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Alessandro war mit seinem Lancia Thesis gemütlich vom Zentrum der Stadt in den Bezirk Köpenick und seinen Stadtteil Grünau gefahren. Meist nutzte er die wenigen Fahrten mit dem Auto, um zu entspannen, seinen Gedanken nachzuhängen, sich zu sortieren, ein Vorteil, wenn nicht sogar der einzige Vorteil gegenüber der U- und S-Bahn. Denn da holte ihn der triste Alltag nur allzu deutlich in Form verängstigter, bestenfalls ausdrucksloser Gesichter wieder ein. Auch konnte er die beredte Schweigsamkeit nur schwer ertragen. Deswegen nahm er verstärkt seine über zwanzig Jahre alte, aber durchaus mondäne und typisch italienische Limousine. Dazu passte sein zügiger, aber unaufgeregter Fahrstil, der sicher als eher unitalienisch zu bezeichnen war. Er ließ seinen Lancia einfach souverän und gelassen durch die Straßen Berlins gleiten. Gut zum Nachdenken. Häufig wurde er belächelt, dass er als angesehener Mitarbeiter einer noch angeseheneren Zeitung mit so einem alten Auto fuhr. Er wunderte sich kaum noch darüber. Es interessierte ihn auch nicht wirklich. Doch hinterließ die Tatsache, dass das selbst ernannte Volk der Dichter und Denker die Menschen meist nach der Maschine beurteilte, einen mehr als faden Beigeschmack. Vor allem, je hochgestellter seine Gesprächspartner zu sein schienen, desto häufiger traf er auf diese Verhaltensweise. Aber das passte. Gerade im Moment war nichts anderes zu erwarten.

Er freute sich jetzt auf ein gepflegtes Essen, ein wichtiger Bestandteil im Leben eines jeden Italieners, besonders, wenn es um das Abendessen ging. Er wollte Caprese und Saltimbocca zubereiten und danach ein Stück Pecorino zu sich nehmen. Dazu würde er sich einen gepflegten Sagrantino di Montefalco schmecken lassen, den er schon heute Morgen geöffnet hatte. Zum Abschluss der heiße Espresso. Die Kunst zu leben und zu genießen, Ars Vivendi als wichtiger Fixpunkt in seinem Leben. So er eben Zeit dazu fand. Und wenn er die Zeit dazu fand, war die Freude auf ein Stück Heimat, ein Stück Tradition besonders groß. Er war dann in seinen Gedanken besonders intensiv bei seiner Familie, die sich jeden Abend möglichst vollzählig zum Essen einfand. Nur einer fehlte meist und das war er. Schließlich war er weit weg in Berlin. Aber in diesen Momenten eben doch ganz nah. Glück musste man zu schätzen wissen, Glücksmomente auch bewusst erzeugen und erleben. Gerade in diesen Zeiten.

An seinem Haus angekommen, nahm er zügig die Stufen der breiten Treppe in den zweiten Stock, denn er brauchte die Ruhe und Entspannung, gepflegt zu Kochen und sich viel Zeit zum Essen zu nehmen, selbst wenn er allein sein würde. Außerdem wollte er die Tür so schnell wie möglich hinter sich schließen. Auch eine Form, mit der Realität umzugehen. Umso entsetzter war er, als er eben diese Tür zu seiner Wohnung erst gar nicht zu öffnen brauchte, denn das hatte schon jemand vor ihm getan. Schnell und entschlossen stieß er sie auf und blickte auf das reine Chaos. Die Wohnung war verwüstet, Bücher aus den Regalen gezerrt, Schränke und Schubladen standen offen, Esstisch und Stühle waren umgeworfen, das übrige Mobiliar teilweise erheblich beschädigt. Seine Unterlagen aus dem Schreibtisch lagen wild verstreut in der ganzen Wohnung. Offensichtlich hatte es Versuche gegeben, Teile dieser Unterlagen die Toilette hinunter zu spülen. Er war wütend, denn selbst die Wände waren nicht verschont worden und mit kaum leserlichen Schmierereien und Symbolen verunstaltet. Die kleine Insel Heimat lag vollständig in Trümmern.

