen gewichen, selbst wenn eine gewisse Vertrautheit der Gesprächspartner hätte vorausgesetzt werden können. Dennoch konnte sie immer noch durch Blicke und Gesten spüren, dass ihr Achtung und Bewunderung entgegen gebracht wurde, auch wenn keine Worte fielen.
Sicher, die Männerwelt gaffte oft genug, war sie mit ihren 1,75 Metern Körpergröße, den sehr langen, dunklen Haaren, den noch längeren Beinen, der sportlich-schlanken und dennoch weiblichen Figur ein echter Anziehungspunkt. Dazu dieses temperamentvolle und ausdrucksstarke Gesicht mit dem herzhaften Lachen und den funkelnden großen Augen. Das war sie schon gewöhnt und beachtete es kaum mehr. Sie hatte ihre Ansprüche und diese Art der Sympathiebezeugungen war kaum geeignet, in ihr Reaktionen auszulösen, die tieferer Natur waren. Dennoch empfand sie die Bewunderung auch immer wieder – da war sie durch und durch Frau - als Bestätigung, obwohl Sonja schon lange klar war, dass sie verdammt gut aussah und es dieser Anerkennung wohl kaum bedurfte. Es tat einfach immer wieder gut, denn Entgleisungen der mehr oder weniger heimlichen Bewunderer waren selten.
Was sie tatsächlich verwunderte, war der Eindruck, dass selbst Menschen, die wussten, wo sie arbeitete und die unter dem neuen Regime durchaus zu leiden hatten, ihr warme und freundliche Blicke entgegenbrachten, auch wenn sich die Wortwechsel im knappen Gruß verloren und die Augen auch immer ein Stück weit Angst ausdrückten. Letzteres entsprach dem Zeitgeist und hatte weniger mit ihrer Person zu tun. Dies empfand sie als das eigentliche Kompliment an ihre stille Unbeugsamkeit und ihr zentrales Ziel, anständig zu bleiben, was auch passieren sollte.
Die Art und Weise des Umgangs im Büro machte sie aber rasend. Hier war die Wertschätzung nicht nur ihr gegenüber vollständig in sich zusammengebrochen. Die Bediensteten wurden ihrer Bezeichnung entsprechend behandelt, schließlich waren sie bedienstet. Da musste es ja Unterschiede geben, die sich kurz zusammengefasst in der Reduktion auf die jeweilige Personalnummer ausdrückten. Sie hatten zu funktionieren, nicht zu fragen, nicht mitzudenken, wenn sie denn dazu überhaupt für intelligent genug gehalten wurden. Auch waren schon Kollegen verschwunden. Offiziell wegen unüberbrückbarer Differenzen. Manchmal auch aus gesundheitlichen Gründen oder in beiderseitigem Einvernehmen. Und es gab einen vorsichtigen Flurfunk, der die Frage aufwarf, ob diese Kollegen jemals nach ihrem Ausscheiden irgendwann irgendwo wieder aufgetaucht seien, beruflich oder privat. Was die Angst steigerte und das Klima weiter vergiftete.
Nun gut dachte sich Sonja Walter und besann sich auf ihr Selbstbewusstsein. Sie stand auf und ging mit entschlossenen Schritten auf das Büro ihres Chefs Brandstetter, dem Büroleiter des Regierungschefs, zu. Sie klopfte resolut. Ein herrisches "Herein" war die Antwort. Sie trat ein und wartete geduldig darauf, bis Brandstetter geruhte, aufzusehen und sie wahrzunehmen. Ein kaum zu vermutendes und unsicheres Lächeln huschte für eine Sekunde über das Gesicht des hemmungslosen Machtmenschen. Es schien einen Augenblick so, als suchte er nach Worten, bis er hervorstieß, dass er den Innenminister zu einer Unterredung unter vier Augen erwartet hätte. Er stand linkisch auf, um ihr einen Platz an seinem Besprechungstisch anzubieten. Doch sie lehnte ab, es dauere nicht lange.
"Schade", erwiderte Brandstetter. "Meine Zeit ist knapp. Doch die möchte ich am liebsten mit Ihnen verbringen".
