Читать книгу UNHEILBAR GESUND - Christian Dobler - Страница 16
ОглавлениеKAP 3 | Ich bin immer noch am Leben, und jetzt? |
Wo stehe ich inzwischen? Ich bin etwa 21 Jahre alt und stehe jetzt, nun ja, mitten im Leben. Bei mir heißt das jedoch nicht, dass ich mich niedergelassen und gemütlich häuslich eingerichtet habe. Sondern ich stehe da, lebe wider Erwarten noch immer und habe weder irgendwelche Ziele noch Pläne, nicht in beruflicher Hinsicht und nicht auf der Beziehungsebene. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, aufgrund des erwarteten frühen Todes musste ich mich um solche Gedanken nie kümmern, was definitiv auch seine Vorteile hat. Ich ging einfach davon aus, dass ich in dem nun erreichten Alter ungefähr sterben würde und bis dahin allein mit der Bewältigung meiner Krankheit mehr als genug zu tun hätte.
So hatte ich bis hierher zumindest genug Zeit, mich auch um den Reiz des anderen Geschlechts zu kümmern und habe inzwischen mit 23 Jahren meine zweite Freundin. Sie ist zugleich meine erste große Liebe. Wir sind nun schon vier Jahre zusammen. Es steht mir jedoch eine Zeit der Veränderungen bevor, und zwar so ziemlich in jeder Hinsicht.
Alles fängt mit einem Artikel an, den mir meine Mutter zeigt. Er handelt davon, dass in Gran Canaria für CF-Betroffene eine sogenannte Klima-Kur angeboten wird. Ich kann mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Bild davon machen und rufe kurzerhand den Leiter der Kur an, der selbst CF hat, um mich genauer zu informieren. Die erteilten Auskünfte und das Telefongespräch wirken auf mich sehr sympathisch. Ich entscheide ohne lang zu überlegen, an diesem dreiwöchigen Trip am Meer teilzunehmen. Wie sich später herausstellt, scheine ich zu Gran Canaria sowieso eine besondere Beziehung zu haben. Sicher kein Zufall, dass dort auch bereits meine ersten wirklichen Ferien mit meinen Eltern waren.
Am Flughafen angekommen und von meiner Freundin verabschiedet, warte ich nun also beim Treffpunkt auf die anderen Teilnehmer und das ganze Betreuungsteam. Dieses setzt sich zusammen aus einem Arzt, drei Physiotherapeuten und dem Leiter. Ich bemerke allerdings nicht, dass bereits andere Leute beim Treffpunkt sind. Schließlich kenne ich noch niemanden und bis zu diesem Zeitpunkt habe ich auch noch keinen Kontakt zu anderen Menschen mit CF gehabt, geschweige denn viel über meine Krankheit selbst gewusst.
Wie sich aber herausstellt, sind die anderen Wartenden alles CF-Betroffene, die auf den Beginn derselben Kur warten. Ich kann es kaum besser ausdrücken, als zu sagen, dass ich etwas schockiert bin von der kranken Ausstrahlung, die mir da entgegenstrahlt. Es sind aber alles sehr nette Menschen.
Noch viel lustiger ist jedoch, dass keiner der Anwesenden realisiert, dass ich ein CF-ler bin, da man mir dies auf den ersten Blick überhaupt nicht ansieht. Normalerweise sind die Betroffenen dünn und in der Haltung nach vorne etwas eingeknickt, oft bleich im Gesicht. Naja, wie soll ich sagen, man sieht es vielen einfach an, dass sie diese Krankheit mit sich tragen. Ich aber habe zu diesem Zeitpunkt ordentlich etwas auf den Rippen, und zwar an Muskelmasse. So wiege ich 85 kg bei einer Körpergröße von 1.85 m und das mit einem Körperfettanteil von knapp 10 Prozent. Dies ist das Ergebnis aus jahrelangem disziplinierten Krafttraining. Entsprechend strahle ich auch nicht gerade „den Kranken“ aus.