Die Polizei kam in Form eines kleinen, kräftig gebauten und mürrisch dreinblickenden Kommissars mit seinem Gefolge. "Köster", stellte er sich kurz vor, wies seine Männer mit kurzen Blicken und Handzeichen wortlos an, die Untersuchung zu beginnen. Dann verschaffte er sich ebenso wortlos einen Überblick über die Situation.

Als er nach einer Weile damit fertig war, trat er auf Longari zu, zückte einen Notizblock und fragte unvermittelt: "Einen Verdacht?"

"Nein, natürlich nicht", erwiderte Alessandro ärgerlich.

"Der erste Eindruck lässt auf randalierende Jugendliche schließen, insbesondere wegen der Schmierereien", sagte Köster. "Fehlt etwas Wichtiges?"

Longari schüttelte den Kopf und fügte hinzu, dass er sich aber noch kein genaues Bild habe machen können. Er sei nach Hause gekommen, habe den Einbruch und sein Ergebnis gesehen, daraufhin sofort die Polizei verständigt, die auch innerhalb weniger Minuten prompt gekommen sei.

"Wertgegenstände?", fragte der Kommissar einsilbig.

Diese abgehackte Form der Fragen begann Alessandro zu nerven. Konnte dieser Polizist nicht in ganzen Sätzen mit ihm sprechen? Er hasste Sprechweisen, die eine Sprache verstümmelten, egal welche Sprache das war. So eilig konnte doch kaum etwas sein, dass keine Zeit war, sich klar und deutlich auszudrücken. Eine Berufskrankheit, die Alessandro gerade um diesen Gedanken kreisen ließen, obwohl seine liebe- und stilvoll eingerichtete Wohnung im Chaos versank und es doch Wichtigeres zu geben schien.

"Nein. In meiner Heimat habe ich einige wenige Dinge von Wert. Hier? Höchstens das Mobiliar, das eben teilweise zerstört wurde. Aber das sehen Sie selbst," begann er Köster zu antworten. "Ich kann mir keinen Grund vorstellen, bei mir einzubrechen. Jedenfalls nicht, um wertvolle Dinge zu stehlen, die es hier nicht gibt."

In Köster erwachte der alte Fuchs des erfahrenen Kripo-Beamten. Er war tatsächlich mürrisch, was nicht zuletzt an seiner Arbeit lag. Aber er hatte aus der Not eine Tugend gemacht und nicht zuletzt deswegen großen Erfolg bei Verhören und Befragungen aller Art. Kurze, knappe Fragen seinerseits, nichts preisgeben und hellwach bei den Erwiderungen seiner Gegenüber. Ihm war nicht entgangen, dass Longari differenziert hatte. Nicht zum Diebstahl von Wertgegenständen war eingebrochen worden.

"Sondern …?" setzte Köster nach.

Alessandro zuckte unmerklich zusammen. "Sondern? Ich kann mir überhaupt keinen Grund vorstellen!" antwortete er verärgert.

Er war über seine eigene Unkonzentriertheit erbost. Doch es war zu spät. Der Kommissar war am Ball. Das spürte er ganz deutlich, so deutlich, wie die Beute den Atem des Raubtieres im Genick zu spüren pflegt. Lapidar und routiniert fuhr Köster fort, ob er Feinde hätte, es irgendwelche Drohungen gäbe und woran er gerade arbeite. Longari war auf der Hut, riss sich zusammen und gab belanglose Antworten. Teilweise wurde er sogar wieder etwas sarkastisch, er habe Feinde bei Spoleto Calcio, weil er als Schiedsrichter angeblich ein kommunales Pokalspiel verpfiffen hätte. Das sei zwar reichlich zehn Jahre her. Doch vergessen sei das nicht. Und in diesem Zusammenhang habe es auch Drohungen gegeben. Wenn der Herr Kommissar mit zu seinem Lancia käme, könne er noch einige Kratzer aus der Zeit als Beweise für die Raserei der Tifosi besichtigen. Er verkniff sich weitere Scherze und insbesondere Aussagen, seine aktuelle Reportage über die politische Kultur im neuen Deutschland und die Einsatzbereitschaft der Mächtigen für ihr Volk könne Unwillen erzeugt haben. Er wusste, dass es einerseits der Wirklichkeit nahe kommen könnte und andererseits Köster zum Nachhaken aufstacheln würde. Also verlor er sich in Plattitüden.

