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Alessandro Longari erschauerte. Es war ein früher Abend im Januar. Ein kalter Wind ließ die sowieso schon niedrigen Temperaturen noch kälter erscheinen. Obwohl er schon länger hier lebte und sich an das manchmal unwirtliche Klima in dieser Jahreszeit gewöhnt haben sollte, sehnte er sich gerade in diesem Moment besonders nach seiner Heimat tief im Herzen Italiens.

War es nur das scheußliche Wetter? Auch in seiner Heimat konnte es richtig kalt werden. Auch in Umbrien konnte der Wind richtig ungemütlich sein. Auf gut Italienisch mostruoso, eben scheußlich. Er brauchte gar nicht erst in sich hineinzuhören, um zu wissen, dass es trotz der typisch italienischen Leichtigkeit seiner Garderobe zuallerletzt dieser kalte Januar mit der besonders steifen Brise aus Osten war, der ihm die Gänsehaut über den Rücken jagte.

Natürlich vermisste er seine Familie, allen voran seine Eltern, die noch immer seinen Bruder Francesco bei der Bewirtschaftung des Hotels in seinem Geburtsort unterstützten, obwohl beider Gesundheit dies kaum noch hergab. Besonders die gutmütigen Augen seiner Mutter Filomena, die über achtzigjährig das war, was sie schon immer gewesen war, seit er denken konnte: l´anima della famiglia, das Herz, die Seele der Familie. Sein Vater Marcello liebte und bewunderte sie, intensiver und dankbarer als jemals zuvor. Seine Position als Capofamiglia berührte dies nicht im Geringsten. Was war das Familienoberhaupt schon ohne die Seele der Familie? Seelenlos, certo. Also gingen sie jeden Sonntag Händchen haltend die steile Hauptstraße zum Dom in den Frühgottesdienst. Das tat ihnen trotz des unübersehbaren körperlichen Verfalls einfach gut. Eine feste Größe in ihrem arbeitsreichen Leben seit mehr als sechzig Jahren und eine Facette ihrer kaum zu erschütternden Ausgeglichenheit. Wie der ausgiebige Plausch auf der Piazza del Popolo nach der Messe.

Und dann sein Bruder Francesco, gut 8 Jahre jünger als er, Alessandro, mit seiner Frau Beatrice, Daniele und Maria, den beiden Kindern. Erst zum Jahreswechsel hatte er sie besucht und das genossen, was ihm selbst bisher nicht vergönnt war, die stete Geborgenheit in der Familie mit der sprühenden Lebensfreude der beiden Kinder, wenn auch Letztere sich manchmal in derbe Streiche verstieg, deren Ziel meist er war. Alessandro musste lächeln. Die Gedanken an Daniele und Maria ließen ihn für einen Moment vergessen, wo er war.

Die Kälte hatte er verdrängt. Doch eine scharfe Böe riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Da war sie wieder, diese zähe und nicht nachlassende Kälte, als wollte sie ihn mit ihren Klauen nie wieder loslassen. Alle Verdrängung half nichts. Auch ein wärmerer Mantel hätte nicht geholfen. Diese Kälte hatte eine Schärfe, die über ein reines Witterungsphänomen hinausging. Diese Kälte wurde durch die Einsamkeit gesteigert, fernab seiner Familie, die er so liebte. Wetter klamm, ja, Einsamkeit, auch, natürlich. Doch das waren nicht die Faktoren, die diese Kälte zutreffend beschrieben.

Seit er für seine große alte Zeitung Il Messaggero schrieb, hatte er manches erlebt, besonders seit er als Auslandskorrespondent tätig war. Nicht nur die ständigen Irrungen und Wirrungen in seinem eigenen Land, das teilweise sehr eigenwillige Verständnis einer Balance zwischen Macht und Vertrauen in der italienischen Politik. Das hatte es schon immer gegeben, Normalität gewissermaßen, ebenso wie ausgeprägte und immer wieder komisch, ja geradezu grotesk anmutende Selbstinszenierungen der obersten Staatsführung. La Serenita, die charakteristische italienische Gelassenheit relativierten Vieles.