Sie empfand seine Äußerung als platt und oberflächlich, ganz typisch für einen wandelnden Komplex dachte sie. Sie verachtete ihn zutiefst. Machthungrig, kontaktarm und absolut skrupellos, aber seiner eigenen Sekretärin auf unbeholfene und total verklemmte Weise nachsteigen. Geld und Einfluss machten gerade in diesem Fall sicher nicht attraktiv, nicht bei mir, dachte sie stolz. Abgesehen davon, dass er ihr schon zu klein und zu schmächtig an Statur war. Die Kälte seiner Ausstrahlung – sofern sie überhaupt von Ausstrahlung bei einem Technokraten reden konnte – tat ein Übriges. Charisma war sicher etwas anderes.
"Herr Brandstetter, ich soll Ihnen eine Nachricht vom Innenminister übermitteln, dass er kurzfristig mit dem Kanzler zusammentrifft und deswegen den Termin mit Ihnen nicht halten kann. Es bedarf wohl noch einiger Vorbereitung", sagte Sonja höflich, aber bestimmt.
"Sonja, das Treffen mit dem Kanzler bin ich, sagen Sie das dem Minister. Schlechtes Zeichen, wenn der oberste Mann für innere Sicherheit und öffentliche Ordnung nicht weiß, mit wem er verabredet ist. Und wenn er sich jetzt erst vorbereitet ... Außerdem sollten Sie mich doch "Wolf" nennen, Sonja."
Wieder umspielte ein dünnes Lächeln seine noch dünneren Lippen. Er gab nicht auf. Er schien ernsthaft verliebt und wusste offensichtlich nicht, wie er mit dieser Gefühlsaufwallung umgehen sollte. Und gerade das machte ihn so lächerlich, dass er nicht wusste, wie er damit wirkte. Er konnte es auch nicht wissen, denn er hatte ja kaum Erfahrung trotz seiner mittlerweile fast vierzig Jahre. Das wusste Sonja schon längst. Käuflichkeit spielte nicht nur im politischen Leben Brandstetters eine Rolle. Es gab Dinge, die konnte man einfach nicht geheim halten.
"Herr Brandstetter, das ehrt mich. Doch Sie wissen, dass ich durch meine langjährige Tätigkeit im Amt, die aber vergleichsweise kurze für Sie persönlich, mich nicht in der Lage sehe, dieses Angebot anzunehmen" erklärte sie bestimmt.
Ihr umwerfendes und gewinnendes Lächeln nahm der Aussage für Brandstetter die Schärfe. Sie hatte ihn mit einer rechten Geraden zu Boden geschickt und er hatte es nicht wahrgenommen, sondern lächelte mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unsicherheit zurück. Zunächst einmal gut so. Schließlich war er ja gefährlich, auch wenn Sonja das kaum glauben mochte, so wie er sich jetzt benahm. Aber sie war um ihrer selbst willen realistisch und vorsichtig genug.
"Die Delegation sollten Sie ernst nehmen".
Kaum jemand wagte es, mit Brandstetter in diesem Ton zu sprechen, schon gar nicht, wenn der Kern der Aussage darauf hinauslief, er wäre sich der Tragweite seines Verhaltens nicht bewusst.
"Die Reaktion war gelinde gesagt verärgert. Es geht um die Einhaltung geschlossener Verträge. Der amerikanische Botschafter wird sich sicher nicht noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen, sondern direkt höheren Orts um Unterredung bitten".