Köster blieb äußerlich gelassen, fasste kurz zusammen, er sehe hier keine Profis am Werk. Dafür spräche beispielsweise die dilettantische Art, Longaris Unterlagen dadurch vernichten zu wollen, indem sie die Toilette hätten runtergespült werden sollen. Profis wären sicher anders vorgegangen. Er würde sich mit ihm in Verbindung setzen, wenn er noch Fragen hätte oder sich Neues ergäbe. Mit knappen Worten verabschiedete er sich, nachdem er mit ebenso knappen Worten, Blicken und Gesten seine Mannschaft eingefangen hatte. Bei seinem Dienstwagen angekommen, dachte er nach. Etwas passte nicht. Longari hatte nicht alles gesagt und hätte sich beinahe verraten.

"Jedenfalls nicht, um wertvolle Dinge zu stehlen, die es hier nicht gibt …" klang es im Kommissar nach. Also ging es nicht um Wertgegenstände im engeren Sinne, sondern um andere Dinge, die durchaus wertvoll sein könnten, aber nicht hier waren, wo die Täter sie gesucht hatten. Soviel schien klar. Er würde Longari im Auge behalten. Der dachte wohl, mit ein paar scherzhaften Bemerkungen über ein vermeintlich verpfiffenes Pokalspiel könne er Köster abschütteln.

Longari war ein einfacher Journalist, wie viele andere auch in Berlin. Er kam aus einem Land, das auf der politischen Ebene mit Deutschland befreundet war und eng mit der Regierung zusammenarbeitete. Er würde ihn dennoch überprüfen lassen. Es gab über jeden akkreditierten Korrespondenten Akten, die peinlich genau geführt wurden. Wann macht die fragliche Person was, wird die Miete pünktlich bezahlt, gibt es auffällige Schwachpunkte, Frauengeschichten, finanzielle Schwierigkeiten, Ansatzpunkte für Erpressbarkeit oder Korruption. Die Details gingen noch sehr viel weiter und erfassten häufig sogar die Marke der Zahnpasta, mit der sich das Objekt der Begierde die Zähne putzte. Beinahe jede nächtliche Wendung im Bett wurde mit Datum, Uhrzeit und vermutlichem Grund erfasst. Köster würde sich ein Bild verschaffen und dann weitersehen. Er verstand sein Handwerk. Schließlich hatte er mit seinen knapp sechzig Jahren auch genug Zeit gehabt, es zu erlernen.

Alessandro war ausgebrannt. Er hatte einen harten Tag hinter sich gebracht und sich nach der Entspannung eines gepflegten italienischen Abendessens gesehnt. Die Freude auf einen Abend in Ruhe mit kulinarischen Köstlichkeiten seiner Heimat war groß gewesen. Umso schwerer wog die Enttäuschung, dass dieser Traum geplatzt war. Sie überlagerte sogar den Ärger über die verwüstete Wohnung. Er dachte einen Moment nach und ein Ruck ging durch ihn durch. Nein, er würde sich nicht beugen, nicht der augenblicklichen Situation, nicht der allgemeinen Stimmungslage. Außerdem hatte er nicht nur Wut im Bauch, sondern auch gehörigen Hunger. Also würde er sich morgen um das Zusammenfegen der Trümmer kümmern, schnappte sich seinen Mantel, verschloss die Tür mit dem beschädigten Schloss so gut es eben ging und machte sich auf den Weg in eine kleine Kneipe um die Ecke, die er immer wieder aufsuchte, wenn er sich nicht die Zeit nehmen konnte oder wollte, groß aufzukochen.

So betrat er das Silberstein, eine Lokalität typischer Berliner Art und ganz im Jugendstil gehalten. Das weckte zunächst wenig heimatliche Gefühle, gerade wegen der immer wieder gepflegten deutschen Bierseligkeit. Die Dunkelheit der Räumlichkeiten und des Inventars tat ein Übriges. Doch der Wirt war fast schon herzlich, hatte sich durch die neue Zeit offensichtlich nicht besonders beeindrucken lassen, was sich eben auch auf die Gäste zu übertragen schien. Zusammen mit dem gepflegten Ambiente war das Silberstein eine Oase inmitten der Tristesse.