Jetzt erst fällt mir das aber auf, vorher habe ich mich aufgrund fehlender Kontakte zu anderen Erkrankten immer mit den Gesunden verglichen. Jetzt weiß ich aber auch, weshalb mich ehemalige Schulkollegen nicht mehr wiedererkennen. Ich habe kaum bemerkt, dass ich zum Mann herangereift bin und mich zudem körperlich sehr stark verändert habe.
Ich gehe auf die Person zu, bei welcher ich in der Zwischenzeit beim genaueren Beobachten feststellen konnte, dass es sich um den Leiter der Kur handelt, und stelle mich vor. Der Empfang ist sehr herzlich und die ersten Gesprächspartner schnell gefunden. Zwei etwa gleich alte Jungs, die bereits gut miteinander befreundet sind, laden mich direkt nach dem Einchecken des Gepäcks auf ein Bier ein. Ich nehme die Einladung gerne an, und so fühle ich mich bereits mitten im Lager angekommen und gut aufgehoben.
Die Kur stellt mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf und ich muss mich diesbezüglich zuerst wieder zurechtfinden. Ich lerne dabei meine Krankheit erstmals so richtig im Detail kennen. Die Begegnungen sind sehr positiv und den sozialen Austausch empfinde ich als bereichernd. Nichtsdestotrotz ist es für mich, als wäre ich von heute auf morgen in eine andere Welt katapultiert worden. Eine Welt so anders von jener, in der ich aufgewachsen bin. Wo mir der Kopf steht, weiß ich zu dieser Zeit nicht so genau. Bereits am ersten Abend wird erklärt, dass jeder seine Therapie, sprich die Inhalationen auf dem eigenen Zimmer, durchzuführen habe. Als ich dazu nochmals nachfrage, schauen mich alle mit fragenden Blicken an. Ich habe weder ein Inhalationsgerät dabei noch weiß ich, wann ich ein solches zum letzten Mal in meinem Leben benutzt habe. Entsprechend geht das Gelächter los, es ist allerdings sehr herzlich. Was meine Krankheit betrifft und wie damit umzugehen ist, kann ich zu diesem Zeitpunkt sehr viel von den anderen Teilnehmern lernen. Das Ganze hat allerdings auch seine Kehrseite, denn wie bereits erwähnt, stellt es meinen bisherigen Alltag komplett auf den Kopf. Zusammengefasst ist es aber eine sehr schöne und intensive Zeit in den 3 Wochen.
Das nach Hause kommen fühlt sich in etwa so an, als ob ich wieder mitten in der Pubertät angekommen wäre. Ich habe zwar viele tolle Erinnerungen und neue Erkenntnisse auf Gran Canaria gewonnen, durfte Freunde fürs Leben gewinnen, weiß jedoch noch fast weniger als zuvor, wie ich das weitere Leben bewerkstelligen soll. Durch Zufall ergattere ich einen Gelegenheitsjob als Barkeeper in einem Club. So führe ich meine bisherige Tätigkeit auf dem Bau weiter stundenweise bezahlt im Teilzeitpensum aus und arbeite 2-3 Abende pro Woche zusätzlich hinter der Bar.
Ich bin jetzt also 25 Jahre alt, arbeite bereits das zweite Jahr hinter der Bar und bin schon das dritte Mal bei der Klima-Kur auf Gran Canaria im November dabei. Die Wege meiner Freundin und mir trennen sich hier. Wir waren beide sehr jung, als wir zusammenkamen, haben uns beide in eine andere Richtung entwickelt und nun beschlossen, die schönen Erinnerungen mitzunehmen und die nächsten Abschnitte unseres jeweiligen Weges alleine zu gehen.