Sie wusste, dass der Botschafter dann auch bei Brandstetter rauskommen würde. Sie wollte ihm die Gelegenheit geben, ihr zum wiederholten Mal genüsslich diese Tatsache auseinander zusetzen, als würde die scheinbar einfach strukturierte Schreibkraft die Zusammenhänge nicht sehen können. Diese Möglichkeit der Selbstdarstellung für einen Machtmenschen aus einfachen Verhältnissen war für sie der immer wiederkehrende Mechanismus zum Selbstschutz, lenkte der doch von der fast schon dreisten Art ab, mit der sie einen der Mächtigsten des Landes immer wieder bloßstellte, verstohlen verurteilte, ja regelrecht lächerlich machte. Außerdem verstärkte es in Brandstetter das Gefühl, auf die in seinen Augen naive Sonja Walter aufpassen zu müssen und väterliche Gefühle zu verstärken. Auch eine Art Lebensversicherung. Denn wenn er sie schon im Moment nicht haben konnte, wollte er sie doch in seiner Nähe haben. Schließlich war ja noch nicht aller Tage Abend. Als Brandstetter seine Selbstbeweihräucherung beendet hatte, holte sie zum nächsten Schlag aus.
"Was ist eigentlich mit Herrn Frank, unserem Personalchef? Den habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen", fragte sie äußerlich unbefangen, obwohl sie innerlich vor Wut kochte.
Auch fühlte sie sich ein Stück weit hilflos. Frank kannte sie schon lange, bevor sie hier anfing, denn er war ein langjähriger Freund ihres verstorbenen Vaters. Er hatte ihnen über die erste schwere Zeit der Neuorientierung ihrer Familie geholfen und teilweise im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten auch finanziell unterstützt. Schließlich hatte er ihr sogar zu ihrer Lehrstelle verholfen, einer Stelle, der sie bis heute treu geblieben war, obwohl es ihr zunehmend schwerer fiel. Sie sahen sich regelmäßig, sei es zu Hause oder im Amt. Und seit fast einer Woche keine Spur von ihm. Sie wollte laut aufschreien und tat dies innerlich immer wieder. Doch es half nichts. So besann sie sich ihrer Stärke, die sie sooft ausgezeichnet hatte und ging direkt auf das Ziel los. Um sich selbst Mut zu machen, redete sie sich ein, sie sei es ihrem Ruf als Gründerin des undiplomatischen Korps schuldig. Die Angst vor der Antwort, der Reaktion, der Wahrheit blieb.
"Frank? Welcher Frank? Ach, meinen Sie vielleicht ... äh ... den drahtigen Endfünfziger mit dem Schnauzbart?" kam die scheinheilige Antwort.
Er wollte Zeit gewinnen, um seinen Schwarm nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
"Genau den meine ich" kam Sonjas schnelle Reaktion.
Du sollst keine Zeit zum Luft holen haben, du Lump, dachte sie sich. Doch sie hatte sich diesmal verschätzt. Brandstetter fand zurück in die Rolle des machtgierigen Instinktmenschen. Klar konnte er sofort etwas mit dem Namen Frank anfangen. Dieser nichtsnutzige Tagedieb hatte bis in die Tage unmittelbar nach der Machtergreifung – und natürlich auch schon lange davor - Flugblätter verteilt und "Aufklärung" betrieben. Aufklärung! Lächerlich! Nur die neuen Machthaber waren im Recht, ihre Mitmenschen aufzuklären, denn nur sie wussten um die Wahrheit und was davon für die Öffentlichkeit, den Mob, wie Brandstetter immer wieder geringschätzig dachte, gut war. Sie hatten Frank abgemahnt, die Flugblattaktionen wurden eingestellt. Dennoch war er durch seine langjährige Tätigkeit im Amt eine Respektsperson unter den Kollegen geblieben, hatte er sich doch immer wieder für sie eingesetzt, als es um Themen wie Entlohnung, Schichtdienst und andere arbeitsrechtliche Fragen ging. Auch hatte er sich – so oft es seine knappe Zeit erlaubte – private Sorgen und Nöte angehört und Seelentröster gespielt. Er war als Personalchef eine echte Vertrauensperson und ein Patriarch im positiven Sinn: mächtig, unangefochten, unbeugsam bis hin zur Sturheit und stets mit breitem Kreuz für seine Leute. Frank liebte seine Aufgabe. Damit war er auch ohne Flugblätter eine Gefahr, denn seine Meinung konnte ja kaum abgemahnt werden. Er, Brandstetter, hielt sowieso nichts von der Einhaltung formaljuristischer Rahmenbedingungen. Das war vor der Machtergreifung kaum nötig und jetzt sowieso nicht. Hier war er seinen Mitstreitern für die gemeinsame Sache voraus. Seine berüchtigte und viel zitierte Stärke. Er wusste das schon lange. Sie hatten noch eine Weile gebraucht, um wahrzunehmen, das es nicht mehr nötig wahr, irgendeinen Schein zu wahren.