Wie so oft war reger Betrieb und Alessandro musste am Tresen Platz nehmen, was ihn aber nicht weiter störte. Im Gegenteil war ihm doch sofort die attraktive dunkelhaarige junge Frau aufgefallen. Es war auch nur noch ein Platz frei. Ausgerechnet neben einer schönen Frau. Was für ein neuerlicher Schicksalsschlag schmunzelte Longari nicht nur innerlich. Er nahm Platz, bestellte eine Kleinigkeit zum Essen und ließ sich in Ermangelung wirklich guter italienischer, französischer oder spanischer Rotweine einen trockenen Frankenwein bringen. Wenn die Rotweine aus Deutschland schon nicht trinkbar waren, so dachte er sich, gute Weißweine gibt es allemal.

Während er sich genussvoll mit seinem Wein vertraut machte, bemerkte er die Blickwendung seiner schönen Nachbarin. Grinsend schaute sie ihn an, offensichtlich fasziniert von seiner Art, zu genießen, fast völlig abzuschalten, um sich auf etwas Schönes einzulassen, schlechte Zeiten einfach einmal schlechte Zeiten sein zu lassen. Sollten die doch Andere deprimieren. Das fiel ihr schlagartig auf. Alessandro drehte sich zu ihr um. Sie grinste ihn offen an. Ihm blieb also gar nichts anderes übrig, als genauso offen zurückzugrinsen. Das fiel ihm nicht schwer, ganz gewiss nicht. Ihr Lächeln war einfach umwerfend.

"Jetzt muss aber einer von uns was sagen. Sonst muss ich laut loslachen," begann sie. "Das war jetzt so anders. Da sitzen Sie neben mir und genießen so einfach und selbstverständlich Ihren Wein. Und dann lächeln Sie auch noch. Das ist ebenso sympathisch wie ungewöhnlich. Ich bin Sonja Walter."

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Alessandro ergriff sie, schon ein wenig perplex über die ungewohnte gute Laune, die ihm entgegenschlug. Die Überwindung hielt sich in sehr engen Grenzen. Er war schon beinahe gefangen. Und seine italienische Leichtigkeit gewann nach langer Zeit mal wieder die Oberhand. Er fühlte sich ausgesprochen gut dabei.

"Alessandro Longari, freut mich sehr."

"Ah, Sie sind Italiener? Was führt Sie in unser schönes Land?" Ihr Unterton war süffisant. Nicht ungefährlich, wenn der jeweilige Gesprächspartner unbekannt war. "Jetzt sagen Sie nicht, der gute Wein," und lachte herzhaft.

"Nein, nein, obwohl trockene und gehaltvolle Weißweine wie dieser wären den Import schon wert. Sie haben mich da glatt auf eine Idee gebracht, " scherzte er. "Ich bin geschäftlich unterwegs. Ich arbeite für die Automobilindustrie meines Landes, " log er.

Beim Eintauchen in die Tiefen einer Gesellschaft behielt er seine wahre Profession für gewöhnlich erst einmal für sich. Das hatte zunächst mit der Authentizität der Informationen zu tun, die er zu gewinnen suchte. Und in diesem Fall wollte er auf der privaten Ebene seine Erfolgschancen nicht dadurch mindern, dass eine schöne Frau eine Mauer des Misstrauens um sich aufbaute, nur weil weite Teile seines Berufsstandes dies leider nur allzu oft rechtfertigten. Außerdem war das gar nicht so weit von der Realität entfernt. Er war Autonarr und seine Eltern versicherten ihm immer wieder glaubhaft, seine ersten Worte seien nicht – wie sonst üblich – "Mama" oder "Papa" gewesen, sondern etwas, was sich wie "Auto" anhörte. Dichtung oder Wahrheit? Völlig egal, die Geschichte konnte er als Vorherbestimmung seiner Leidenschaft für belle macchine, schöne Autos interpretieren. Und sie hatte Charme. So war seine Legende glaubwürdig.

"Ich arbeite für die Regierung – aber nur als unbedeutende Sekretärin."