So genieße ich nun das erste Mal ein richtiges Single-Leben. Die Arbeit hinter der Bar lädt hierfür geradezu ein. Ich lasse kaum eine Gelegenheit aus, die Angebote und Flirts anzunehmen. Das erste Mal lasse ich so richtig die Sau raus und hole mir was ich will, um meine Bedürfnisse zu stillen. Vordergründig sind die sexuellen Bedürfnisse. Natürlich sind aber die Bettgeschichten nur das Mittel zum Zweck und ein Symptom des eigentlichen Bedürfnisses. Viel mehr als nach sexueller Betätigung suche ich nach Anerkennung und Bestätigung. Nichtsdestotrotz bin ich ein Mann und ein Teil in mir genießt mit allen Sinnen, was mir bezüglich der Frauenwelt widerfährt, habe ich doch noch vor ein paar Jahren gehofft, überhaupt einmal intimen Kontakt zu erleben.
Ich lebe zurzeit also in Saus und Braus und stecke mitten in der Partyszene drin. Ich werde sogar von einer Schweizer Reisegruppe als Animator in Ibiza engagiert, wo ich dreimal je eine Woche mitfliege. Die Gesundheit vernachlässige ich dabei allerdings beachtlich. Ich trinke auf Partys viel Alkohol, rauche zwischendurch Zigaretten und probiere sogar einige Drogen aus, namentlich Marihuana, Kokain und Ecstasy. Außer dem Krafttraining mache ich kaum Sport oder achte sonst auf mich. Meine Gesundheit verschlechtert sich dementsprechend stetig und bald kann ich nicht mehr verbergen, dass ich tatsächlich krank bin, besonders auch nicht mehr vor mir selbst.
Es wird klar, will ich weiterleben, muss mein Leben wieder geordnet und die Perspektiven neu bestimmt werden. Diesen Entschluss zu fassen ist jedoch nicht ganz einfach.
Langsam beginne ich zu erkennen, dass mein bisheriges Credo, jeden Augenblick auszukosten, da es der letzte sein könnte, nicht nur positiv war. Denn so buddhistisch das auch klingen mag, in meinem Fall versteckt sich dahinter auch ein wenig die Flucht vor der Auseinandersetzung mit meinem eigenen Leben und mir selbst. Dieser Wechsel ist ein Prozess und kommt mit viel Unangenehmen daher, dazu später mehr. Aber zuerst weiter in meiner Lebensgeschichte.
Während diese Erkenntnisse also langsam in mir heranreifen, steht ein weiteres Jahr auf Gran Canaria an. Mittlerweile ist die Insel zu meiner zweiten Heimat geworden und nach der anfänglichen Aufregung, hat sich auch der Kur-Alltag für mich normalisiert.
Ich lerne dort eine deutsche Reiseleiterin kennen und verliebe mich ziemlich schnell in sie. Der Abschied nach drei Wochen ist der Übliche in solchen Situationen und wir versprechen uns beide, den Kontakt aufrecht zu erhalten und offen dafür zu sein, was die Zukunft bereithält.
Die liebe Zukunft. Zurück in der Schweiz habe ich hierzu noch immer keine besonderen Perspektiven und Ziele. Entsprechend leicht und intensiv kommt die Idee auf, nach Gran Canaria zurückzugehen, bzw. für unbestimmte Zeit dort zu bleiben und einen Job zu suchen. Es vergehen einige Wochen und Monate. Der Kontakt zwischen meiner Bekanntschaft und mir wird immer weniger und eines Tages teilt sie mir mit, sie habe einen neuen Mann kennengelernt. Dummerweise ist mein Flug zu diesem Zeitpunkt bereits gebucht, die Wohnung gekündigt und das Auto verkauft. Die Dame bietet mir freundlicherweise an, sie würde mir trotzdem helfen, einen Job zu suchen, falls ich den Flug antreten möchte. Ich lehne dankend ab. Danach geht es mir ziemlich schlecht. Alles hatte ich auf diese Karte gesetzt und bin nun völlig orientierungs- und ahnungslos, wie es weitergehen soll. Zum Glück rüttelt mich ein guter Freund von mir auf. In diesem Moment meines Lebens realisiere ich endgültig, dass es nichts bringt in Selbstmitleid zu versinken und ich trotz meiner Krankheit Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen möchte. Und dazu passt nach Gran Canaria wegen einer verflossenen Liebe abzuhauen nicht gerade. So bleibe ich da.