Überhaupt, diese italienische Gelassenheit. Eine feste Größe, scheinbar. Doch die schien selbst er als routinierter Berichterstatter im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich zu lassen, sobald ihn ein Auftrag über die Grenzen seiner Heimat ins Ausland führte. Er glaubte selbst schon lange nicht mehr an die immer noch verbreitete Sichtweise, das Gros der Italiener ließe sich sowieso nicht ernsthaft aus der Ruhe bringen. Meist sah er in Äußerungen dieser Art die heimliche Bewunderung, Aufregung, Hektik, Fremdbestimmung weitgehend ungerührt zur Kenntnis zu nehmen, unbeeindruckt zu bleiben von Dingen, die trotz ihrer momentan einschneidenden Wirkung sich doch immer wieder im Zeitgeist verloren. Und nicht zuletzt erblickte er darin auch den Wunsch, sich eine entspanntere Haltung leisten zu können. Einen Wunsch, den er als Italiener für sich mittlerweile als beinahe unerfüllbar einstufte. Obwohl er La Serenita mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

An ihm selbst war Alessandro das schon lange aufgefallen, dass Vieles, über das er zu berichten hatte, nicht dazu geeignet war, sachlich und rein an Fakten orientiert betrachtet zu werden, obwohl seine Leser gerade dies von ihm erwarten durften. Es gelang ihm auch immer noch, seine Emotionen weitgehend aus seinen Artikeln herauszuhalten. Er war Profi, certo. Doch der Versuch, ein objektives Bild zu vermitteln, fiel ihm immer schwerer. Aufmerksamen Beobachtern blieb diese innere Zerrissenheit nicht verborgen, denn es hatte sich allmählich ein süffisanter Unterton in seine Lageberichte eingeschlichen, der sensiblen Charakteren einen klaren Weg wies.

Und nun, nach hautnahen, manchmal gefährlichen Einsätzen in den üblichen und immer wiederkehrenden Brennpunkten dieser Welt, stand er am Adlon in Berlin. Er war nach längerer Zeit wieder hier im Einsatz. Die Entwicklung verlangte nach einem ruhigen, souveränen Reporter, also nach ihm, wie sein Chef ihm kurz und knapp mitteilte, während er Longari die Reiseunterlagen übergab. Es gab keinen besseren Kenner der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der Berlins im Speziellen. Das war jetzt auch schon wieder über 18 Monate her.

Vor Jahren hatte er schon einmal mehr als zwei Jahre in Berlin verbracht und sein ursprüngliches Bild angeblicher teutonischer Strenge und der scheinbar verbreiteten Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit in Deutschland revidieren müssen. Er hatte es aber auch nur zu gerne revidiert. Er hasste Humorlosigkeit, er hasste übertriebenen Ernst, der sich zur Verbissenheit auswuchs und ganz besonders hasste er Vorurteile. Er war natürlich selbst nie ganz frei davon, aber hatte eine tiefe innere Abneigung gegen alles Vorgefasste, scheinbar Unverrückbare. Longari war immer ein Stück weit verärgert, wenn er sich selbst dabei ertappte, kein möglichst umfassendes eigenes Bild einer Situation, sondern mehr oder weniger reflektiert die allgemeine Meinung verinnerlicht zu haben. Vorurteile??? Die hatten schon zu viel Unheil angerichtet. Also weg damit, zumindest in einem Bereich, den er, Alessandro, selbst beeinflussen konnte. Dieser Bereich war fast nur auf seinen eigenen Kopf beschränkt und selbst das schaffte er manchmal nicht wirklich.

Und bei seinem ersten Besuch in Berlin? Er war mit Gedanken voller Klischees angereist. Ärgerlich genug. Entsprechend sauer war er auch aus dem Zug gestiegen. Doch es hatte kaum eine Woche gedauert und Longari begann, sich wohlzufühlen. Das war ein gutes Zeichen, brauchte er für gewöhnlich recht lange, um ein Mindestmaß an innerer Ruhe zu finden, wenn er schon wieder reisen musste. Und er musste ja ständig reisen. Doch seine für Umbrien typische Bodenständigkeit hatte – wie so vieles – ihre zwei Seiten. Und eine war, dass Flexibilität nicht eben seine Stärke war. Das lag natürlich auch an seinen mittlerweile 47 Jahren, dass das Einstellen auf neue Situationen noch zäher vonstattenging als früher.

Also kam er nicht nur mit besagten Gedanken voller Klischees, sondern auch mit einer gehörigen Portion Skepsis in Berlin an, einer Skepsis, die zunächst gar nichts mit dem konkreten Einsatzziel zu tun hatte. Vielmehr hatte er immer wieder Angst davor, zu scheitern, sich nicht feinfühlig genug zu zeigen, seinen Lesern in der Heimat ein möglichst neutrales Bild zu vermitteln. Gerade weil Longari um den harten und kaum zu gewinnenden Kampf gegen Subjektivität wusste, wollte er mit seiner Arbeit kein Wasser auf die Mühlen derjenigen bringen, die diese Subjektivität pflegten und für ihre Ziele nutzten. Er nannte es sein Lampenfieber, das er eben vor jedem neuen Auftrag empfand.