Wieder war ihre Offenheit entwaffnend und Alessandro fragte sich, ob sie so offen gewesen wäre, hätte er ebenso offen über seinen Beruf gesprochen. Doch seine Menschenkenntnis - die ihn nur selten trog - sagte ihm, dass er einen Fehler gemacht hatte und er ärgerte sich dementsprechend. Sollte es so kommen, wie er es im Moment hoffte, würde er irgendwann zugeben müssen, Sonja längst nicht so ehrlich begegnet zu sein. Das konnte bereits gewonnenes Vertrauen zerstören. Silencio, silencio, sagte er sich. Alles noch sehr theoretisch und letztlich unsachlich. Er verschwendete Ressourcen in den Bau von Luftschlössern, ohne zu wissen, ob es sinnvoll war. Und notwendig war es im jetzigen Stadium sicher erst recht nicht. Außerdem musste man in der heutigen Zeit vorsichtig sein. Das war eine so oder so stichhaltige Begründung, sollte er sich ihr gegenüber eines Tages rechtfertigen müssen. Zurück zu La Serenita. Dieses Gefühl war ja schon beinahe wieder greifbar. Nur musste er den Umgang wieder erlernen. Er grinste, denn in diesem Fall konnte das schnell gehen.

Sonja erwiderte sein Lächeln. "Meist habe ich damit ein Gespräch beendet. Aber Sie ...??? Sie haben jetzt offensichtlich keine plötzlichen und sehr dringenden Termine, die Sie unverzüglich wahrnehmen müssen", scherzte sie. "Sehr ungewöhnlich. Aber als Italiener ..."

Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Er wirkte müde, doch seine Augen strahlten in einem warmen Braunton. Er war groß, schlank und gut gebaut. Das hatte sie sofort gesehen. Dann die dichten schwarzen Haare, die leichte Ansätze von Grau zeigten, der dunkle Teint. Er war interessant, sehr interessant sogar. Anders als andere. Gut aussehend und Ausstrahlung. Dazu weit entfernt von den Selbstdarstellern vergangener Tage. Ja, gerade diese Ausstrahlung. Longari war einfach eingetreten und der Raum gehörte ihm. Ganz ohne sein Zutun. Nicht, dass er das noch registrieren würde. Er wusste es schon zu lange, um diesen Effekt überhaupt noch wahrzunehmen. Er hatte es nicht nötig und wollte es auch nicht mehr wahrnehmen, so selbstverständlich war das Ganze. Sehr uneitel und damit im höchsten Maße souverän. Das war´s! Auf eine ganz unaufgeregte Art souverän. Genau, dachte sie sich. Sehr souverän. So musste für sie ein richtiger Mann sein. Und sie war fasziniert.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit. "Nein, ich habe absolut keine dringenden Termine. Um diese Uhrzeit schon gar nicht, auch wenn manche meiner Landsleute in dem Ruf stehen, gerade in diesen Stunden besonders aktiv zu werden, die dunklen Stunden für noch dunklere Geschäfte zu nutzen. Einer meiner Geschäftspartner hat leider kurzfristig abgesagt," scherzte er. "Im Gegenteil, ich könnte doch im Moment gar nichts Besseres vorhaben, als mich mit Ihnen zu unterhalten. Möchten Sie etwas trinken? Ich lade Sie ein. Tun Sie mir den Gefallen."

Sie musste nicht überredet werden.

"Sehr freundlich, Herr Longari. Danke vielmals, ich nehme natürlich gerne an. Denn auch meine geschäftliche Verabredung für heute Nacht ist überraschend geplatzt. Ich habe also unverhofft eine Menge Zeit," lachte sie.

"Meine Freunde nennen mich Sandro", sagte er im sicheren Bewusstsein, dass eine tolle Frau mit dieser Dynamik nichts gegen eine schnelle Aufgabe von Förmlichkeiten haben konnte, zumal diese in ihrem Fall wirklich absolut überflüssig waren.