Also ließ er ihn ohne eine Gefühlsregung abholen. Eine offizielle Begründung für den Mitarbeiterstab wurde mit dürren Worten unter Hinweis auf seinen angegriffen Gesundheitszustand durch das jahrelange Engagement für Beruf und Kollegen abgegeben. Ende der Vorstellung. Womit Brandstetter natürlich nicht gerechnet hatte, war die Tatsache der engen Bekanntschaft zu seiner Sonja und die daraus resultierende Notwendigkeit, ihr jetzt eine glaubwürdige Begründung zu geben, die ihn bei ihr voranbrachte. Denn um Frank tat es ihm nicht im Mindesten leid. Eine Zecke musste beseitigt werden. Ein Routinevorgang und klinisch wie beim Hautarzt. Und außerdem gar nicht so selten mittlerweile ...
"Tja, Herr Frank," hob er an, "eine bedauerliche Sache, das mit seiner Herzschwäche. Es tut mir sehr leid, dass wir ihn verloren haben, doch hat er eindringlich darum gebeten, ihn vorzeitig in den Ruhestand gehen zu lassen. Wir wollten ihn umstimmen, auf einen ruhigeren Posten versetzen, doch nichts zu machen. Er reibe sich auf und sähe sich nicht mehr imstande, den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Reisende soll man nicht aufhalten. Wir haben ihm jetzt noch einen Kuraufenthalt in einem unserer mondänen Sanatorien spendiert, quasi als Dank für die langjährigen treuen Dienste für das Vaterland. Das wird ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen ..."
Das wird dich ganz sicher auf andere Gedanken bringen, du verräterisches Schwein, dachte er für sich.
Sonja sah an Brandstetters verhärtetem Gesichtsausdruck, dass er – ganz Machtmensch – das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte. Und sie wusste sofort, wer so eine Geschichte auftischt, steckt hinter derselben. Sie musste schwer an sich halten, um vor Schmerz nicht laut loszuschreien. Nicht die Erkenntnis des Charakters ihres Gegenübers hätte sie dazu gebracht. Nein. Der Wicht war mächtig, aber ein Wurm und so würde er auch eines Tages enden. Dessen war sie sich sicher, bei allem, was ihr jemals heilig war. Die Sorge um ihren väterlichen Freund ließ sie beinahe zerspringen vor Wahnsinn. Ihm konnte sie alles anvertrauen, nicht der vermeintlich besten Freundin, die sie sowieso schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hatte. An seiner Schulter konnte sie sich ausheulen, wenn es in einer der kurzen Beziehungen nicht so lief, das Glück mit ihm teilen, wenn es sie wieder einmal erwischt hatte. Auch er ließ sie seine Freude spüren, war sie doch praktisch zu seiner Tochter geworden, die ihm selbst ja nicht vergönnt gewesen war.
Sonja Walter sah ein, dass es hier keinen Sinn mehr hatte nachzubohren. Auch spürte sie Tränen der Trauer und Angst um den Freund in sich aufsteigen. Diese Genugtuung wollte sie ihrem verhassten Chef aber nicht geben. Also riss sie sich zusammen, war gerade im Begriff, ihr Lächeln wieder zu finden, um vorerst gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als im Vorzimmer ihr Telefon ging. Erleichtert über diese Möglichkeit des Abgangs, bedankte sie sich kurz für seine Aufmerksamkeit, warf Brandstetter noch ein kurzes Lächeln zu, gequält, wie sie empfand, doch hoffentlich nicht so offensichtlich, dass Brandstetter es hätte bemerken können. Sie verließ sein Büro und hasste ihn mehr als alles andere auf dieser Welt.