Doch schlich sich damals in seine sowieso vorhandene latente Unsicherheit eine Komponente ein, die er nur in Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Deutschland im Allgemeinen und Berlin im Speziellen bringen konnte. Denn vorher waren ihm diese Empfindungen fremd. Dazu war er einfach zu lange im Geschäft. Jetzt ging die Geschichte über das übliche Lampenfieber hinaus und er führte es auf die Wurzel allen Übels zurück, nämlich auf Vorurteile. Seine Vorurteile. Er hatte einfach ein ungutes, regelrecht flaues Gefühl, ein Land und seine Hauptstadt besuchen zu müssen, das im Ruf stand, das genaue Gegenteil der italienischen Serenita zur Perfektion entwickelt zu haben. Perfektion schien sowieso das Stichwort. Nichts sollte schief laufen dürfen, nichts sollte Zufall sein, Ergebnisse zählten und diese hatten bitteschön Bewunderung und Ehrfurcht zu erzeugen. So eine Sicht, die Alessandro von zu Hause mitbrachte.

Umso so angenehmer war dann der Kontrast seiner Klischees zur Realität. Beinahe nichts davon traf zu. Die Lebensfreude, ja die pure Lust am Leben, die ihn sofort erfasste, als er den Bahnhof verließ, war eine der großen Überraschungen, die sein Berufsleben für ihn parat hielt. Die warme Sommersonne von damals half sicherlich, und als er zurückdachte, fiel im als Paradebeispiel die Fußball spielenden Kinder vor dem Reichstag ein. Dazu unzählige Familien, die sich hier zu Picknick und fröhlichem Plausch trafen. Es war eine geradezu ausgelassene Stimmung. Das hätte eine italienische Idee sein können, vor dem Parlament Fußball zu spielen und mit der Familie zu feiern.

Überhaupt die Vielfalt. Klar hatte er zu arbeiten. Aber er war Italiener. Also konnte er auch einen gewissen Mut zum Liegenlassen entwickeln. Und dann war er mit dem Blick hinter die Kulissen beschäftigt. Nicht hinter die Kulissen der Macht, nein. Das war Beruf. Er wollte Stimmung und Stimmungen aufnehmen, wollte wissen, wieso eine Stadt, ein Landstrich pulsierte oder eben nicht. Und Berlin pulsierte! Von Strenge keine Spur. Also ab ins Nachtleben, rein in Bars mit fetziger Musik, rein in prachtvolle Revuen, die immer wieder der Feder italienischer Bohemiens entsprungen schienen. Dazu die spitzen Zungen Berliner Kabarettisten, denen keiner der Mächtigen entkam. Und für die melancholischen Momente Konzerte in jeder nur vorstellbaren Besetzung mit jedem nur denkbaren Programm. Meist verflog seine Melancholie dann sehr rasch. Typisch für eine Metropole von der Größe Berlins, certo, aber so unerwartet. Gerade hier. Es gab buchstäblich nichts, was es nicht gab und was nicht möglich gewesen wäre und er hatte es genossen.

Innerlich musste Longari wegen dieser Erfahrung grinsen. Dieser neuerlichen Erfahrung. Er hätte es wissen müssen. Das Schlimmste am Gegenstand einer Betrachtung waren die vorgefertigten Meinungen, die darüber in Umlauf waren. Für ihn eine uralte Binsenweisheit. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, er wäre schon wieder angetreten. Seine augenblickliche Freude darüber überdeckte sogar den immer wiederkehrenden Gedanken, ob seine strikte Aversion gegen jede Form von Subjektivität nicht auch schon so unverrückbar war, dass er mit sich selber hätte hadern müssen. Die von ihm so geliebte italienische Gelassenheit war in diesem Moment eben nicht zu schlagen gewesen.

La Serenita! Damals hatte er sie sehr intensiv empfinden können, ausgerechnet hier. Doch wo, wann und vor allem warum war ihm diese Gelassenheit abhandengekommen? Wieso befürchtete Longari mittlerweile sogar, er könnte diese Fähigkeit sogar komplett und auf ewig verloren haben? Was war das für ein verfluchter Urknall, der seine Emotionen auf den Kopf stellte, eine nicht abzuschüttelnde, bleierne Schwere auf ihm lasten ließ? Gab es diesen Urknall überhaupt? Oder war es ein mehr oder weniger schleichender Prozess gewesen?