Und er hatte recht damit. Er wunderte sich nur kurz über Sonjas Wahl, einen Lambrusco zu trinken. Ihm würde ein derartiger Wein nicht über die Lippen kommen. Die erdrückende Süße überlagerte die nicht vorhandene Tiefe und außerhalb seines originären Anbaugebiets war dieser Rote schon deswegen nicht trinkbar, weil die verkauften Mengen nur durch mittelmäßigen Verschnitt zum Strecken der tatsächlich produzierten Menge möglich waren. Sei es, wie es sei. Ein eigener Charakter durfte einen sehr eigenen Geschmack haben. Zudem verlor sich sein kurzer kulinarischer Vorbehalt in der angeregten Unterhaltung, die sich zügig fortspann. Sie redeten über Gott und die Welt, viel über Kunst, sei sie bildend, die Kunst, sich geschmackvoll einzurichten, die Kunst, gut zu kochen, die Kunst zu leben und trotz dieser Zeiten zu genießen. Sie hatten viele und noch vielmehr Anknüpfungspunkte. Und die beinahe zwanzig Jahre Altersunterschied? Reine Theorie.

Dieser Altersunterschied blieb auch im Laufe der Nacht graue Theorie. Er war besser in Form als alle Liebhaber, die Sonja vorher gehabt hatte. Er hatte Erfahrung und setzte diese so ein, wie sie das von seiner männlichen Erscheinung erwartet und erhofft hatte: einfach souverän, zielsicher, mit Gefühl und Ausdauer. Er konnte sie, ihre Bedürfnisse und Erwartungen regelrecht lesen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ausgehungert war, dass die Frustration in manchen Bereichen ihres Lebens sie so gleichgültig hatte werden lassen, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich in der Lage war, abzuschalten, sich fallen zu lassen, sich vollkommen hinzugeben. Im Lichte des Morgengrauens betrachtet, würde ihr dieser Gedanke neuen Mut einhauchen. Wenn diese Nacht das Ergebnis vorheriger Resignation gewesen sein sollte, sie nur deswegen in der Lage gewesen war, in totaler Weise zu genießen, unbelastet von allen anderen Gedanken, dann hatten diese Enttäuschungen zweifelsfrei etwas Gutes. Im Moment war sie einfach nur glücklich und verschwendete keine noch so kleine Windung ihres Hirns daran, ob dieses Glück von kurzer, gar von einmaliger Dauer oder vielleicht von Bestand sein könnte. Und das war der Clou, einfach nicht zu weit planen. Dann konnte sie wirklich entspannen.

Alessandro ging es ähnlich. Gerade die letzten Stunden bevor er ins Silberstein aufbrach, ließen den Schluss zu, dass von diesem Tag nichts Erinnerungswürdiges würde übrig bleiben. Das hätte er nicht gedacht. Dass er sich trotz der bedrückenden Erlebnisse der letzten Zeit seine Fähigkeit bewahrt hatte, das Glück einfach beim Schopfe zu packen, stimmte ihn optimistisch. Das konnte Zufall sein, einfach im passenden Moment in der richtigen Stimmung gewesen zu sein. Das konnte an einem heftigen Verdrängungsmechanismus liegen, der ihn in die Lage versetzte, alles Unangenehme rigoros auszublenden. Doch sehr viel wahrscheinlicher war in seinem Fall, dass diese Einstellung grundsätzlicher Natur war. Es gab immer wieder mehr oder weniger einschneidende Erlebnisse. Unter diese Kategorie fiel sicher der jüngste Umschwung in der politischen Kultur in Deutschland, so man in diesem Fall überhaupt noch von Kultur reden konnte. Dennoch, es gab auch immer und ohne jede Ausnahme Momente, die es zu genießen galt. Es gab schwere Situationen, sicher. Aber eines stand unverrückbar fest: Das Leben war schön, richtig schön. Gerade wenn er eine schöne Frau roch, so wie jetzt! Diese Haut, samtweich und warm. Dieser wohlgeformte Körper. Diese sagenhafte Figur. Sie zu fühlen, sie zu spüren war das Höchste. Das Leben war definitiv lebenswert, ganz klar. Und das markierte eine entscheidende Abweichung zu seiner sonst üblichen Einstellung. Hier handelte es sich für ihn um ein wirklich unverrückbares Dogma. Und das war ausnahmsweise gut so. Da konnte passieren, was wollte.

Déjà Vu

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