Denn just in dem Moment der warmen Gedanken an einen vergangenen Aufenthalt an selber Stelle sorgte ein neuerlicher und eiskalter Schauer, der über seinen Rücken lief, dafür, dass er aus seinem Tagtraum erwachte. Wieder einmal wurde ihm nur zu deutlich, dass es eherne Gesetze in Wirklichkeit nur in der Mathematik und den verwandten Wissenschaften gab. Definitiv nicht in seinem Beruf. So sehr er sich das auch manchmal gewünscht hätte.

Nichts von dem, was er an Berlin so geliebt hatte, war geblieben. Und es gab einen wesentlichen Unterschied zu seinem früheren Aufenthalt. Diesmal wusste er, was ihn erwartete, wusste, dass die Stimmung gekippt war. Er hatte sich darauf einstellen können. Und das war auch seine Rettung, sonst hätte die ihm entgegen schlagende Kälte Alessandro den letzten Optimismus geraubt. Nur so konnte er in der einstmals nördlichsten Stadt Italiens – wie er Berlin mit einem Augenzwinkern genannt hatte – die mittlerweile versteinerten, maskenhaften, grauen Gesichter der Passanten um ihn herum ertragen. Niemand wagte es mehr, durch seinen Gesichtsausdruck irgendeine Emotion nach außen dringen zu lassen, schon gar keine fröhliche. Die Angst, das Misstrauen waren greifbar. Keiner traute dem Anderen über den Weg. Jeder Kontakt konnte der falsche sein. Also am besten keine haben und bestehende, unausweichliche auf ein Minimum beschränken. Das Leben in Berlin war für jeden Einzelnen zum Kokon mutiert.

Der Platz vor dem Reichstag war befestigt worden. Kein Platz mehr für Fußball spielende Kinder und Familienausflüge. Eine Einfriedung aus massiven Granitpfosten, verbunden mit schweren Ketten, verlieh dem Ensemble eine kasernenartige Ausstrahlung. Das Ergebnis passte, jedenfalls aus Sicht der neuen Machthaber: Die Menschenleere vermittelte nicht nur den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung, sondern flößte vor allem Ehrfurcht ein. Das war eines der großen Versprechen beim Regierungsantritt und schon lange davor, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Dazu bediente sich der Apparat sehr gerne Symbolen. Und eines war sicherlich, den Platz vor einem wichtigen Denkmal des deutschen Parlamentarismus gesäubert zu haben. Sinnbild für den neuen Geist. Nicht nur Säuberung eines wichtigen Platzes von johlenden Kindern und lachenden Familien, die es offensichtlich an Respekt gegenüber staatstragenden Institutionen fehlen ließen. Endlich war ein unerhörter Vorgang abgestellt worden. Das war eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung. Und es war seitdem längst auch abseits belebter Plätze von "nationaler Bedeutung" oberste Handlungsmaxime. Denn vielmehr war der Parlamentarismus als Prinzip gesäubert worden, indem er schlichtweg abgeschafft worden war.

Genug gehadert. Die Entwicklung war schlimm genug. Keiner wusste, wo diese noch hinführen würde. Es gab entsprechende Befürchtungen, die sich an geschichtlichen Beispielen orientierten. Doch waren diese Beispiele dazu da, wiederholt zu werden? Wozu sollten als negativ identifizierte Beispiele denn dienen? Doch sicher nicht zur Nachahmung! Welchen Wert hätten sie dann? Das gab Alessandro Mut. Vielleicht gab es eine Wende zum Besseren. Die Dichter und Denker mussten nur aufstehen und Partei ergreifen, sich einmischen, Stellung beziehen, die berühmte "schweigende Mehrheit" wecken. Im Moment fand nur die "Erweckung" durch die neuen Machthaber statt. Von einer Gegenbewegung nichts zu spüren. Doch er vertraute darauf, dass dieser Prozess einsetzen würde, irgendwann. Möglichst bald. Am besten sofort. Es war natürlich keine Zeit zu verlieren. Doch im Moment tat sich offensichtlich nichts. Noch vertraute Longari darauf, dass die intellektuelle Elite dieses Landes dann wenigstens im Verborgenen daran arbeitete, wie gegenzusteuern sei. Solange es sie noch geben würde, hatte sie diese Chance. Mit diesen Gedanken setzte er sich in seinen alten Lancia und fuhr Richtung Grünau, wo er eine Wohnung aus der Gründerzeit bewohnte. Er brauchte seine Kraft für den neuen Tag. Und das Flair seines alten Wagens, das Ambiente seiner Wohnung und die Abgeschiedenheit an der Regattastrecke würden ihm das erleichtern.

Déjà Vu

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